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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reisobnefe

heute wieder von denen für eine solche gehalten wird, welchen jene Taten
aus ihrem kurzen Gedächtnis schon entschwunden sind. Samuel Phelps schuf
mit seinem glänzend eingespielten, ziemlich stabilen Ensemble, mit seinen
kultivierten Aufführungen und den? ständig wechselnden, das geisttötende
"Serienspielen" aus Prinzip vermeidenden Repertoire klassischer und moderner
Stücke die erste englische Nationalbühne, wenn auch das bescheidene Theaterchen
der nordlondoner Vorstadt, wo man demokratisch billig zu wirklichem Kunstgenuß
kommen konnte, niemals diesen stolzen Namen führen sollte. Der war immer
noch den beiden "privilegierten" Theatern von Covent-Garden und Drury Lane
vorbehalten, auf welchen sich jetzt, in Freiheit dressiert, Löwen der Wildnis
und Ratten Franzlands tummeln durften.

Die künstlerische Arbeit, die Charles Kean und Phelps geleistet haben,
sind das erste greifbare Resultat der englischen Theatergewerbefreiheit. Ohne
diese wäre der erstere, wenn er das gleiche Experiment überhaupt gewagt hätte,
schon nach kürzester Zeit an einer der beiden Unsummen verschlingenden Haupt¬
bühnen materiell gestrandet, und das Unternehmen von Phelps konnte in der
Form, in der es für die Gegenwart und Zukunft des englischen Theaters allein
Wert hatte, überhaupt erst an einer mit bescheidenen äußeren Mitteln arbeitenden
und mit keiner "Tradition" belasteten Privatbühne Erfolg haben. Phelps und
Charles Kean haben jeder zu seinen? Teile den Boden sür jenen Aufstieg
bereitet, den, wenn nicht alle Zeichen trügen, das zwanzigste Jahrhundert dem
englischen Theater endlich bringen wird.




Reisebriefe '
von Fritz Reck-Malleczewen
1. Lxc>alö8

us nachtschwarzen Grunde ein farbenfrohes Aquarell. In heiterem
Lichtreigen versinkt die behäbige Hansestadt hinter uns in der
Nacht. . .

Ein Kücken zog in die Welt hinaus und freute sich im voraus
^der Wunder, die es finden wollte. Weil aber die Fremde kalt
war und öde, verlangte es nach dem warmen Flügel der Mutter. Und fand
mit Mühe den Hof zurück und war froh, unterkriechen zu können. Und ward
ein braves Huhn und blieb auf dem Hofe und gackerte allen vor, daß es das
beste sei, daheim zu bleiben und sich redlich zu nähren.


Reisobnefe

heute wieder von denen für eine solche gehalten wird, welchen jene Taten
aus ihrem kurzen Gedächtnis schon entschwunden sind. Samuel Phelps schuf
mit seinem glänzend eingespielten, ziemlich stabilen Ensemble, mit seinen
kultivierten Aufführungen und den? ständig wechselnden, das geisttötende
„Serienspielen" aus Prinzip vermeidenden Repertoire klassischer und moderner
Stücke die erste englische Nationalbühne, wenn auch das bescheidene Theaterchen
der nordlondoner Vorstadt, wo man demokratisch billig zu wirklichem Kunstgenuß
kommen konnte, niemals diesen stolzen Namen führen sollte. Der war immer
noch den beiden „privilegierten" Theatern von Covent-Garden und Drury Lane
vorbehalten, auf welchen sich jetzt, in Freiheit dressiert, Löwen der Wildnis
und Ratten Franzlands tummeln durften.

