Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

destoweniger erkennt die Psychiatrie auch bei ihr Dämmerzustände an, und wir
haben erst aus den Verhandlungen des jüngst vergangenen Prozesses über den
Mord im Tiergarten ersehen können, daß sie vor Gericht als strafmildernder
Umstand zur Geltung gebracht werden können.

Ich nehme an, die bisherigen, aus dem großen Gebiete der Psychiatrie
willkürlich herausgegriffenen Beispiele werden genügt haben, um den Eindruck
zu erwecken, daß die Zahl der möglichen Anwendungen des Z 51 eine recht
große ist. Das ist aber noch lange nicht alles.

Ungefähr zur selben Zeit, als unser Strafgesetzbuch geschaffen wurde, be¬
gann eine Bewegung, die sich seither unter dem Namen der Kriminalanthro¬
pologie längst zu einem großen, weitverzweigten Forschungsgebiete ausgewachsen
hat, und die neben vielen neuen Kenntnissen auch viele neue Schwierigkeiten
für die Handhabung des Z 51 mit sich brachte. Als den Vater dieser Be¬
wegung bezeichnet man trotz mancher Vorläufer den Italiener Cesare Lombroso,
der anfangs der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in kleineren Arbeiten
und 1885 in einem seither weitverbreiteten Buche seine Lehre vom An>me>
clelinczuente, dem geborenen Verbrecher, aufstellte und begeistert verteidigte.
Auf Grund jahrzehntelanger, mühsamer Studien gelangte er zu dem Ergebnis,
daß der Verbrecher in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zu seiner Lauf¬
bahn durch seine natürliche Veranlagung prädestiniert sei, und zwar kennzeichnet
sich die Verbrechernatur durch eine mangelhafte oder völlig unterbliebene Aus¬
bildung der höheren, sozialen Instinkte, so daß bei einem solchen Menschen die
niederen, egoistischen, antisozialen Instinkte kein genügendes Gegengewicht finden.
Es handelt sich also beim Verbrecher im allgemeinen um einen Defekt, der
sich in der großen Mehrzahl der Fälle auch auf anderen Gebieten geltend macht.

Ja sogar an seinem Körper weist der Verbrecher häufig gewisse Zeichen
auf, die den Verdacht, es handle sich um einen Komo clelinquens, rege zu
machen geeignet sind. Das sind die seit Morel sogenannten Entartungszeichen:
schiefer Schädel, fliehende Stirn, abstehende Ohren, falsche Zahnstellung, ver¬
bildeter Gaumen, überzählige Glieder und vieles andere. Alles dies sind Zeichen,
die sich auch an normalen Menschen finden, von denen aber die Erfahrung
gelehrt hat, daß sie bei Verbrechern weit häufiger angetroffen werden.

Ungemein verbreitet sind auch unter den Verbrechern Defekte der In¬
telligenz, die um so ausgesprochener zu sein pflegen, je roher das Verbrechen.
Das geht so weit, daß wirklich kluge Menschen nur sehr selten unter den Ver¬
brechern gefunden werden, während ein gewisser Grad von Schlauheit bei ihnen
ziemlich weit verbreitet ist. Es kennzeichnet sich deshalb im allgemeinen der
Verbrecher als ein Augenblicksmensch, der schon deshalb nicht die Fähigkeit
hat, nach allgemeinen Normen der Verrinnst und der Moral zu handeln, weil
er nicht genügend Verstand und Gefühl besitzt, um solche in sich auszubilden.

Bei einer gewissen Klasse endlich fehlt es nicht einmal an Verstand,
sondern nur an dem sozialen Gefühl und dem ethischen Urteilsvermögen. Man


Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

destoweniger erkennt die Psychiatrie auch bei ihr Dämmerzustände an, und wir
haben erst aus den Verhandlungen des jüngst vergangenen Prozesses über den
Mord im Tiergarten ersehen können, daß sie vor Gericht als strafmildernder
Umstand zur Geltung gebracht werden können.

Ich nehme an, die bisherigen, aus dem großen Gebiete der Psychiatrie
willkürlich herausgegriffenen Beispiele werden genügt haben, um den Eindruck
zu erwecken, daß die Zahl der möglichen Anwendungen des Z 51 eine recht
große ist. Das ist aber noch lange nicht alles.

