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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosa

Blutsbruderschaft, das ganze Fehde- und Gerichtswesen, Parteiungen und
Kämpfe, Prozeß und Vergleich, Achtung und Waldgang. Dem Geächteten bringt
die Saga besondere Vorliebe entgegen, wie dem Wildschützen die Volksdichtung
der Alpen. Er fristet sein Leben in Stein- und Eiswüsten, elend, allein, die
Nacht wird sein Feind; solche rauhe, nackte Wirklichkeit wird durch keinen Schimmer
der Romantik vergoldet. Allüberall zeigt sich, wie wenig doch das Leben wert
war, das man leicht in die Schanze schlägt. Geringfügig sind die Ursachen des
Totschlags: Gewalttaten am Weidevieh und bei der Heuernte, Spiele, die in
Kampf ausarten, Hohn- und Trutzreden.

Unendlich vielfältig dagegen sind die ethischen Motive. In Liebe und Haß,
in Treue und Tücke, Freimut und List, Weichherzigkeit und Verschlagenheit spielt
reich abgetönt das Leben; unbeirrbar herrscht der Geschlechtsstolz, großzügiges
Heldentum weicht schlauer Bauernpfiffigkeit. In diese menschlich-realen werfen
die lichten und dunklen Mächte des Überirdischen und Außerirdischen ihren
Schatten und ihren Glanz. Sie haben als geglaubte Tatsachen ihren Eigen¬
wert, wie die greifbaren Dinge oder wie die Glaubenswahrheiten des Christen¬
tums. 1000 schreibt man, als das Christentum auf Island Eingang findet.
Es kommt als eine Folge der politischen Aktion des norwegischen Königtums,
nicht als eine Angelegenheit des Glaubens. So bleibt es zunächst ganz an der
Oberfläche. Neben und mit dem Christentum bleibt die alte Religion, Zauber-
und Aberglaube herrschend und wirksam. Das Schicksal beschließt, keiner ent¬
geht dem Verhängnis, die Ahnung kündet es und der Traum. Fügsam und
ohne Auflehnung erträgt der Held das verhängte Los, und ebenso zuversichtlich
vertraut er auf das Glück, das eine persönliche Tugend, eine Eigenschaft ist,
wie Verstand oder Mut. Es schwebt über dem einzelnen und über der Sippe.

Wie das Christentum blieben andere fremdländische Einflüsse mindestens in
gleicher Weise wirkungslos, als die Saga entstand; die Aufzeichnung hat sich
davon nicht ganz frei erhalten können. Da und dort zeigen sich geistliche Ein¬
schläge, aber die Zutaten verraten sich schnell: der Kern der Erzählung ist un¬
berührt geblieben. Die Jsländergeschichte ist also durchaus autochton, kein
Anstoß von außen hat diese Dichtung erweckt, sie führt ein Eigendasein, ein
Sonderleben, das schon durch die geographische Lage Islands begünstigt ward,
jener sagenumwobenen Thule, der fernen Insel im Eismeer, die der mittelalter¬
liche Deutsche mit phantastischer Pracht umspann. So ist uns hier in un¬
gebrochenen Lichte ein Bild rein germanischer Kultur bewahrt, einer Kultur,
die vom Christentum und vom Rittertum unbeeinflußt blieb. Die Jsländer-
saga vermittelt eine fast ungetrübte Anschauung jener eigentümlichen Zustände
des isländischen Freistaates, der weder Fürsten noch Adel kennt, keine Städte¬
kultur, keine gesonderten Berufe, nur die eine durchgängige Lebensart des freien
bäuerlichen Ansiedlers. Denn der unfreie Mann wird nach Sklavenart gehalten
und hat an keiner Lebensäußerung teil; auch der Saga dient er nur als Werk¬
zeug und Hilfe, stellt Nebenpersonen und Staffage.


Altnordische und altdeutsche Prosa

Blutsbruderschaft, das ganze Fehde- und Gerichtswesen, Parteiungen und
Kämpfe, Prozeß und Vergleich, Achtung und Waldgang. Dem Geächteten bringt
die Saga besondere Vorliebe entgegen, wie dem Wildschützen die Volksdichtung
der Alpen. Er fristet sein Leben in Stein- und Eiswüsten, elend, allein, die
Nacht wird sein Feind; solche rauhe, nackte Wirklichkeit wird durch keinen Schimmer
der Romantik vergoldet. Allüberall zeigt sich, wie wenig doch das Leben wert
war, das man leicht in die Schanze schlägt. Geringfügig sind die Ursachen des
Totschlags: Gewalttaten am Weidevieh und bei der Heuernte, Spiele, die in
Kampf ausarten, Hohn- und Trutzreden.

Unendlich vielfältig dagegen sind die ethischen Motive. In Liebe und Haß,
in Treue und Tücke, Freimut und List, Weichherzigkeit und Verschlagenheit spielt
reich abgetönt das Leben; unbeirrbar herrscht der Geschlechtsstolz, großzügiges
Heldentum weicht schlauer Bauernpfiffigkeit. In diese menschlich-realen werfen
die lichten und dunklen Mächte des Überirdischen und Außerirdischen ihren
Schatten und ihren Glanz. Sie haben als geglaubte Tatsachen ihren Eigen¬
wert, wie die greifbaren Dinge oder wie die Glaubenswahrheiten des Christen¬
tums. 1000 schreibt man, als das Christentum auf Island Eingang findet.
Es kommt als eine Folge der politischen Aktion des norwegischen Königtums,
nicht als eine Angelegenheit des Glaubens. So bleibt es zunächst ganz an der
Oberfläche. Neben und mit dem Christentum bleibt die alte Religion, Zauber-
und Aberglaube herrschend und wirksam. Das Schicksal beschließt, keiner ent¬
geht dem Verhängnis, die Ahnung kündet es und der Traum. Fügsam und
ohne Auflehnung erträgt der Held das verhängte Los, und ebenso zuversichtlich
vertraut er auf das Glück, das eine persönliche Tugend, eine Eigenschaft ist,
wie Verstand oder Mut. Es schwebt über dem einzelnen und über der Sippe.

Wie das Christentum blieben andere fremdländische Einflüsse mindestens in
gleicher Weise wirkungslos, als die Saga entstand; die Aufzeichnung hat sich
davon nicht ganz frei erhalten können. Da und dort zeigen sich geistliche Ein¬
schläge, aber die Zutaten verraten sich schnell: der Kern der Erzählung ist un¬
berührt geblieben. Die Jsländergeschichte ist also durchaus autochton, kein
Anstoß von außen hat diese Dichtung erweckt, sie führt ein Eigendasein, ein
Sonderleben, das schon durch die geographische Lage Islands begünstigt ward,
jener sagenumwobenen Thule, der fernen Insel im Eismeer, die der mittelalter¬
liche Deutsche mit phantastischer Pracht umspann. So ist uns hier in un¬
gebrochenen Lichte ein Bild rein germanischer Kultur bewahrt, einer Kultur,
die vom Christentum und vom Rittertum unbeeinflußt blieb. Die Jsländer-
saga vermittelt eine fast ungetrübte Anschauung jener eigentümlichen Zustände
des isländischen Freistaates, der weder Fürsten noch Adel kennt, keine Städte¬
kultur, keine gesonderten Berufe, nur die eine durchgängige Lebensart des freien
bäuerlichen Ansiedlers. Denn der unfreie Mann wird nach Sklavenart gehalten
und hat an keiner Lebensäußerung teil; auch der Saga dient er nur als Werk¬
zeug und Hilfe, stellt Nebenpersonen und Staffage.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/120>, abgerufen am 15.06.2024.