Die künstlerische Arbeit, die Charles Kean und Phelps geleistet haben,
sind das erste greifbare Resultat der englischen Theatergewerbefreiheit. Ohne
diese wäre der erstere, wenn er das gleiche Experiment überhaupt gewagt hätte,
schon nach kürzester Zeit an einer der beiden Unsummen verschlingenden Haupt¬
bühnen materiell gestrandet, und das Unternehmen von Phelps konnte in der
Form, in der es für die Gegenwart und Zukunft des englischen Theaters allein
Wert hatte, überhaupt erst an einer mit bescheidenen äußeren Mitteln arbeitenden
und mit keiner „Tradition" belasteten Privatbühne Erfolg haben. Phelps und
Charles Kean haben jeder zu seinen? Teile den Boden sür jenen Aufstieg
bereitet, den, wenn nicht alle Zeichen trügen, das zwanzigste Jahrhundert dem
englischen Theater endlich bringen wird.




Reisebriefe '
von Fritz Reck-Malleczewen
1. Lxc>alö8

us nachtschwarzen Grunde ein farbenfrohes Aquarell. In heiterem
Lichtreigen versinkt die behäbige Hansestadt hinter uns in der
Nacht. . .

Ein Kücken zog in die Welt hinaus und freute sich im voraus
^der Wunder, die es finden wollte. Weil aber die Fremde kalt
war und öde, verlangte es nach dem warmen Flügel der Mutter. Und fand
mit Mühe den Hof zurück und war froh, unterkriechen zu können. Und ward
ein braves Huhn und blieb auf dem Hofe und gackerte allen vor, daß es das
beste sei, daheim zu bleiben und sich redlich zu nähren.


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[0043] Reisobnefe heute wieder von denen für eine solche gehalten wird, welchen jene Taten aus ihrem kurzen Gedächtnis schon entschwunden sind. Samuel Phelps schuf mit seinem glänzend eingespielten, ziemlich stabilen Ensemble, mit seinen kultivierten Aufführungen und den? ständig wechselnden, das geisttötende „Serienspielen" aus Prinzip vermeidenden Repertoire klassischer und moderner Stücke die erste englische Nationalbühne, wenn auch das bescheidene Theaterchen der nordlondoner Vorstadt, wo man demokratisch billig zu wirklichem Kunstgenuß kommen konnte, niemals diesen stolzen Namen führen sollte. Der war immer noch den beiden „privilegierten" Theatern von Covent-Garden und Drury Lane vorbehalten, auf welchen sich jetzt, in Freiheit dressiert, Löwen der Wildnis und Ratten Franzlands tummeln durften. Die künstlerische Arbeit, die Charles Kean und Phelps geleistet haben, sind das erste greifbare Resultat der englischen Theatergewerbefreiheit. Ohne diese wäre der erstere, wenn er das gleiche Experiment überhaupt gewagt hätte, schon nach kürzester Zeit an einer der beiden Unsummen verschlingenden Haupt¬ bühnen materiell gestrandet, und das Unternehmen von Phelps konnte in der Form, in der es für die Gegenwart und Zukunft des englischen Theaters allein Wert hatte, überhaupt erst an einer mit bescheidenen äußeren Mitteln arbeitenden und mit keiner „Tradition" belasteten Privatbühne Erfolg haben. Phelps und Charles Kean haben jeder zu seinen? Teile den Boden sür jenen Aufstieg bereitet, den, wenn nicht alle Zeichen trügen, das zwanzigste Jahrhundert dem englischen Theater endlich bringen wird. Reisebriefe ' von Fritz Reck-Malleczewen 1. Lxc>alö8 us nachtschwarzen Grunde ein farbenfrohes Aquarell. In heiterem Lichtreigen versinkt die behäbige Hansestadt hinter uns in der Nacht. . . Ein Kücken zog in die Welt hinaus und freute sich im voraus ^der Wunder, die es finden wollte. Weil aber die Fremde kalt war und öde, verlangte es nach dem warmen Flügel der Mutter. Und fand mit Mühe den Hof zurück und war froh, unterkriechen zu können. Und ward ein braves Huhn und blieb auf dem Hofe und gackerte allen vor, daß es das beste sei, daheim zu bleiben und sich redlich zu nähren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/43>, abgerufen am 26.05.2024.