Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bevölkerungsvormehrung und Sozialhygiene

Einseitig auf diese Weise läßt sich natürlich das Problem nicht lösen.
Aber derartige nationalwirtschaftliche Gedankengänge werden leichter Anhänger
finden, als rein religiöse und moralische. Es ist nun nicht meine Absicht, an
dieser Stelle im einzelnen die Bedingungen, Möglichkeiten und Schlußfolgerungen
zu erörtern, die sich aus den obigen Gedankengängen ergeben; vielmehr möchte
ich auf einen anderen Weg hinweisen, der nur durch Verstärkung von Tendenzen,
die schon vorhanden sind, die jährliche Bevölkerungsvermehrung bis zu einem
Hunderttausend, vielleicht sogar darüber hinaus, steigern kann: Sozialhygiene.

In fast allen Diskussionen über das Problem der Bevölkerungsvermehrung
kommt zum Ausdruck, daß bisher der Überschuß der Geburten über die Todes¬
fälle mit wenigen Ausnahmen von Jahr zu Jahr gestiegen ist. Der Geburten¬
überschuß betrug im Jahresdurchschnitt:

18S1 bis 1360S,0 °/o
1861 " 187010,3 °/o
1871 " 188011.S °/°
1881 ., 189011,7 °/o
1891 " 190013,9 °/°
1901 " 191014,3 ->/<>

Es wird auch allgemein die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß es
möglich sei, die Sterblichkeitsrate noch weiter herabzudrücken --- bis zu einem
gewissen Minimum. Wann aber tritt dieses Minimum ein? Und wieweit geht
die heutige Sterblichkeitsrate noch über dieses Minimum hinaus? Dies sind
die Fragen, die amtliche und nichtamtliche Sozialreformer sich vorlegen müssen.
Ist erst einmal der Minimalsatz der Sterblichkeit erkannt, dann muß die volle
sozialpolitische Energie auf das Ziel gerichtet werden, "den Tod bis hinter diesen
Punkt zurückzuwerfen."

Der Tod an sich ist nicht nur unabwendbar, sondern auch notwendig.
Die Menschheit im allgemeinen und die Nation im besonderen erhält sich nur
durch die Erneuerung. Eine ideale Norm wäre nun im natürlichen Tod durch
allmähliches Erlöschen der Lebenskräfte gegeben. Wenn die Menschheit diese
Norm auch niemals wird erreichen können, so wird doch eine Annäherung möglich
sein. Dieser Gedanke erscheint um so wahrscheinlicher, als man bei der Durch¬
sicht der Todesstatistik auf die Tatsache stößt, daß das, was die Ausnahme
bilden sollte, der frühzeitige Tod, die Regel ist. Von den im Jahre 1910
gestorbenen männlichen Personen entfallen auf die Zeit nach dem sechzigsten
Lebensjahr -- die wir hier, wenn auch etwas willkürlich, als natürliche Sterbe¬
periode bezeichnen wollen -- nur 285.8 °/<>g aller Gestorbenen, von den weiblichen
nur 347.6 °/gg. Dagegen sehen wir, daß 332,2 °/gg der männlichen und
272,0 °/gg der weiblichen Gestorbenen das erste Lebensjahr nicht überschritten
hatten. Und nehmen wir die Zeit von der Geburt bis zum zurückgelegten
vierzehnten Lebensjahre, so finden wir, daß diese Altersgruppe bei den männlichen
Personen 442,9 °/<,<, und bei den weiblichen 395,7 der Todesfälle stellt.
Nehmen wir dazu noch die Tatsache, daß im genannten Jahre 2,9 °/" aller


Bevölkerungsvormehrung und Sozialhygiene

Einseitig auf diese Weise läßt sich natürlich das Problem nicht lösen.
Aber derartige nationalwirtschaftliche Gedankengänge werden leichter Anhänger
finden, als rein religiöse und moralische. Es ist nun nicht meine Absicht, an
dieser Stelle im einzelnen die Bedingungen, Möglichkeiten und Schlußfolgerungen
zu erörtern, die sich aus den obigen Gedankengängen ergeben; vielmehr möchte
ich auf einen anderen Weg hinweisen, der nur durch Verstärkung von Tendenzen,
die schon vorhanden sind, die jährliche Bevölkerungsvermehrung bis zu einem
Hunderttausend, vielleicht sogar darüber hinaus, steigern kann: Sozialhygiene.

In fast allen Diskussionen über das Problem der Bevölkerungsvermehrung
kommt zum Ausdruck, daß bisher der Überschuß der Geburten über die Todes¬
fälle mit wenigen Ausnahmen von Jahr zu Jahr gestiegen ist. Der Geburten¬
überschuß betrug im Jahresdurchschnitt:

18S1 bis 1360S,0 °/o
1861 „ 187010,3 °/o
1871 „ 188011.S °/°
1881 ., 189011,7 °/o
1891 „ 190013,9 °/°
1901 „ 191014,3 ->/<>

Es wird auch allgemein die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß es
möglich sei, die Sterblichkeitsrate noch weiter herabzudrücken —- bis zu einem
gewissen Minimum. Wann aber tritt dieses Minimum ein? Und wieweit geht
die heutige Sterblichkeitsrate noch über dieses Minimum hinaus? Dies sind
die Fragen, die amtliche und nichtamtliche Sozialreformer sich vorlegen müssen.
Ist erst einmal der Minimalsatz der Sterblichkeit erkannt, dann muß die volle
sozialpolitische Energie auf das Ziel gerichtet werden, „den Tod bis hinter diesen
Punkt zurückzuwerfen."

