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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosa

Weise aus ("die schöne Agrippina", "ihr schöner Leib"), zumal in Anreden ("o
tugendreicher schöner Ritter"), oder es bezeichnet eine noch nicht bekannte Eigenschaft
des Hauptwortes ("ein wilder Wald", wo im Nordischen ein eigener Satz an
die Stelle des Beiwortes treten müßte, also etwa: "ein Wald, der wild war").
Epitheta werden gerne gehäuft, insonderheit ist die Zweigliedrigkeit beliebt, die
auch sonst -- wohl nach lateinischen Muster -- mit Vorliebe geübt ist, z. B. um
einen Begriff durch zwei Wörter zu umschreiben: "euren Willen und Hartnäckigkeit."

Direkte Rede ist sehr häufig, häufiger aber im Monolog als im Dialog.
Auch der Übergang von der indirekten Rede zur direkten, die ein besonderes
Kennzeichen der altnordischen Prosa ist, findet sich; selten freilich so unmittelbar
wie dort: " . . . gedacht in seinem Herzenleid, er könnt nit bessers
anfangen denn zu seinem Bruder reiten. ,Und dem werd ich ein unwürdiger
Gast, so ich ohn den Seckel komme/ . . ." Der Monolog herrscht zumal als
reflektierender, rekapitulierender Ausdruck der Gedanken, als moralische Selbst¬
betrachtung, als plänesinnende Überlegung, ganz nach Art des theatralischen
Monologs, der sich nur an die Hörer (Leser) richtet. Der Monolog, der nicht
selten in Gebetform übergeht, wird unbefangen eingeleitet mit einem "er gedachte
ihm" oder "er sagte in seinem Herzen". Bei wiederholten Reden, Aufträgen
und dergleichen ist die Wiederholung des Wortlautes eher angestrebt als
vermieden, der anaphorische Gleichlauf der Sätze ist auch sonst häufig, eine
Stilqualität, die besonders dem Märchen eignet.

Wie die altnordische Prosa eine mit Vorliebe parataktisch geformte Sprache
zeigt, kurze Hauptsätze, die das Nomen bevorzugen, eine Sprache, die nie über
knappe Perioden hinausgreift, so zeigt sich in der Prosa der Volksbücher aus¬
gesprochene Vorliebe für reiche Periodisierung, für umfängliche, wohlgefügte
Satzgebäude mit zahlreichen eingeschobenen Nebensätzen. Insbesondere charakte¬
ristisch ist die syntaktische Ordnung durch korrelative Verknüpfung, immer kehrt der
mit an> eingeleitete Satz wieder.

Im ganzen: die Prosa der Jsländersaga ist mit der Prosa der Deutschen
Volksbücher ohne Rücksicht auf die verschiedenartigen Voraussetzungen nicht ver¬
gleichbar. So weit aber die altnordische Prosa von der deutschen absteht, so
weit steht wieder die altdeutsche Prosa von der Prosa unserer Tage ab. Diese
Veränderung hat zu nicht geringem Teile der Humanismus verschuldet, der die
Naivität der Erzählung noch weiter zurückdrängt, die Reflexion aber und das
moralische Bedürfnis noch weiter nach vorne rückte.




Eine neue Ausgabe*) der Deutschen Volksbücher ist von Richard Benz
unternommen worden. Welcher Weg von den schlechten löschpapiernen Jahr-



") Die neue Ausgabe soll neunzehn Bändchen umfassen, von denen bisher fünf sorg-
fältig gedruckte und mit Geschmack ausgestattete Pappbände erschienen sind: "Die sieben weisen
Meister" (Preis 2 Mary, "v. Johann Faustus" (3 Mark), "Tristan und Jsalde" (3 Mary.
Altnordische und altdeutsche Prosa

Weise aus („die schöne Agrippina", „ihr schöner Leib"), zumal in Anreden („o
tugendreicher schöner Ritter"), oder es bezeichnet eine noch nicht bekannte Eigenschaft
des Hauptwortes („ein wilder Wald", wo im Nordischen ein eigener Satz an
die Stelle des Beiwortes treten müßte, also etwa: „ein Wald, der wild war").
Epitheta werden gerne gehäuft, insonderheit ist die Zweigliedrigkeit beliebt, die
auch sonst — wohl nach lateinischen Muster — mit Vorliebe geübt ist, z. B. um
einen Begriff durch zwei Wörter zu umschreiben: „euren Willen und Hartnäckigkeit."

Direkte Rede ist sehr häufig, häufiger aber im Monolog als im Dialog.
Auch der Übergang von der indirekten Rede zur direkten, die ein besonderes
Kennzeichen der altnordischen Prosa ist, findet sich; selten freilich so unmittelbar
wie dort: „ . . . gedacht in seinem Herzenleid, er könnt nit bessers
anfangen denn zu seinem Bruder reiten. ,Und dem werd ich ein unwürdiger
Gast, so ich ohn den Seckel komme/ . . ." Der Monolog herrscht zumal als
reflektierender, rekapitulierender Ausdruck der Gedanken, als moralische Selbst¬
betrachtung, als plänesinnende Überlegung, ganz nach Art des theatralischen
Monologs, der sich nur an die Hörer (Leser) richtet. Der Monolog, der nicht
selten in Gebetform übergeht, wird unbefangen eingeleitet mit einem „er gedachte
ihm" oder „er sagte in seinem Herzen". Bei wiederholten Reden, Aufträgen
und dergleichen ist die Wiederholung des Wortlautes eher angestrebt als
vermieden, der anaphorische Gleichlauf der Sätze ist auch sonst häufig, eine
Stilqualität, die besonders dem Märchen eignet.

Wie die altnordische Prosa eine mit Vorliebe parataktisch geformte Sprache
zeigt, kurze Hauptsätze, die das Nomen bevorzugen, eine Sprache, die nie über
knappe Perioden hinausgreift, so zeigt sich in der Prosa der Volksbücher aus¬
gesprochene Vorliebe für reiche Periodisierung, für umfängliche, wohlgefügte
Satzgebäude mit zahlreichen eingeschobenen Nebensätzen. Insbesondere charakte¬
ristisch ist die syntaktische Ordnung durch korrelative Verknüpfung, immer kehrt der
mit an> eingeleitete Satz wieder.

Im ganzen: die Prosa der Jsländersaga ist mit der Prosa der Deutschen
Volksbücher ohne Rücksicht auf die verschiedenartigen Voraussetzungen nicht ver¬
gleichbar. So weit aber die altnordische Prosa von der deutschen absteht, so
weit steht wieder die altdeutsche Prosa von der Prosa unserer Tage ab. Diese
Veränderung hat zu nicht geringem Teile der Humanismus verschuldet, der die
Naivität der Erzählung noch weiter zurückdrängt, die Reflexion aber und das
moralische Bedürfnis noch weiter nach vorne rückte.




Eine neue Ausgabe*) der Deutschen Volksbücher ist von Richard Benz
unternommen worden. Welcher Weg von den schlechten löschpapiernen Jahr-



") Die neue Ausgabe soll neunzehn Bändchen umfassen, von denen bisher fünf sorg-
fältig gedruckte und mit Geschmack ausgestattete Pappbände erschienen sind: „Die sieben weisen
Meister" (Preis 2 Mary, „v. Johann Faustus" (3 Mark), „Tristan und Jsalde" (3 Mary.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/128>, abgerufen am 15.06.2024.