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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polenpolitik

Alexander der Zweite hatte sich die Wirkungen seiner großen Reformen
von 1861/64 in Rußland anders vorgestellt, als wie sie bald offenbar wurden.
Auch seine Reformen im Zartum hatten zunächst unhaltbare Zustände geschaffen.
Aufgabe der Bureaukratie war es, diese Zustände zu beseitigen, ohne die großen
Ziele der Reform, das ist die endgültige Unterwerfung der Polen unter die
Macht Rußlands, in Frage zu stellen. Und nun meldeten sich die Schwierig¬
keiten, die Kämpfe der Ressorts gegeneinander, Uneinigkeit, Verkennung der Ab¬
sichten, persönliche Interessen und das schlimmste, die Rückwirkung aus der
internationalen Politik. Das Kirchenressort betrieb eine Politik, die den In¬
struktionen der Generalgouverneure direkt entgegenwirkte; Finanz- und Justiz¬
ministerium faßten ihre Aufgaben anders auf, wie das Ressort des Innern,
und die obersten Chefs der Verwaltung, die Generalgouverneure mußten
schließlich eine in sich widerspruchsvolle Schaukelpolitik treiben, um ihre eignen
Instruktionen mit den lokalen Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Das Ge¬
samtbild ist folgendes: es wurden gegenüber der aggressiven Politik des Heiligsten
Synods die Augen geschlossen, solange es ging, -- die unruhige Masse des
Volksganzen wurde durch drakonische, nur durch Bestechlichkeit gemilderte Polizei¬
vorschriften im Zaume gehalten, und nur die Einflußreichen, die sich den
regierenden Beamten friedlich näherten, wurden verhätschelt und bevorzugt. Mit
Zuckerbrod und Peitsche wurden die erwerbstüchtigen Kreise zu loyalen Unter¬
tanen des Zaren gemacht. Die wilde Agitation der Moskowiter wirkte zwar
hie und da schon in den unteren Organen, doch beschränkte sie sich vorläufig
darauf, Beamte heranzubilden, die nach dem Tode Alexanders des Zweiten
und nach dem Fortgange Albedinskis als Gefolgschaft des Generalgouverneurs
Gurko im Zartum erscheinen würden.

Wenn die politischen Fortschritte des russischen Staates in Polen dennoch
nicht dem wirtschaftlichen Aufschwung, den die Polen unter Alexanders des
Zweiten Negierung genommen hatten, entsprachen, so waren daran die inner¬
politischen Zustände im russischen Reich und seine internationale Lage schuld,
die gemeinsam ein zielsicheres Wirken der russischen Bureaukratie lähmten.

Seit der Bauernbefreiung kämpften in Nußland zwei Richtungen
um die Anerkennung: die Großgrundbesitzer suchten die sie schwer betastenden
wirtschaftlichen Folgen der Bauerngesetze von 1861 nach Möglichkeit
im eigenen Interesse zu mildern; die gebildeten Städter strebten eine weitere
Anerkennung der liberalen Ideen in der Gesetzgebung an. Den Anfordernissen
beider Richtungen waren weder der Negierungsapparat noch die Intelligenz der
Provinzialbeamten gewachsen. Bis zur Mitte der 1870er Jahre war die gro߬
agrarische Reaktion auf der ganzen Linie stegreich vorgedrungen. Die Leiter
der Staatswirtschaft mußten nämlich je länger um so mehr erkennen, daß
die Bauernreform, unpraktisch durchgeführt, die Staatswirtschaft weit über das
Können des Staates belastete, ohne als Äquivalent sofort dem frei gewordenen
Bauern ein erhöhtes Maß von Leistungsfähigkeit geben zu können. Die Bureau-


Russische Polenpolitik

Alexander der Zweite hatte sich die Wirkungen seiner großen Reformen
von 1861/64 in Rußland anders vorgestellt, als wie sie bald offenbar wurden.
Auch seine Reformen im Zartum hatten zunächst unhaltbare Zustände geschaffen.
Aufgabe der Bureaukratie war es, diese Zustände zu beseitigen, ohne die großen
Ziele der Reform, das ist die endgültige Unterwerfung der Polen unter die
Macht Rußlands, in Frage zu stellen. Und nun meldeten sich die Schwierig¬
keiten, die Kämpfe der Ressorts gegeneinander, Uneinigkeit, Verkennung der Ab¬
sichten, persönliche Interessen und das schlimmste, die Rückwirkung aus der
internationalen Politik. Das Kirchenressort betrieb eine Politik, die den In¬
struktionen der Generalgouverneure direkt entgegenwirkte; Finanz- und Justiz¬
ministerium faßten ihre Aufgaben anders auf, wie das Ressort des Innern,
und die obersten Chefs der Verwaltung, die Generalgouverneure mußten
schließlich eine in sich widerspruchsvolle Schaukelpolitik treiben, um ihre eignen
Instruktionen mit den lokalen Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Das Ge¬
samtbild ist folgendes: es wurden gegenüber der aggressiven Politik des Heiligsten
Synods die Augen geschlossen, solange es ging, — die unruhige Masse des
Volksganzen wurde durch drakonische, nur durch Bestechlichkeit gemilderte Polizei¬
vorschriften im Zaume gehalten, und nur die Einflußreichen, die sich den
regierenden Beamten friedlich näherten, wurden verhätschelt und bevorzugt. Mit
Zuckerbrod und Peitsche wurden die erwerbstüchtigen Kreise zu loyalen Unter¬
tanen des Zaren gemacht. Die wilde Agitation der Moskowiter wirkte zwar
hie und da schon in den unteren Organen, doch beschränkte sie sich vorläufig
darauf, Beamte heranzubilden, die nach dem Tode Alexanders des Zweiten
und nach dem Fortgange Albedinskis als Gefolgschaft des Generalgouverneurs
Gurko im Zartum erscheinen würden.