Der Tod an sich ist nicht nur unabwendbar, sondern auch notwendig.
Die Menschheit im allgemeinen und die Nation im besonderen erhält sich nur
durch die Erneuerung. Eine ideale Norm wäre nun im natürlichen Tod durch
allmähliches Erlöschen der Lebenskräfte gegeben. Wenn die Menschheit diese
Norm auch niemals wird erreichen können, so wird doch eine Annäherung möglich
sein. Dieser Gedanke erscheint um so wahrscheinlicher, als man bei der Durch¬
sicht der Todesstatistik auf die Tatsache stößt, daß das, was die Ausnahme
bilden sollte, der frühzeitige Tod, die Regel ist. Von den im Jahre 1910
gestorbenen männlichen Personen entfallen auf die Zeit nach dem sechzigsten
Lebensjahr — die wir hier, wenn auch etwas willkürlich, als natürliche Sterbe¬
periode bezeichnen wollen — nur 285.8 °/<>g aller Gestorbenen, von den weiblichen
nur 347.6 °/gg. Dagegen sehen wir, daß 332,2 °/gg der männlichen und
272,0 °/gg der weiblichen Gestorbenen das erste Lebensjahr nicht überschritten
hatten. Und nehmen wir die Zeit von der Geburt bis zum zurückgelegten
vierzehnten Lebensjahre, so finden wir, daß diese Altersgruppe bei den männlichen
Personen 442,9 °/<,<, und bei den weiblichen 395,7 der Todesfälle stellt.
Nehmen wir dazu noch die Tatsache, daß im genannten Jahre 2,9 °/„ aller


