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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosa

marktsheftchen bis zu diesen sauberen, schönen Drucken! Die Ausgabe be¬
deutet auch inhaltlich keinen geringen Fortschritt. Es ist nach der bei¬
gegebenen Probe kein Zweifel, daß der hier dargebotene Text dem ursprüng¬
lichen gerechter wird, als etwa die reinigende Verwässerung von Schwab oder
die breite Modernisierung Simrocks. Benz will, "was von dem Alten noch
als Ganzes dichterisch für die Dauer lebendig sein kann, nun wieder lesbar
machen." Dabei verzichtet er auf philologisch getreue Wiedergabe, er läßt viel¬
mehr programmäßig alles fallen, "was der Philolog für seine wissenschaftlichen
Zwecke gerade bewahren muß." Das ist ein möglicher Standpunkt, denn eine
Erneuerung für den modernen Leser hat ihre volle Berechtigung und gegen die
bloße Umschreibung in unsere Schriftsprache wird man nichts einwenden.

Warum aber verschmäht es Benz offensichtlich, über die Richtlinien seiner
Neudrucke Auskunft zu geben? Satzbau und Wortstellung sollen beibehalten
werden. Das wäre für den bloß aufnehmenden Leser allein schließlich kein
Bedürfnis. Wo wird also modernisiert? In welchen Fällen greift der Heraus¬
geber ein, um den alten Text verständlicher zu machen? Das läßt sich aus
der kurzen Probe nicht ablesen.^ Eine knappe Darlegung über die Prinzipien
der Textgestaltung, über das Verhältnis des Neudrucks zum zugrunde gelegten
Text der Handschrift oder des Druckes könnte den Wert der neuen Ausgabe
rasch und beträchtlich erhöhen. Dann dürfte man Benz' Volksbücher nicht
nur für den genießenden Leser mit Vergnügen begrüßen, sie könnten auch im
wissenschaftlichen Betriebe ein längst entbehrtes Hilfsmittel darbieten. Das er¬
wünschte Ziel scheint mir unschwer zu erreichen.




"Till Eulenspiegel" (3 Mark), "Fortunati Glückseckel und Wünschhütlein" (4 Mary. <Verlag
Eugen Diederichs, Jena). -- In einem Büchlein von wenigen Bogen "Die Deutschen Volks¬
bücher, ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung" (ebenda) legt Benz seine Ansicht über
die Stellung der Volksbücher im Kreise der übrigen deutschen Literatur vor. Viele anregende
Gedanken machen das Werk lesenswert. Am auffallendsten wird jedermann die geringe Ein¬
schätzung und Beurteilung ja Miszschätzung und Verurteilung des Ritterromans, der höfischen
Epik sein, "die weder formal noch inhaltlich Ausdruck der mittelalterlichen Weltanschauung"
gewesen sei, der die Prosaauflösung als befreiende Tat folgte. Dieses von der herrschenden
Auffassung der Literaturgeschichte nicht ohne Grund abweichende Urteil kann Benz mit dem
Ausspruch keines geringeren als Wilhelm Grimms belegen. Die Erläuterung, die Benz zum Begriff "Prosa" gibt, verkennt die reine Prosaform.
Benz verlangt von der dichterischen Prosa, daß sie auf einen anderen Ton hinauf¬
gestimmt sei, als den der täglichen Rede, "auf den dauernd gehobenen Ton, in dem
jedes Wort mit anderem Klang und anderer Betontheit andere Inhalte offenbart, als die
gewöhnliche begriffliche Mitteilung von Mensch zu Mensch sie zu geben vermag" (S. 25).
Diese Definition stimmt nur für die der Poesie schon angenäherte Form der Prosa. Die
altnordische Prosa ist Alltagsrede.
Altnordische und altdeutsche Prosa

marktsheftchen bis zu diesen sauberen, schönen Drucken! Die Ausgabe be¬
deutet auch inhaltlich keinen geringen Fortschritt. Es ist nach der bei¬
gegebenen Probe kein Zweifel, daß der hier dargebotene Text dem ursprüng¬
lichen gerechter wird, als etwa die reinigende Verwässerung von Schwab oder
die breite Modernisierung Simrocks. Benz will, „was von dem Alten noch
als Ganzes dichterisch für die Dauer lebendig sein kann, nun wieder lesbar
machen." Dabei verzichtet er auf philologisch getreue Wiedergabe, er läßt viel¬
mehr programmäßig alles fallen, „was der Philolog für seine wissenschaftlichen
Zwecke gerade bewahren muß." Das ist ein möglicher Standpunkt, denn eine
Erneuerung für den modernen Leser hat ihre volle Berechtigung und gegen die
bloße Umschreibung in unsere Schriftsprache wird man nichts einwenden.

Warum aber verschmäht es Benz offensichtlich, über die Richtlinien seiner
Neudrucke Auskunft zu geben? Satzbau und Wortstellung sollen beibehalten
werden. Das wäre für den bloß aufnehmenden Leser allein schließlich kein
Bedürfnis. Wo wird also modernisiert? In welchen Fällen greift der Heraus¬
geber ein, um den alten Text verständlicher zu machen? Das läßt sich aus
der kurzen Probe nicht ablesen.^ Eine knappe Darlegung über die Prinzipien
der Textgestaltung, über das Verhältnis des Neudrucks zum zugrunde gelegten
Text der Handschrift oder des Druckes könnte den Wert der neuen Ausgabe
rasch und beträchtlich erhöhen. Dann dürfte man Benz' Volksbücher nicht
nur für den genießenden Leser mit Vergnügen begrüßen, sie könnten auch im
wissenschaftlichen Betriebe ein längst entbehrtes Hilfsmittel darbieten. Das er¬
wünschte Ziel scheint mir unschwer zu erreichen.




