Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Inhalt des Dreibundes

krists von 1911 schlecht abgeschnitten, so ist zu erwidern, daß Zentraleuropa
weder in der einen noch der anderen Frage eine identische Politik hatte oder
haben konnte. An der Marokkofrage war Österreich'Ungarn gar nicht interessiert.
Unser Interesse an der letzten Orientkrisis war die Erhaltung des europäischen
Friedens und die Abwehr eines etwaigen russischen Angriffs auf Österreich-
Ungarn; und dies sind dieselben Interessen, die Bismarck zum Abschluß des
Bündnisses von 1879 bewogen hatten. Der rein defensive Charakter des Drei¬
bunds kann gar nicht oft genug betont werden. Eine "Schlag- und Stoßkraft"
im Sinne irgendwelcher expansiver oder aggressiver Politik hat der Dreibund
überhaupt nicht. Friedjung klagt, während der Krisis des letzten Jahres habe
Deutschland "mehr als einmal den an sich zahmen Flug des Wiener Kabinetts
gelähmt". Wenn wir nur wüßten, wohin dieser Flug hätte gehen sollenI Wir
haben die Wiener Politik im letzten Winter mit selbstverständlichen Interesse
verfolgt, aber die meisten von uns kamen überein, daß ihre Ziele nicht zu er¬
kennen waren.

Haben nun Deutschland und Österreich - Ungarn in dem letzten Krisenjahr
tatsächlich so schlecht abgeschnitten? Was Deutschland betrifft, so sind wir
durchaus nicht geneigt, das zuzugeben. Wir sind vielmehr der Meinung, daß
Deutschlands Weltstellung sich sehr viel günstiger gestaltet hat. da die frühere
Spannung mit England einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen beiden
Staaten Platz gemacht. Hat aber Österreich-Ungarn selbst so schlecht abgeschnitten,
wie Friedjung mit vielen seiner Landsleute annimmt? Das Urteil wird davon
abhängen, was man als die politischen Ziele der österreichisch-ungarischen Politik
anzunehmen hat, und leider läßt uns Fnedjung über seine eigene Meinung
darüber im Dunkeln. Wenn es aber Ziele von einem expansiven Charakter
waren, so müssen wir aufs neue betonen, daß Österreich-Ungarn nicht den
Dreibund als ein Instrument in Anspruch nehmen durste, um sie zu erreichen.
Ebensowenig darf der Dreibund von deutscher Seite als ein Instrument sür
künftige weltpolitische Pläne betrachtet werden; und Friedjungs Vorschlag, daß
heute schon zwischen Berlin und Wien ein gemeinsamer Aktionsplan entworfen
werden müßte, um beiden Ländern bei der kommenden Teilung der asiatischen
Türkei ihre Ansprüche zu sichern, müssen wir schon aus diesem prinzipiellen
Grunde ablehnen. Das deutsche Interesse erheischt die Konsolidierung und Er¬
haltung der asiatischen Türkei. Wir begegnen uns in diesen Bestrebungen mit
der englischen Politik; und nichts würde die Erreichung dieses Zieles stärke
und sicherer hemmen, als wenn wir von vornherein an seiner Möglichkeit
zweifelten und schon jetzt ein Programm für den Fall des Nichtgelingens auf-
stellten.

Wenn ohnehin der Gedanke einer österreichischen Expansionspolitik in Asien
höchlichst überraschen muß, so erstaunt man noch mehr über die Sätze, mit denen
Friedjung seinen Aufsatz schließt: "Bülow hat Deutschlands Geltung unter den
Weltmächten dadurch befestigt, daß er Aehrenthal die Bestimmung des gemein-


Der Inhalt des Dreibundes

krists von 1911 schlecht abgeschnitten, so ist zu erwidern, daß Zentraleuropa
weder in der einen noch der anderen Frage eine identische Politik hatte oder
haben konnte. An der Marokkofrage war Österreich'Ungarn gar nicht interessiert.
Unser Interesse an der letzten Orientkrisis war die Erhaltung des europäischen
Friedens und die Abwehr eines etwaigen russischen Angriffs auf Österreich-
Ungarn; und dies sind dieselben Interessen, die Bismarck zum Abschluß des
Bündnisses von 1879 bewogen hatten. Der rein defensive Charakter des Drei¬
bunds kann gar nicht oft genug betont werden. Eine „Schlag- und Stoßkraft"
im Sinne irgendwelcher expansiver oder aggressiver Politik hat der Dreibund
überhaupt nicht. Friedjung klagt, während der Krisis des letzten Jahres habe
Deutschland „mehr als einmal den an sich zahmen Flug des Wiener Kabinetts
gelähmt". Wenn wir nur wüßten, wohin dieser Flug hätte gehen sollenI Wir
haben die Wiener Politik im letzten Winter mit selbstverständlichen Interesse
verfolgt, aber die meisten von uns kamen überein, daß ihre Ziele nicht zu er¬
kennen waren.

