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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosa

sollen -- kurz, es sind alle Mittel und Mittelchen willkommen, die aus der
poetischen Sprachform übernommen werden, um die prosaische herauszuputzen.
Darob freut man sich und lobt die schwungvolle, poetische Sprache.

Diese Erscheinung ist in der Literatur der Völker weder neu noch unerhört.
Die antike Literaturgeschichte bringt Ketten solcher Beispiele, die vom fünften
vorchristlichen Jahrhundert ab Ring an Ring reihen; die lateinische Predigt,
die Werke der Kirchenväter sind Musterbeispiele für die Vermischung prosaischer
mit poetischen Elementen. Die Prosa der germanischen Völker ist spät über den
engsten Rahmen der judiziellen oder geistlichen Zweckliteratur hinausgetreten,
und auch dann von Anfang an in der Umwelt geistlicher Bildung und An¬
schauung befangen geblieben. So kennt die Literaturgeschichte der Germanen
keine reine und unverdorbene, keine bodenständige Prosa -- mit Ausnahme einer
stolzen Sondererscheinung: d.r Isländergeschichten.




Die isländische "Saga" behandelt die Familiengeschichte eines einzelnen
oder einer Sippe, selten wird der Kreis weiter ausgedehnt, fast nie über Ereig¬
nisse persönlicher und privater Natur hinaus auf große politische Zusammenhänge
und Staatsfragen. Wohl spielen auch welthistorische Geschehnisse bedeutungs¬
voll herein: die Einigung Norwegens, die Entdeckung Amerikas durch Leif den
Glücklichen. Imi übrigen bleibt das Leben der Saga in engem Kreise um¬
fangen: im Leben des Mannes und der Sippe. Als der norwegische Aus¬
wanderer nach demi fernen Eiland fuhr, um sich der Umstrickung durch König
Harald Schönhaars Macht zu entziehen, da war ihm die einfachere Gestaltung
des Lebens ein Neues, fast dünkte es ihm ein Exil zu sein. Aber in diesem
Ungrunde wächst die eigene Persönlichkeit, sie wird wichtig, die Familientradition
wird ein heiliges Gut. Daher beginnt jede Erzählung mit den, Manne ("Ulf
hieß ein Mann. . "Es war ein Mann, der Ketil hieß . . ."). ausführliche
Geschlechtsverzeichnisse berichten von seinen Ahnen, die Personen der Saga
werden vorgestellt: die "Präsentation" im Eingang jeder Jsländergeschichte, die
den ungewohnten Leser zunächst verwirrt, zumal sie mit der Sorglosigkeit, die
dem Bewußtsein historischer Wahrheit entspringt, verschiedene Menschen mit dem¬
selben Namen bezeichnet, von denen z. B. der eine in Nebensachen gebunden
bleibt, während der andere als Held die Geschichte beherrscht. ".

Die äußeren Schicksale der Helden sind verhältnismäßig karg. Die einzige
Armut, die der Saga eigen ist, wenn man das Armut heißen mag. Da gibt es
Wikingfahrten, Raubzüge, Fahrten nach Norwegen, im Herrendienst oder um
Bauholz zu holen, das auf Island mangelt. Dabei berühren sich norwegisches
Königtum und isländisches Großbauerntum freundlich und feindlich, in erprobten
Vertrauensverhältnis oder in kämpfercicher. erbitterter Feindschaft. Auf Island
selbst sind die treibenden Motive Totschlag und Blutrache. Freundschaft und


Altnordische und altdeutsche Prosa

sollen — kurz, es sind alle Mittel und Mittelchen willkommen, die aus der
poetischen Sprachform übernommen werden, um die prosaische herauszuputzen.
Darob freut man sich und lobt die schwungvolle, poetische Sprache.

Diese Erscheinung ist in der Literatur der Völker weder neu noch unerhört.
Die antike Literaturgeschichte bringt Ketten solcher Beispiele, die vom fünften
vorchristlichen Jahrhundert ab Ring an Ring reihen; die lateinische Predigt,
die Werke der Kirchenväter sind Musterbeispiele für die Vermischung prosaischer
mit poetischen Elementen. Die Prosa der germanischen Völker ist spät über den
engsten Rahmen der judiziellen oder geistlichen Zweckliteratur hinausgetreten,
und auch dann von Anfang an in der Umwelt geistlicher Bildung und An¬
schauung befangen geblieben. So kennt die Literaturgeschichte der Germanen
keine reine und unverdorbene, keine bodenständige Prosa — mit Ausnahme einer
stolzen Sondererscheinung: d.r Isländergeschichten.




