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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polenpolitik

Wer nur oberflächlich auf die Äußerungen der russischen Polenpolitik
sieht oder sich gar auf die fast immer einseitigen Berichte der katholischen und
sozialistischen Presse verläßt, kann leicht zu dem Eindruck kommen, der russische
Beamte in den ehemals polnischen Landesteilen Rußlands onde zick- und
planlos in einem eroberten Gebiete, und hinter dem Chaos von Gesetzen,
Polizeivorschriften und Gouvernementsbefehlen stehe lediglich die Willkür und
der Eigennutz ungetreuer Satrappen. Das eingehende Studium zeigt ein anderes
Bild.*)

So wenig die scharfen Zugriffe auf wirtschaftlichem Gebiet nach 1863
ein blindes Rachewerk darstellten, so wenig darf man die Haltung der
russischen Machthaber in politischer Beziehung planlos nennen. Bei allen Mi߬
griffen, scheinbaren Konzessionen, Roheiten und Torheiten, die seitens aller
Instanzen im Zartum Polen gelegentlich begangen wurden, findet der auf¬
merksame Beobachter doch zähes und konsequentes Zusammenwirken aller
Faktoren, um einer großen Idee zum Siege zu verhelfen. Man braucht nur die
trockenen, von allem gefühlsmäßigen Beiwerk freien Jahresberichte des Reichsrath
durchzublättern, um einen Begriff von der eisernen Konsequenz der russischen
Gesetzgebung zu erhalten. Von der Tätigkeit eines Murawjoff in Litauen bis
zur Einführung des Gerichtsstatuts im Zartum und im Südwestgebiete, geht,
wenn sich auch hier und da Unter- und Ueberströmungen stärker in den
Vordergrund drängen, eine gerade Linie. Seit 1868, das ist, seitdem die
russischen Panslawisten eine genaue ethnographische Grenze zwischen Polen und
Russen festgestellt zu haben glaubten, scheint die Aufgabe der russischen Polen¬
politik zwar näher gefunden, als wie sie Peter der Große angibt, oder wie sie
uns aus dem Verhalten Alexanders des Ersten kenntlich wird, doch liegt sie in
derselben geraden Linie, die Iwan der Grausame und Peter auf den Westen
weisend, bestimmten. Sie ist nur praktischer erkannt und präziser umrissen.
Man denkt wohl an die Gewinnung der Weichselmündung, aber der Gedanke
findet in keiner der gesetzlichen Unternehmungen nachweisbaren Ausdruck. Ein
enger, scheinbar unnational gefaßter Staatsbegriff, in dem das Wort "wirt¬
schaften" und damit der Begriff "gemeinsame Interessen aller Staats¬
angehörigen" seinen besonderen Wert hat, scheint die Handlungen des Gesetz¬
gebers ohne Hintergedanken und weitere Absichten zu leiten.

Damit steht durchaus in Einklang, wenn der Panslawismus sowohl in
seiner moskowitischen, wie in seiner universellen Form amtlich bekämpft wird.
Die Annäherung der Polen an andere Slawenvölker, besonders auch an die
Russen, wird zwar von niemand gestört, aber aus eine Aussöhnung mit Rom
gibt man nichts, seit man angesichts der durch Jahrhunderte vertieften Spaltung



") Meine Auffassungen sind im Buch selbst genauer begründet und mit allem irgend¬
wie zugänglichen Material belegt. Lediglich aus Rücksicht auf den Raum bleiben die
zahlreichen Fußnoten hier fort.
Russische Polenpolitik

Wer nur oberflächlich auf die Äußerungen der russischen Polenpolitik
sieht oder sich gar auf die fast immer einseitigen Berichte der katholischen und
sozialistischen Presse verläßt, kann leicht zu dem Eindruck kommen, der russische
Beamte in den ehemals polnischen Landesteilen Rußlands onde zick- und
planlos in einem eroberten Gebiete, und hinter dem Chaos von Gesetzen,
Polizeivorschriften und Gouvernementsbefehlen stehe lediglich die Willkür und
der Eigennutz ungetreuer Satrappen. Das eingehende Studium zeigt ein anderes
Bild.*)