Haben nun Deutschland und Österreich - Ungarn in dem letzten Krisenjahr
tatsächlich so schlecht abgeschnitten? Was Deutschland betrifft, so sind wir
durchaus nicht geneigt, das zuzugeben. Wir sind vielmehr der Meinung, daß
Deutschlands Weltstellung sich sehr viel günstiger gestaltet hat. da die frühere
Spannung mit England einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen beiden
Staaten Platz gemacht. Hat aber Österreich-Ungarn selbst so schlecht abgeschnitten,
wie Friedjung mit vielen seiner Landsleute annimmt? Das Urteil wird davon
abhängen, was man als die politischen Ziele der österreichisch-ungarischen Politik
anzunehmen hat, und leider läßt uns Fnedjung über seine eigene Meinung
darüber im Dunkeln. Wenn es aber Ziele von einem expansiven Charakter
waren, so müssen wir aufs neue betonen, daß Österreich-Ungarn nicht den
Dreibund als ein Instrument in Anspruch nehmen durste, um sie zu erreichen.
Ebensowenig darf der Dreibund von deutscher Seite als ein Instrument sür
künftige weltpolitische Pläne betrachtet werden; und Friedjungs Vorschlag, daß
heute schon zwischen Berlin und Wien ein gemeinsamer Aktionsplan entworfen
werden müßte, um beiden Ländern bei der kommenden Teilung der asiatischen
Türkei ihre Ansprüche zu sichern, müssen wir schon aus diesem prinzipiellen
Grunde ablehnen. Das deutsche Interesse erheischt die Konsolidierung und Er¬
haltung der asiatischen Türkei. Wir begegnen uns in diesen Bestrebungen mit
der englischen Politik; und nichts würde die Erreichung dieses Zieles stärke
und sicherer hemmen, als wenn wir von vornherein an seiner Möglichkeit
zweifelten und schon jetzt ein Programm für den Fall des Nichtgelingens auf-
stellten.