Die isländische „Saga" behandelt die Familiengeschichte eines einzelnen
oder einer Sippe, selten wird der Kreis weiter ausgedehnt, fast nie über Ereig¬
nisse persönlicher und privater Natur hinaus auf große politische Zusammenhänge
und Staatsfragen. Wohl spielen auch welthistorische Geschehnisse bedeutungs¬
voll herein: die Einigung Norwegens, die Entdeckung Amerikas durch Leif den
Glücklichen. Imi übrigen bleibt das Leben der Saga in engem Kreise um¬
fangen: im Leben des Mannes und der Sippe. Als der norwegische Aus¬
wanderer nach demi fernen Eiland fuhr, um sich der Umstrickung durch König
Harald Schönhaars Macht zu entziehen, da war ihm die einfachere Gestaltung
des Lebens ein Neues, fast dünkte es ihm ein Exil zu sein. Aber in diesem
Ungrunde wächst die eigene Persönlichkeit, sie wird wichtig, die Familientradition
wird ein heiliges Gut. Daher beginnt jede Erzählung mit den, Manne („Ulf
hieß ein Mann. . „Es war ein Mann, der Ketil hieß . . ."). ausführliche
Geschlechtsverzeichnisse berichten von seinen Ahnen, die Personen der Saga
werden vorgestellt: die „Präsentation" im Eingang jeder Jsländergeschichte, die
den ungewohnten Leser zunächst verwirrt, zumal sie mit der Sorglosigkeit, die
dem Bewußtsein historischer Wahrheit entspringt, verschiedene Menschen mit dem¬
selben Namen bezeichnet, von denen z. B. der eine in Nebensachen gebunden
bleibt, während der andere als Held die Geschichte beherrscht. ».

Die äußeren Schicksale der Helden sind verhältnismäßig karg. Die einzige
Armut, die der Saga eigen ist, wenn man das Armut heißen mag. Da gibt es
Wikingfahrten, Raubzüge, Fahrten nach Norwegen, im Herrendienst oder um
Bauholz zu holen, das auf Island mangelt. Dabei berühren sich norwegisches
Königtum und isländisches Großbauerntum freundlich und feindlich, in erprobten
Vertrauensverhältnis oder in kämpfercicher. erbitterter Feindschaft. Auf Island
selbst sind die treibenden Motive Totschlag und Blutrache. Freundschaft und


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[0119] Altnordische und altdeutsche Prosa sollen — kurz, es sind alle Mittel und Mittelchen willkommen, die aus der poetischen Sprachform übernommen werden, um die prosaische herauszuputzen. Darob freut man sich und lobt die schwungvolle, poetische Sprache. Diese Erscheinung ist in der Literatur der Völker weder neu noch unerhört. Die antike Literaturgeschichte bringt Ketten solcher Beispiele, die vom fünften vorchristlichen Jahrhundert ab Ring an Ring reihen; die lateinische Predigt, die Werke der Kirchenväter sind Musterbeispiele für die Vermischung prosaischer mit poetischen Elementen. Die Prosa der germanischen Völker ist spät über den engsten Rahmen der judiziellen oder geistlichen Zweckliteratur hinausgetreten, und auch dann von Anfang an in der Umwelt geistlicher Bildung und An¬ schauung befangen geblieben. So kennt die Literaturgeschichte der Germanen keine reine und unverdorbene, keine bodenständige Prosa — mit Ausnahme einer stolzen Sondererscheinung: d.r Isländergeschichten. Die isländische „Saga" behandelt die Familiengeschichte eines einzelnen oder einer Sippe, selten wird der Kreis weiter ausgedehnt, fast nie über Ereig¬ nisse persönlicher und privater Natur hinaus auf große politische Zusammenhänge und Staatsfragen. Wohl spielen auch welthistorische Geschehnisse bedeutungs¬ voll herein: die Einigung Norwegens, die Entdeckung Amerikas durch Leif den Glücklichen. Imi übrigen bleibt das Leben der Saga in engem Kreise um¬ fangen: im Leben des Mannes und der Sippe. Als der norwegische Aus¬ wanderer nach demi fernen Eiland fuhr, um sich der Umstrickung durch König Harald Schönhaars Macht zu entziehen, da war ihm die einfachere Gestaltung des Lebens ein Neues, fast dünkte es ihm ein Exil zu sein. Aber in diesem Ungrunde wächst die eigene Persönlichkeit, sie wird wichtig, die Familientradition wird ein heiliges Gut. Daher beginnt jede Erzählung mit den, Manne („Ulf hieß ein Mann. . „Es war ein Mann, der Ketil hieß . . ."). ausführliche Geschlechtsverzeichnisse berichten von seinen Ahnen, die Personen der Saga werden vorgestellt: die „Präsentation" im Eingang jeder Jsländergeschichte, die den ungewohnten Leser zunächst verwirrt, zumal sie mit der Sorglosigkeit, die dem Bewußtsein historischer Wahrheit entspringt, verschiedene Menschen mit dem¬ selben Namen bezeichnet, von denen z. B. der eine in Nebensachen gebunden bleibt, während der andere als Held die Geschichte beherrscht. ». Die äußeren Schicksale der Helden sind verhältnismäßig karg. Die einzige Armut, die der Saga eigen ist, wenn man das Armut heißen mag. Da gibt es Wikingfahrten, Raubzüge, Fahrten nach Norwegen, im Herrendienst oder um Bauholz zu holen, das auf Island mangelt. Dabei berühren sich norwegisches Königtum und isländisches Großbauerntum freundlich und feindlich, in erprobten Vertrauensverhältnis oder in kämpfercicher. erbitterter Feindschaft. Auf Island selbst sind die treibenden Motive Totschlag und Blutrache. Freundschaft und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/119>, abgerufen am 15.06.2024.