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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Thronverzicht und Legitimismus

ein Rechtszustand geändert wird. Besteht auf der einen Seite der Wunsch
oder das Interesse fort, den früheren Rechtszustand wiederherzustellen, und
wird die Erfüllung des Wunsches durch eine andere Machtverteilung möglich,
so kann man sicher sein, daß es auch geschieht. Keine Friedensurkunde, kein
Verzicht wird alsdann auch nur den Wert eines Strohhalms haben.

Man kann die Blätter der Weltgeschichte aufschlagen wo man will, und
man wird überall Beispiele finden. Wer aber glaubt, daß dergleichen nur in
alter Zeit oder allenfalls zur Zeit der Kriege Ludwigs des Vierzehnten möglich
war, dem sei mit einigen Beispielen aus der allerneuesten Geschichte gedient.
Die französische Republik hat seit 1871 niemals einen Hehl daraus gemacht,
daß sie den Frankfurter Frieden nicht als endgültige Regelung ihrer Beziehungen
zum Deutschen Reich ansieht, sondern daß sie ihn brechen wird, sobald sie die
Überzeugung ihrer militärischen Überlegenheit hat und nicht andere Rücksichten
auf die politische oder wirtschaftliche Lage ihr die Wahrung des Friedens gebieten.
Die Unbefangenheit, mit der dieser Standpunkt immer wieder von maßgebenden
Persönlichkeiten, ernsthaften Politikern und angesehenen Historikern Frankreichs
öffentlich bekundet worden ist, könnte wirklich manchem die Augen öffnen, der
noch an den: Kinderglauben festhält, ein internationaler Vertrag böte dieselbe
Sicherheit wie ein von Königlich Preußischen Notaren untersiegelter und unter¬
schriebener und beim Amtsgericht I Berlin deponierter Vertrag zwischen zwei
anständigen Privatleuten. Wenige Monate vor dem Frankfurter Frieden hatte
Rußland kaltblütig erklärt, daß es sich durch die Bestimmungen des Pariser
Friedens von 1856 hinsichtlich des Schwarzen Meeres hinfort nicht mehr
gebunden erachte. Warum? Weil den Mächten, die die russische Negierung
vielleicht an der Ausführung ihres Entschlusses hätten hindern können, in dem
Augenblick jener Erklärung die Hände gebunden waren infolge des deutsch-
französischen Krieges. Deshalb entledigte sich Rußland einfach einer unbequemen
Bindung. Soll man noch an die Erklärungen Bulgariens nach dem Abschluß
des Friedens von Bukarest erinnern? Es bedarf dessen wohl kaum.

Was hier gesagt worden ist, gilt aber von allen Abmachungen, die über
das privatrechtliche Gebiet hinausgehen. Wenn einmal durch irgendwelche Um¬
stände -- einen für Deutschland unglücklichen Krieg oder dergleichen -- die
Weisen die Macht erhalten sollten, das Königreich Hannover wieder herzustellen,
so werden sie es tun, auch wenn die sichersten Verträge und Verzichtleistungen
den jetzigen Rechtszustand verbürgen. Alle Verzichtleistungen sind null und nichtig
in dem Augenblick, wo der preußische Staat nicht mehr die Macht haben sollte,
seinen Besitz zusammenzuhalten. Man kann sicher sein, daß sich dann auch
immer eine Persönlichkeit finden wird, die das vermeintliche Recht des welfischen
Hauses für sich in Anspruch nehmen wird, sei es weil er nach dem Wortlaut
der bestehenden Verträge außerhalb der Verpflichtungen zu stehen meint, oder
sei es, daß er entschlossen ist, sich über diese Verpflichtungen hinwegzusetzen.
Das Recht im legitimistischen Sinne ist schlechthin unsterblich; auch das Aus-


Thronverzicht und Legitimismus

ein Rechtszustand geändert wird. Besteht auf der einen Seite der Wunsch
oder das Interesse fort, den früheren Rechtszustand wiederherzustellen, und
wird die Erfüllung des Wunsches durch eine andere Machtverteilung möglich,
so kann man sicher sein, daß es auch geschieht. Keine Friedensurkunde, kein
Verzicht wird alsdann auch nur den Wert eines Strohhalms haben.

Man kann die Blätter der Weltgeschichte aufschlagen wo man will, und
man wird überall Beispiele finden. Wer aber glaubt, daß dergleichen nur in
alter Zeit oder allenfalls zur Zeit der Kriege Ludwigs des Vierzehnten möglich
war, dem sei mit einigen Beispielen aus der allerneuesten Geschichte gedient.
Die französische Republik hat seit 1871 niemals einen Hehl daraus gemacht,
daß sie den Frankfurter Frieden nicht als endgültige Regelung ihrer Beziehungen
zum Deutschen Reich ansieht, sondern daß sie ihn brechen wird, sobald sie die
Überzeugung ihrer militärischen Überlegenheit hat und nicht andere Rücksichten
auf die politische oder wirtschaftliche Lage ihr die Wahrung des Friedens gebieten.
Die Unbefangenheit, mit der dieser Standpunkt immer wieder von maßgebenden
Persönlichkeiten, ernsthaften Politikern und angesehenen Historikern Frankreichs
öffentlich bekundet worden ist, könnte wirklich manchem die Augen öffnen, der
noch an den: Kinderglauben festhält, ein internationaler Vertrag böte dieselbe
Sicherheit wie ein von Königlich Preußischen Notaren untersiegelter und unter¬
schriebener und beim Amtsgericht I Berlin deponierter Vertrag zwischen zwei
anständigen Privatleuten. Wenige Monate vor dem Frankfurter Frieden hatte
Rußland kaltblütig erklärt, daß es sich durch die Bestimmungen des Pariser
Friedens von 1856 hinsichtlich des Schwarzen Meeres hinfort nicht mehr
gebunden erachte. Warum? Weil den Mächten, die die russische Negierung
vielleicht an der Ausführung ihres Entschlusses hätten hindern können, in dem
Augenblick jener Erklärung die Hände gebunden waren infolge des deutsch-
französischen Krieges. Deshalb entledigte sich Rußland einfach einer unbequemen
Bindung. Soll man noch an die Erklärungen Bulgariens nach dem Abschluß
des Friedens von Bukarest erinnern? Es bedarf dessen wohl kaum.

Was hier gesagt worden ist, gilt aber von allen Abmachungen, die über
das privatrechtliche Gebiet hinausgehen. Wenn einmal durch irgendwelche Um¬
stände — einen für Deutschland unglücklichen Krieg oder dergleichen — die
Weisen die Macht erhalten sollten, das Königreich Hannover wieder herzustellen,
so werden sie es tun, auch wenn die sichersten Verträge und Verzichtleistungen
den jetzigen Rechtszustand verbürgen. Alle Verzichtleistungen sind null und nichtig
in dem Augenblick, wo der preußische Staat nicht mehr die Macht haben sollte,
seinen Besitz zusammenzuhalten. Man kann sicher sein, daß sich dann auch
immer eine Persönlichkeit finden wird, die das vermeintliche Recht des welfischen
Hauses für sich in Anspruch nehmen wird, sei es weil er nach dem Wortlaut
der bestehenden Verträge außerhalb der Verpflichtungen zu stehen meint, oder
sei es, daß er entschlossen ist, sich über diese Verpflichtungen hinwegzusetzen.
Das Recht im legitimistischen Sinne ist schlechthin unsterblich; auch das Aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/447>, abgerufen am 20.05.2024.