So wenig die scharfen Zugriffe auf wirtschaftlichem Gebiet nach 1863
ein blindes Rachewerk darstellten, so wenig darf man die Haltung der
russischen Machthaber in politischer Beziehung planlos nennen. Bei allen Mi߬
griffen, scheinbaren Konzessionen, Roheiten und Torheiten, die seitens aller
Instanzen im Zartum Polen gelegentlich begangen wurden, findet der auf¬
merksame Beobachter doch zähes und konsequentes Zusammenwirken aller
Faktoren, um einer großen Idee zum Siege zu verhelfen. Man braucht nur die
trockenen, von allem gefühlsmäßigen Beiwerk freien Jahresberichte des Reichsrath
durchzublättern, um einen Begriff von der eisernen Konsequenz der russischen
Gesetzgebung zu erhalten. Von der Tätigkeit eines Murawjoff in Litauen bis
zur Einführung des Gerichtsstatuts im Zartum und im Südwestgebiete, geht,
wenn sich auch hier und da Unter- und Ueberströmungen stärker in den
Vordergrund drängen, eine gerade Linie. Seit 1868, das ist, seitdem die
russischen Panslawisten eine genaue ethnographische Grenze zwischen Polen und
Russen festgestellt zu haben glaubten, scheint die Aufgabe der russischen Polen¬
politik zwar näher gefunden, als wie sie Peter der Große angibt, oder wie sie
uns aus dem Verhalten Alexanders des Ersten kenntlich wird, doch liegt sie in
derselben geraden Linie, die Iwan der Grausame und Peter auf den Westen
weisend, bestimmten. Sie ist nur praktischer erkannt und präziser umrissen.
Man denkt wohl an die Gewinnung der Weichselmündung, aber der Gedanke
findet in keiner der gesetzlichen Unternehmungen nachweisbaren Ausdruck. Ein
enger, scheinbar unnational gefaßter Staatsbegriff, in dem das Wort „wirt¬
schaften" und damit der Begriff „gemeinsame Interessen aller Staats¬
angehörigen" seinen besonderen Wert hat, scheint die Handlungen des Gesetz¬
gebers ohne Hintergedanken und weitere Absichten zu leiten.

Damit steht durchaus in Einklang, wenn der Panslawismus sowohl in
seiner moskowitischen, wie in seiner universellen Form amtlich bekämpft wird.
Die Annäherung der Polen an andere Slawenvölker, besonders auch an die
Russen, wird zwar von niemand gestört, aber aus eine Aussöhnung mit Rom
gibt man nichts, seit man angesichts der durch Jahrhunderte vertieften Spaltung



") Meine Auffassungen sind im Buch selbst genauer begründet und mit allem irgend¬
wie zugänglichen Material belegt. Lediglich aus Rücksicht auf den Raum bleiben die
zahlreichen Fußnoten hier fort.
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[0550] Russische Polenpolitik Wer nur oberflächlich auf die Äußerungen der russischen Polenpolitik sieht oder sich gar auf die fast immer einseitigen Berichte der katholischen und sozialistischen Presse verläßt, kann leicht zu dem Eindruck kommen, der russische Beamte in den ehemals polnischen Landesteilen Rußlands onde zick- und planlos in einem eroberten Gebiete, und hinter dem Chaos von Gesetzen, Polizeivorschriften und Gouvernementsbefehlen stehe lediglich die Willkür und der Eigennutz ungetreuer Satrappen. Das eingehende Studium zeigt ein anderes Bild.*) So wenig die scharfen Zugriffe auf wirtschaftlichem Gebiet nach 1863 ein blindes Rachewerk darstellten, so wenig darf man die Haltung der russischen Machthaber in politischer Beziehung planlos nennen. Bei allen Mi߬ griffen, scheinbaren Konzessionen, Roheiten und Torheiten, die seitens aller Instanzen im Zartum Polen gelegentlich begangen wurden, findet der auf¬ merksame Beobachter doch zähes und konsequentes Zusammenwirken aller Faktoren, um einer großen Idee zum Siege zu verhelfen. Man braucht nur die trockenen, von allem gefühlsmäßigen Beiwerk freien Jahresberichte des Reichsrath durchzublättern, um einen Begriff von der eisernen Konsequenz der russischen Gesetzgebung zu erhalten. Von der Tätigkeit eines Murawjoff in Litauen bis zur Einführung des Gerichtsstatuts im Zartum und im Südwestgebiete, geht, wenn sich auch hier und da Unter- und Ueberströmungen stärker in den Vordergrund drängen, eine gerade Linie. Seit 1868, das ist, seitdem die russischen Panslawisten eine genaue ethnographische Grenze zwischen Polen und Russen festgestellt zu haben glaubten, scheint die Aufgabe der russischen Polen¬ politik zwar näher gefunden, als wie sie Peter der Große angibt, oder wie sie uns aus dem Verhalten Alexanders des Ersten kenntlich wird, doch liegt sie in derselben geraden Linie, die Iwan der Grausame und Peter auf den Westen weisend, bestimmten. Sie ist nur praktischer erkannt und präziser umrissen. Man denkt wohl an die Gewinnung der Weichselmündung, aber der Gedanke findet in keiner der gesetzlichen Unternehmungen nachweisbaren Ausdruck. Ein enger, scheinbar unnational gefaßter Staatsbegriff, in dem das Wort „wirt¬ schaften" und damit der Begriff „gemeinsame Interessen aller Staats¬ angehörigen" seinen besonderen Wert hat, scheint die Handlungen des Gesetz¬ gebers ohne Hintergedanken und weitere Absichten zu leiten. Damit steht durchaus in Einklang, wenn der Panslawismus sowohl in seiner moskowitischen, wie in seiner universellen Form amtlich bekämpft wird. Die Annäherung der Polen an andere Slawenvölker, besonders auch an die Russen, wird zwar von niemand gestört, aber aus eine Aussöhnung mit Rom gibt man nichts, seit man angesichts der durch Jahrhunderte vertieften Spaltung ") Meine Auffassungen sind im Buch selbst genauer begründet und mit allem irgend¬ wie zugänglichen Material belegt. Lediglich aus Rücksicht auf den Raum bleiben die zahlreichen Fußnoten hier fort.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/550>, abgerufen am 12.05.2024.