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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Philosophie

Es ist das Verdienst Rudolf Enckcns, des
bekannten Jenaer Philosophen, daß er das
Leben so stark betont, daß es für ihn keine
wahre Philosophie gibt, die nicht Lebens¬
philosophie ist: vom Leben her müssen wir
Vordringen zu den tiefsten Gründen unseres
Seins, vom Leben her müssen die geistigen
Kulturkreise gestaltet werden. Auf diesen Ton
sind seine zahlreichen philosophischen Schriften
gestimmt, diese Forderung erhebt er auch
wieder mit allem Nachdruck in seiner Schrift:
Erkennen und Leben (Quelle und Meyer,
Leipzig, geh. 3 M>, geb. 3,80 M.), die nur
ein erster Entwurf einer Erkenntnislehre ist,
die aber eine völlige Neugestaltung der Er¬
kenntnislehre durch Euckens zu erwartendes
größeres Werk über diesen Gegenstand erhoffen
läßt.

Eucken zeigt, daß es ein Erkennen durch
reines Denken, das vom Leben losgelöst ist,
nicht gibt und nicht geben kann. Die Wissen¬
schaft hat ihre Grenze: bei ihr "entfällt alle
Möglichkeit einer Fassung in ein Gesamtbild,
einer Aufdeckung eines Sinns des Ganzen
und eines Verstehens des einzelnen von
daher".

Was die Wissenschaft nicht zu geben ver¬
mochte, versuchte man Wohl auf den: Wege
der Spekulation zu erreichen. Aber die
Spekulation sieht sich letzten Endes vor
ein Dilemma gestellt: erkennt sie in rea¬
listischer Denkweise eine draußen befindliche
Welt an, so gibt es keine sicheren Wege, um

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dorthin, d. h. in die Außenwelt, zu gelangen,
versucht sie in idealistischer Weise alles
Sein aus sich herauszuspinnen, so verliert
das Denken die Kraft.

Indessen kann auch die Wendung zum
Leben, wie sie die Neuzeit energisch vollzogen
hat, nicht ohne weiteres zur vollen Erkenntnis
führen, denn alles kommt darauf an, was
unter Leben verstanden wird.

Der Pragmatismus geht vom Leben aus
und vertritt einen charakteristischen Wahrheits¬
begriff. Wahr ist, was zur Erhöhung des
Lebens wirkt, was der Entwicklung und dem
Gelingen des Lebens dient. DaS führt uns
entschieden einen Schritt weiter. Nirgends
scheint hier das Erkenntnisstreben ins Leere
zu fallen, überall ist es auf das Ganze un¬
seres Lebens bezogen und unseren Empfin¬
dungen und Anschauungen nahegerückt. Die
Wahrheit soll hier in unserem Leben -- nicht
jenseits unseres Lebens -- gefunden werden.
Aber trotzdem kann der Pragmatismus keine
vollbefriedigende Lösung des Wahrheitspro¬
blems bringen, denn "Leben" bedeutet ihm
nicht mehr als das geschichtlich - gesellschaftliche
Zusammensein der Individuen. Dadurch er¬
liegt das Wahrheitsstreben der Zersplitterung
menschlicher Meinungen. Was ist denn, so
muß man fragen, wirklich lebenfördernd?
Es fehlt im Pragmatismus das allgemein¬
gültige Kriterium für eine einheitliche Beant¬
wortung der Frage.

Es bleibt noch der Weg, den der Biolo-
gismuS empfiehlt, um zur Wahrheit zu kommen.
Der BiologiSmus Prüft den Fluß des Lebens,

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Philosophie

Es ist das Verdienst Rudolf Enckcns, des
bekannten Jenaer Philosophen, daß er das
Leben so stark betont, daß es für ihn keine
wahre Philosophie gibt, die nicht Lebens¬
philosophie ist: vom Leben her müssen wir
Vordringen zu den tiefsten Gründen unseres
Seins, vom Leben her müssen die geistigen
Kulturkreise gestaltet werden. Auf diesen Ton
sind seine zahlreichen philosophischen Schriften
gestimmt, diese Forderung erhebt er auch
wieder mit allem Nachdruck in seiner Schrift:
Erkennen und Leben (Quelle und Meyer,
Leipzig, geh. 3 M>, geb. 3,80 M.), die nur
ein erster Entwurf einer Erkenntnislehre ist,
die aber eine völlige Neugestaltung der Er¬
kenntnislehre durch Euckens zu erwartendes
größeres Werk über diesen Gegenstand erhoffen
läßt.

Eucken zeigt, daß es ein Erkennen durch
reines Denken, das vom Leben losgelöst ist,
nicht gibt und nicht geben kann. Die Wissen¬
schaft hat ihre Grenze: bei ihr „entfällt alle
Möglichkeit einer Fassung in ein Gesamtbild,
einer Aufdeckung eines Sinns des Ganzen
und eines Verstehens des einzelnen von
daher".

Was die Wissenschaft nicht zu geben ver¬
mochte, versuchte man Wohl auf den: Wege
der Spekulation zu erreichen. Aber die
Spekulation sieht sich letzten Endes vor
ein Dilemma gestellt: erkennt sie in rea¬
listischer Denkweise eine draußen befindliche
Welt an, so gibt es keine sicheren Wege, um

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dorthin, d. h. in die Außenwelt, zu gelangen,
versucht sie in idealistischer Weise alles
Sein aus sich herauszuspinnen, so verliert
das Denken die Kraft.

Indessen kann auch die Wendung zum
Leben, wie sie die Neuzeit energisch vollzogen
hat, nicht ohne weiteres zur vollen Erkenntnis
führen, denn alles kommt darauf an, was
unter Leben verstanden wird.

Der Pragmatismus geht vom Leben aus
und vertritt einen charakteristischen Wahrheits¬
begriff. Wahr ist, was zur Erhöhung des
Lebens wirkt, was der Entwicklung und dem
Gelingen des Lebens dient. DaS führt uns
entschieden einen Schritt weiter. Nirgends
scheint hier das Erkenntnisstreben ins Leere
zu fallen, überall ist es auf das Ganze un¬
seres Lebens bezogen und unseren Empfin¬
dungen und Anschauungen nahegerückt. Die
Wahrheit soll hier in unserem Leben — nicht
jenseits unseres Lebens — gefunden werden.
Aber trotzdem kann der Pragmatismus keine
vollbefriedigende Lösung des Wahrheitspro¬
blems bringen, denn „Leben" bedeutet ihm
nicht mehr als das geschichtlich - gesellschaftliche
Zusammensein der Individuen. Dadurch er¬
liegt das Wahrheitsstreben der Zersplitterung
menschlicher Meinungen. Was ist denn, so
muß man fragen, wirklich lebenfördernd?
Es fehlt im Pragmatismus das allgemein¬
gültige Kriterium für eine einheitliche Beant¬
wortung der Frage.

Es bleibt noch der Weg, den der Biolo-
gismuS empfiehlt, um zur Wahrheit zu kommen.
Der BiologiSmus Prüft den Fluß des Lebens,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/100>, abgerufen am 16.06.2024.