Wenn die politischen Fortschritte des russischen Staates in Polen dennoch
nicht dem wirtschaftlichen Aufschwung, den die Polen unter Alexanders des
Zweiten Negierung genommen hatten, entsprachen, so waren daran die inner¬
politischen Zustände im russischen Reich und seine internationale Lage schuld,
die gemeinsam ein zielsicheres Wirken der russischen Bureaukratie lähmten.

Seit der Bauernbefreiung kämpften in Nußland zwei Richtungen
um die Anerkennung: die Großgrundbesitzer suchten die sie schwer betastenden
wirtschaftlichen Folgen der Bauerngesetze von 1861 nach Möglichkeit
im eigenen Interesse zu mildern; die gebildeten Städter strebten eine weitere
Anerkennung der liberalen Ideen in der Gesetzgebung an. Den Anfordernissen
beider Richtungen waren weder der Negierungsapparat noch die Intelligenz der
Provinzialbeamten gewachsen. Bis zur Mitte der 1870er Jahre war die gro߬
agrarische Reaktion auf der ganzen Linie stegreich vorgedrungen. Die Leiter
der Staatswirtschaft mußten nämlich je länger um so mehr erkennen, daß
die Bauernreform, unpraktisch durchgeführt, die Staatswirtschaft weit über das
Können des Staates belastete, ohne als Äquivalent sofort dem frei gewordenen
Bauern ein erhöhtes Maß von Leistungsfähigkeit geben zu können. Die Bureau-


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[0552] Russische Polenpolitik Alexander der Zweite hatte sich die Wirkungen seiner großen Reformen von 1861/64 in Rußland anders vorgestellt, als wie sie bald offenbar wurden. Auch seine Reformen im Zartum hatten zunächst unhaltbare Zustände geschaffen. Aufgabe der Bureaukratie war es, diese Zustände zu beseitigen, ohne die großen Ziele der Reform, das ist die endgültige Unterwerfung der Polen unter die Macht Rußlands, in Frage zu stellen. Und nun meldeten sich die Schwierig¬ keiten, die Kämpfe der Ressorts gegeneinander, Uneinigkeit, Verkennung der Ab¬ sichten, persönliche Interessen und das schlimmste, die Rückwirkung aus der internationalen Politik. Das Kirchenressort betrieb eine Politik, die den In¬ struktionen der Generalgouverneure direkt entgegenwirkte; Finanz- und Justiz¬ ministerium faßten ihre Aufgaben anders auf, wie das Ressort des Innern, und die obersten Chefs der Verwaltung, die Generalgouverneure mußten schließlich eine in sich widerspruchsvolle Schaukelpolitik treiben, um ihre eignen Instruktionen mit den lokalen Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Das Ge¬ samtbild ist folgendes: es wurden gegenüber der aggressiven Politik des Heiligsten Synods die Augen geschlossen, solange es ging, — die unruhige Masse des Volksganzen wurde durch drakonische, nur durch Bestechlichkeit gemilderte Polizei¬ vorschriften im Zaume gehalten, und nur die Einflußreichen, die sich den regierenden Beamten friedlich näherten, wurden verhätschelt und bevorzugt. Mit Zuckerbrod und Peitsche wurden die erwerbstüchtigen Kreise zu loyalen Unter¬ tanen des Zaren gemacht. Die wilde Agitation der Moskowiter wirkte zwar hie und da schon in den unteren Organen, doch beschränkte sie sich vorläufig darauf, Beamte heranzubilden, die nach dem Tode Alexanders des Zweiten und nach dem Fortgange Albedinskis als Gefolgschaft des Generalgouverneurs Gurko im Zartum erscheinen würden. Wenn die politischen Fortschritte des russischen Staates in Polen dennoch nicht dem wirtschaftlichen Aufschwung, den die Polen unter Alexanders des Zweiten Negierung genommen hatten, entsprachen, so waren daran die inner¬ politischen Zustände im russischen Reich und seine internationale Lage schuld, die gemeinsam ein zielsicheres Wirken der russischen Bureaukratie lähmten. Seit der Bauernbefreiung kämpften in Nußland zwei Richtungen um die Anerkennung: die Großgrundbesitzer suchten die sie schwer betastenden wirtschaftlichen Folgen der Bauerngesetze von 1861 nach Möglichkeit im eigenen Interesse zu mildern; die gebildeten Städter strebten eine weitere Anerkennung der liberalen Ideen in der Gesetzgebung an. Den Anfordernissen beider Richtungen waren weder der Negierungsapparat noch die Intelligenz der Provinzialbeamten gewachsen. Bis zur Mitte der 1870er Jahre war die gro߬ agrarische Reaktion auf der ganzen Linie stegreich vorgedrungen. Die Leiter der Staatswirtschaft mußten nämlich je länger um so mehr erkennen, daß die Bauernreform, unpraktisch durchgeführt, die Staatswirtschaft weit über das Können des Staates belastete, ohne als Äquivalent sofort dem frei gewordenen Bauern ein erhöhtes Maß von Leistungsfähigkeit geben zu können. Die Bureau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/552>, abgerufen am 17.06.2024.