„Till Eulenspiegel" (3 Mark), „Fortunati Glückseckel und Wünschhütlein" (4 Mary. <Verlag
Eugen Diederichs, Jena). — In einem Büchlein von wenigen Bogen „Die Deutschen Volks¬
bücher, ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung" (ebenda) legt Benz seine Ansicht über
die Stellung der Volksbücher im Kreise der übrigen deutschen Literatur vor. Viele anregende
Gedanken machen das Werk lesenswert. Am auffallendsten wird jedermann die geringe Ein¬
schätzung und Beurteilung ja Miszschätzung und Verurteilung des Ritterromans, der höfischen
Epik sein, „die weder formal noch inhaltlich Ausdruck der mittelalterlichen Weltanschauung"
gewesen sei, der die Prosaauflösung als befreiende Tat folgte. Dieses von der herrschenden
Auffassung der Literaturgeschichte nicht ohne Grund abweichende Urteil kann Benz mit dem
Ausspruch keines geringeren als Wilhelm Grimms belegen. Die Erläuterung, die Benz zum Begriff „Prosa" gibt, verkennt die reine Prosaform.
Benz verlangt von der dichterischen Prosa, daß sie auf einen anderen Ton hinauf¬
gestimmt sei, als den der täglichen Rede, „auf den dauernd gehobenen Ton, in dem
jedes Wort mit anderem Klang und anderer Betontheit andere Inhalte offenbart, als die
gewöhnliche begriffliche Mitteilung von Mensch zu Mensch sie zu geben vermag" (S. 25).
Diese Definition stimmt nur für die der Poesie schon angenäherte Form der Prosa. Die
altnordische Prosa ist Alltagsrede.
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[0129] Altnordische und altdeutsche Prosa marktsheftchen bis zu diesen sauberen, schönen Drucken! Die Ausgabe be¬ deutet auch inhaltlich keinen geringen Fortschritt. Es ist nach der bei¬ gegebenen Probe kein Zweifel, daß der hier dargebotene Text dem ursprüng¬ lichen gerechter wird, als etwa die reinigende Verwässerung von Schwab oder die breite Modernisierung Simrocks. Benz will, „was von dem Alten noch als Ganzes dichterisch für die Dauer lebendig sein kann, nun wieder lesbar machen." Dabei verzichtet er auf philologisch getreue Wiedergabe, er läßt viel¬ mehr programmäßig alles fallen, „was der Philolog für seine wissenschaftlichen Zwecke gerade bewahren muß." Das ist ein möglicher Standpunkt, denn eine Erneuerung für den modernen Leser hat ihre volle Berechtigung und gegen die bloße Umschreibung in unsere Schriftsprache wird man nichts einwenden. Warum aber verschmäht es Benz offensichtlich, über die Richtlinien seiner Neudrucke Auskunft zu geben? Satzbau und Wortstellung sollen beibehalten werden. Das wäre für den bloß aufnehmenden Leser allein schließlich kein Bedürfnis. Wo wird also modernisiert? In welchen Fällen greift der Heraus¬ geber ein, um den alten Text verständlicher zu machen? Das läßt sich aus der kurzen Probe nicht ablesen.^ Eine knappe Darlegung über die Prinzipien der Textgestaltung, über das Verhältnis des Neudrucks zum zugrunde gelegten Text der Handschrift oder des Druckes könnte den Wert der neuen Ausgabe rasch und beträchtlich erhöhen. Dann dürfte man Benz' Volksbücher nicht nur für den genießenden Leser mit Vergnügen begrüßen, sie könnten auch im wissenschaftlichen Betriebe ein längst entbehrtes Hilfsmittel darbieten. Das er¬ wünschte Ziel scheint mir unschwer zu erreichen. „Till Eulenspiegel" (3 Mark), „Fortunati Glückseckel und Wünschhütlein" (4 Mary. <Verlag Eugen Diederichs, Jena). — In einem Büchlein von wenigen Bogen „Die Deutschen Volks¬ bücher, ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung" (ebenda) legt Benz seine Ansicht über die Stellung der Volksbücher im Kreise der übrigen deutschen Literatur vor. Viele anregende Gedanken machen das Werk lesenswert. Am auffallendsten wird jedermann die geringe Ein¬ schätzung und Beurteilung ja Miszschätzung und Verurteilung des Ritterromans, der höfischen Epik sein, „die weder formal noch inhaltlich Ausdruck der mittelalterlichen Weltanschauung" gewesen sei, der die Prosaauflösung als befreiende Tat folgte. Dieses von der herrschenden Auffassung der Literaturgeschichte nicht ohne Grund abweichende Urteil kann Benz mit dem Ausspruch keines geringeren als Wilhelm Grimms belegen. Die Erläuterung, die Benz zum Begriff „Prosa" gibt, verkennt die reine Prosaform. Benz verlangt von der dichterischen Prosa, daß sie auf einen anderen Ton hinauf¬ gestimmt sei, als den der täglichen Rede, „auf den dauernd gehobenen Ton, in dem jedes Wort mit anderem Klang und anderer Betontheit andere Inhalte offenbart, als die gewöhnliche begriffliche Mitteilung von Mensch zu Mensch sie zu geben vermag" (S. 25). Diese Definition stimmt nur für die der Poesie schon angenäherte Form der Prosa. Die altnordische Prosa ist Alltagsrede.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/129>, abgerufen am 15.06.2024.