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327312"/>
          <fw type="header" place="top"> Bevölkerungsvormehrung und Sozialhygiene</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1969"> Einseitig auf diese Weise läßt sich natürlich das Problem nicht lösen.<lb/>
Aber derartige nationalwirtschaftliche Gedankengänge werden leichter Anhänger<lb/>
finden, als rein religiöse und moralische. Es ist nun nicht meine Absicht, an<lb/>
dieser Stelle im einzelnen die Bedingungen, Möglichkeiten und Schlußfolgerungen<lb/>
zu erörtern, die sich aus den obigen Gedankengängen ergeben; vielmehr möchte<lb/>
ich auf einen anderen Weg hinweisen, der nur durch Verstärkung von Tendenzen,<lb/>
die schon vorhanden sind, die jährliche Bevölkerungsvermehrung bis zu einem<lb/>
Hunderttausend, vielleicht sogar darüber hinaus, steigern kann: Sozialhygiene.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1970"> In fast allen Diskussionen über das Problem der Bevölkerungsvermehrung<lb/>
kommt zum Ausdruck, daß bisher der Überschuß der Geburten über die Todes¬<lb/>
fälle mit wenigen Ausnahmen von Jahr zu Jahr gestiegen ist. Der Geburten¬<lb/>
überschuß betrug im Jahresdurchschnitt:</p><lb/>
          <list>
            <item> 18S1 bis 1360S,0 °/o</item>
            <item> 1861 &#x201E; 187010,3 °/o</item>
            <item> 1871 &#x201E; 188011.S °/°</item>
            <item> 1881 ., 189011,7 °/o</item>
            <item> 1891 &#x201E; 190013,9 °/°</item>
            <item> 1901 &#x201E; 191014,3 -&gt;/&lt;&gt;</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_1971"> Es wird auch allgemein die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß es<lb/>
möglich sei, die Sterblichkeitsrate noch weiter herabzudrücken &#x2014;- bis zu einem<lb/>
gewissen Minimum. Wann aber tritt dieses Minimum ein? Und wieweit geht<lb/>
die heutige Sterblichkeitsrate noch über dieses Minimum hinaus? Dies sind<lb/>
die Fragen, die amtliche und nichtamtliche Sozialreformer sich vorlegen müssen.<lb/>
Ist erst einmal der Minimalsatz der Sterblichkeit erkannt, dann muß die volle<lb/>
sozialpolitische Energie auf das Ziel gerichtet werden, &#x201E;den Tod bis hinter diesen<lb/>
Punkt zurückzuwerfen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1972" next="#ID_1973"> Der Tod an sich ist nicht nur unabwendbar, sondern auch notwendig.<lb/>
Die Menschheit im allgemeinen und die Nation im besonderen erhält sich nur<lb/>
durch die Erneuerung. Eine ideale Norm wäre nun im natürlichen Tod durch<lb/>
allmähliches Erlöschen der Lebenskräfte gegeben. Wenn die Menschheit diese<lb/>
Norm auch niemals wird erreichen können, so wird doch eine Annäherung möglich<lb/>
sein. Dieser Gedanke erscheint um so wahrscheinlicher, als man bei der Durch¬<lb/>
sicht der Todesstatistik auf die Tatsache stößt, daß das, was die Ausnahme<lb/>
bilden sollte, der frühzeitige Tod, die Regel ist. Von den im Jahre 1910<lb/>
gestorbenen männlichen Personen entfallen auf die Zeit nach dem sechzigsten<lb/>
Lebensjahr &#x2014; die wir hier, wenn auch etwas willkürlich, als natürliche Sterbe¬<lb/>
periode bezeichnen wollen &#x2014; nur 285.8 °/&lt;&gt;g aller Gestorbenen, von den weiblichen<lb/>
nur 347.6 °/gg. Dagegen sehen wir, daß 332,2 °/gg der männlichen und<lb/>
272,0 °/gg der weiblichen Gestorbenen das erste Lebensjahr nicht überschritten<lb/>
hatten. Und nehmen wir die Zeit von der Geburt bis zum zurückgelegten<lb/>
vierzehnten Lebensjahre, so finden wir, daß diese Altersgruppe bei den männlichen<lb/>
Personen 442,9 °/&lt;,&lt;, und bei den weiblichen 395,7 der Todesfälle stellt.<lb/>
Nehmen wir dazu noch die Tatsache, daß im genannten Jahre 2,9 °/&#x201E; aller</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] Bevölkerungsvormehrung und Sozialhygiene Einseitig auf diese Weise läßt sich natürlich das Problem nicht lösen. Aber derartige nationalwirtschaftliche Gedankengänge werden leichter Anhänger finden, als rein religiöse und moralische. Es ist nun nicht meine Absicht, an dieser Stelle im einzelnen die Bedingungen, Möglichkeiten und Schlußfolgerungen zu erörtern, die sich aus den obigen Gedankengängen ergeben; vielmehr möchte ich auf einen anderen Weg hinweisen, der nur durch Verstärkung von Tendenzen, die schon vorhanden sind, die jährliche Bevölkerungsvermehrung bis zu einem Hunderttausend, vielleicht sogar darüber hinaus, steigern kann: Sozialhygiene. In fast allen Diskussionen über das Problem der Bevölkerungsvermehrung kommt zum Ausdruck, daß bisher der Überschuß der Geburten über die Todes¬ fälle mit wenigen Ausnahmen von Jahr zu Jahr gestiegen ist. Der Geburten¬ überschuß betrug im Jahresdurchschnitt: 18S1 bis 1360S,0 °/o 1861 „ 187010,3 °/o 1871 „ 188011.S °/° 1881 ., 189011,7 °/o 1891 „ 190013,9 °/° 1901 „ 191014,3 ->/<> Es wird auch allgemein die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß es möglich sei, die Sterblichkeitsrate noch weiter herabzudrücken —- bis zu einem gewissen Minimum. Wann aber tritt dieses Minimum ein? Und wieweit geht die heutige Sterblichkeitsrate noch über dieses Minimum hinaus? Dies sind die Fragen, die amtliche und nichtamtliche Sozialreformer sich vorlegen müssen. Ist erst einmal der Minimalsatz der Sterblichkeit erkannt, dann muß die volle sozialpolitische Energie auf das Ziel gerichtet werden, „den Tod bis hinter diesen Punkt zurückzuwerfen." Der Tod an sich ist nicht nur unabwendbar, sondern auch notwendig. Die Menschheit im allgemeinen und die Nation im besonderen erhält sich nur durch die Erneuerung. Eine ideale Norm wäre nun im natürlichen Tod durch allmähliches Erlöschen der Lebenskräfte gegeben. Wenn die Menschheit diese Norm auch niemals wird erreichen können, so wird doch eine Annäherung möglich sein. Dieser Gedanke erscheint um so wahrscheinlicher, als man bei der Durch¬ sicht der Todesstatistik auf die Tatsache stößt, daß das, was die Ausnahme bilden sollte, der frühzeitige Tod, die Regel ist. Von den im Jahre 1910 gestorbenen männlichen Personen entfallen auf die Zeit nach dem sechzigsten Lebensjahr — die wir hier, wenn auch etwas willkürlich, als natürliche Sterbe¬ periode bezeichnen wollen — nur 285.8 °/<>g aller Gestorbenen, von den weiblichen nur 347.6 °/gg. Dagegen sehen wir, daß 332,2 °/gg der männlichen und 272,0 °/gg der weiblichen Gestorbenen das erste Lebensjahr nicht überschritten hatten. Und nehmen wir die Zeit von der Geburt bis zum zurückgelegten vierzehnten Lebensjahre, so finden wir, daß diese Altersgruppe bei den männlichen Personen 442,9 °/<,<, und bei den weiblichen 395,7 der Todesfälle stellt. Nehmen wir dazu noch die Tatsache, daß im genannten Jahre 2,9 °/„ aller

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/500
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/500>, abgerufen am 12.05.2024.