Wenn ohnehin der Gedanke einer österreichischen Expansionspolitik in Asien
höchlichst überraschen muß, so erstaunt man noch mehr über die Sätze, mit denen
Friedjung seinen Aufsatz schließt: „Bülow hat Deutschlands Geltung unter den
Weltmächten dadurch befestigt, daß er Aehrenthal die Bestimmung des gemein-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327119"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Inhalt des Dreibundes</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1186" prev="#ID_1185"> krists von 1911 schlecht abgeschnitten, so ist zu erwidern, daß Zentraleuropa<lb/>
weder in der einen noch der anderen Frage eine identische Politik hatte oder<lb/>
haben konnte. An der Marokkofrage war Österreich'Ungarn gar nicht interessiert.<lb/>
Unser Interesse an der letzten Orientkrisis war die Erhaltung des europäischen<lb/>
Friedens und die Abwehr eines etwaigen russischen Angriffs auf Österreich-<lb/>
Ungarn; und dies sind dieselben Interessen, die Bismarck zum Abschluß des<lb/>
Bündnisses von 1879 bewogen hatten. Der rein defensive Charakter des Drei¬<lb/>
bunds kann gar nicht oft genug betont werden. Eine &#x201E;Schlag- und Stoßkraft"<lb/>
im Sinne irgendwelcher expansiver oder aggressiver Politik hat der Dreibund<lb/>
überhaupt nicht. Friedjung klagt, während der Krisis des letzten Jahres habe<lb/>
Deutschland &#x201E;mehr als einmal den an sich zahmen Flug des Wiener Kabinetts<lb/>
gelähmt". Wenn wir nur wüßten, wohin dieser Flug hätte gehen sollenI Wir<lb/>
haben die Wiener Politik im letzten Winter mit selbstverständlichen Interesse<lb/>
verfolgt, aber die meisten von uns kamen überein, daß ihre Ziele nicht zu er¬<lb/>
kennen waren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1187"> Haben nun Deutschland und Österreich - Ungarn in dem letzten Krisenjahr<lb/>
tatsächlich so schlecht abgeschnitten?  Was Deutschland betrifft, so sind wir<lb/>
durchaus nicht geneigt, das zuzugeben.  Wir sind vielmehr der Meinung, daß<lb/>
Deutschlands Weltstellung sich sehr viel günstiger gestaltet hat. da die frühere<lb/>
Spannung mit England einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen beiden<lb/>
Staaten Platz gemacht. Hat aber Österreich-Ungarn selbst so schlecht abgeschnitten,<lb/>
wie Friedjung mit vielen seiner Landsleute annimmt?  Das Urteil wird davon<lb/>
abhängen, was man als die politischen Ziele der österreichisch-ungarischen Politik<lb/>
anzunehmen hat, und leider läßt uns Fnedjung über seine eigene Meinung<lb/>
darüber im Dunkeln.  Wenn es aber Ziele von einem expansiven Charakter<lb/>
waren, so müssen wir aufs neue betonen, daß Österreich-Ungarn nicht den<lb/>
Dreibund als ein Instrument in Anspruch nehmen durste, um sie zu erreichen.<lb/>
Ebensowenig darf der Dreibund von deutscher Seite als ein Instrument sür<lb/>
künftige weltpolitische Pläne betrachtet werden; und Friedjungs Vorschlag, daß<lb/>
heute schon zwischen Berlin und Wien ein gemeinsamer Aktionsplan entworfen<lb/>
werden müßte, um beiden Ländern bei der kommenden Teilung der asiatischen<lb/>
Türkei ihre Ansprüche zu sichern, müssen wir schon aus diesem prinzipiellen<lb/>
Grunde ablehnen.  Das deutsche Interesse erheischt die Konsolidierung und Er¬<lb/>
haltung der asiatischen Türkei.  Wir begegnen uns in diesen Bestrebungen mit<lb/>
der englischen Politik; und nichts würde die Erreichung dieses Zieles stärke<lb/>
und sicherer hemmen, als wenn wir von vornherein an seiner Möglichkeit<lb/>
zweifelten und schon jetzt ein Programm für den Fall des Nichtgelingens auf-<lb/>
stellten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1188" next="#ID_1189"> Wenn ohnehin der Gedanke einer österreichischen Expansionspolitik in Asien<lb/>
höchlichst überraschen muß, so erstaunt man noch mehr über die Sätze, mit denen<lb/>
Friedjung seinen Aufsatz schließt: &#x201E;Bülow hat Deutschlands Geltung unter den<lb/>
Weltmächten dadurch befestigt, daß er Aehrenthal die Bestimmung des gemein-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0307] Der Inhalt des Dreibundes krists von 1911 schlecht abgeschnitten, so ist zu erwidern, daß Zentraleuropa weder in der einen noch der anderen Frage eine identische Politik hatte oder haben konnte. An der Marokkofrage war Österreich'Ungarn gar nicht interessiert. Unser Interesse an der letzten Orientkrisis war die Erhaltung des europäischen Friedens und die Abwehr eines etwaigen russischen Angriffs auf Österreich- Ungarn; und dies sind dieselben Interessen, die Bismarck zum Abschluß des Bündnisses von 1879 bewogen hatten. Der rein defensive Charakter des Drei¬ bunds kann gar nicht oft genug betont werden. Eine „Schlag- und Stoßkraft" im Sinne irgendwelcher expansiver oder aggressiver Politik hat der Dreibund überhaupt nicht. Friedjung klagt, während der Krisis des letzten Jahres habe Deutschland „mehr als einmal den an sich zahmen Flug des Wiener Kabinetts gelähmt". Wenn wir nur wüßten, wohin dieser Flug hätte gehen sollenI Wir haben die Wiener Politik im letzten Winter mit selbstverständlichen Interesse verfolgt, aber die meisten von uns kamen überein, daß ihre Ziele nicht zu er¬ kennen waren. Haben nun Deutschland und Österreich - Ungarn in dem letzten Krisenjahr tatsächlich so schlecht abgeschnitten? Was Deutschland betrifft, so sind wir durchaus nicht geneigt, das zuzugeben. Wir sind vielmehr der Meinung, daß Deutschlands Weltstellung sich sehr viel günstiger gestaltet hat. da die frühere Spannung mit England einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen beiden Staaten Platz gemacht. Hat aber Österreich-Ungarn selbst so schlecht abgeschnitten, wie Friedjung mit vielen seiner Landsleute annimmt? Das Urteil wird davon abhängen, was man als die politischen Ziele der österreichisch-ungarischen Politik anzunehmen hat, und leider läßt uns Fnedjung über seine eigene Meinung darüber im Dunkeln. Wenn es aber Ziele von einem expansiven Charakter waren, so müssen wir aufs neue betonen, daß Österreich-Ungarn nicht den Dreibund als ein Instrument in Anspruch nehmen durste, um sie zu erreichen. Ebensowenig darf der Dreibund von deutscher Seite als ein Instrument sür künftige weltpolitische Pläne betrachtet werden; und Friedjungs Vorschlag, daß heute schon zwischen Berlin und Wien ein gemeinsamer Aktionsplan entworfen werden müßte, um beiden Ländern bei der kommenden Teilung der asiatischen Türkei ihre Ansprüche zu sichern, müssen wir schon aus diesem prinzipiellen Grunde ablehnen. Das deutsche Interesse erheischt die Konsolidierung und Er¬ haltung der asiatischen Türkei. Wir begegnen uns in diesen Bestrebungen mit der englischen Politik; und nichts würde die Erreichung dieses Zieles stärke und sicherer hemmen, als wenn wir von vornherein an seiner Möglichkeit zweifelten und schon jetzt ein Programm für den Fall des Nichtgelingens auf- stellten. Wenn ohnehin der Gedanke einer österreichischen Expansionspolitik in Asien höchlichst überraschen muß, so erstaunt man noch mehr über die Sätze, mit denen Friedjung seinen Aufsatz schließt: „Bülow hat Deutschlands Geltung unter den Weltmächten dadurch befestigt, daß er Aehrenthal die Bestimmung des gemein-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/307
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/307>, abgerufen am 12.05.2024.