Ungefähr zur selben Zeit, als unser Strafgesetzbuch geschaffen wurde, be¬
gann eine Bewegung, die sich seither unter dem Namen der Kriminalanthro¬
pologie längst zu einem großen, weitverzweigten Forschungsgebiete ausgewachsen
hat, und die neben vielen neuen Kenntnissen auch viele neue Schwierigkeiten
für die Handhabung des Z 51 mit sich brachte. Als den Vater dieser Be¬
wegung bezeichnet man trotz mancher Vorläufer den Italiener Cesare Lombroso,
der anfangs der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in kleineren Arbeiten
und 1885 in einem seither weitverbreiteten Buche seine Lehre vom An>me>
clelinczuente, dem geborenen Verbrecher, aufstellte und begeistert verteidigte.
Auf Grund jahrzehntelanger, mühsamer Studien gelangte er zu dem Ergebnis,
daß der Verbrecher in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zu seiner Lauf¬
bahn durch seine natürliche Veranlagung prädestiniert sei, und zwar kennzeichnet
sich die Verbrechernatur durch eine mangelhafte oder völlig unterbliebene Aus¬
bildung der höheren, sozialen Instinkte, so daß bei einem solchen Menschen die
niederen, egoistischen, antisozialen Instinkte kein genügendes Gegengewicht finden.
Es handelt sich also beim Verbrecher im allgemeinen um einen Defekt, der
sich in der großen Mehrzahl der Fälle auch auf anderen Gebieten geltend macht.

Ja sogar an seinem Körper weist der Verbrecher häufig gewisse Zeichen
auf, die den Verdacht, es handle sich um einen Komo clelinquens, rege zu
machen geeignet sind. Das sind die seit Morel sogenannten Entartungszeichen:
schiefer Schädel, fliehende Stirn, abstehende Ohren, falsche Zahnstellung, ver¬
bildeter Gaumen, überzählige Glieder und vieles andere. Alles dies sind Zeichen,
die sich auch an normalen Menschen finden, von denen aber die Erfahrung
gelehrt hat, daß sie bei Verbrechern weit häufiger angetroffen werden.

Ungemein verbreitet sind auch unter den Verbrechern Defekte der In¬
telligenz, die um so ausgesprochener zu sein pflegen, je roher das Verbrechen.
Das geht so weit, daß wirklich kluge Menschen nur sehr selten unter den Ver¬
brechern gefunden werden, während ein gewisser Grad von Schlauheit bei ihnen
ziemlich weit verbreitet ist. Es kennzeichnet sich deshalb im allgemeinen der
Verbrecher als ein Augenblicksmensch, der schon deshalb nicht die Fähigkeit
hat, nach allgemeinen Normen der Verrinnst und der Moral zu handeln, weil
er nicht genügend Verstand und Gefühl besitzt, um solche in sich auszubilden.

Bei einer gewissen Klasse endlich fehlt es nicht einmal an Verstand,
sondern nur an dem sozialen Gefühl und dem ethischen Urteilsvermögen. Man


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328236"/>
          <fw type="header" place="top"> Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_579" prev="#ID_578"> destoweniger erkennt die Psychiatrie auch bei ihr Dämmerzustände an, und wir<lb/>
haben erst aus den Verhandlungen des jüngst vergangenen Prozesses über den<lb/>
Mord im Tiergarten ersehen können, daß sie vor Gericht als strafmildernder<lb/>
Umstand zur Geltung gebracht werden können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_580"> Ich nehme an, die bisherigen, aus dem großen Gebiete der Psychiatrie<lb/>
willkürlich herausgegriffenen Beispiele werden genügt haben, um den Eindruck<lb/>
zu erwecken, daß die Zahl der möglichen Anwendungen des Z 51 eine recht<lb/>
große ist.  Das ist aber noch lange nicht alles.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_581"> Ungefähr zur selben Zeit, als unser Strafgesetzbuch geschaffen wurde, be¬<lb/>
gann eine Bewegung, die sich seither unter dem Namen der Kriminalanthro¬<lb/>
pologie längst zu einem großen, weitverzweigten Forschungsgebiete ausgewachsen<lb/>
hat, und die neben vielen neuen Kenntnissen auch viele neue Schwierigkeiten<lb/>
für die Handhabung des Z 51 mit sich brachte. Als den Vater dieser Be¬<lb/>
wegung bezeichnet man trotz mancher Vorläufer den Italiener Cesare Lombroso,<lb/>
der anfangs der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in kleineren Arbeiten<lb/>
und 1885 in einem seither weitverbreiteten Buche seine Lehre vom An&gt;me&gt;<lb/>
clelinczuente, dem geborenen Verbrecher, aufstellte und begeistert verteidigte.<lb/>
Auf Grund jahrzehntelanger, mühsamer Studien gelangte er zu dem Ergebnis,<lb/>
daß der Verbrecher in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zu seiner Lauf¬<lb/>
bahn durch seine natürliche Veranlagung prädestiniert sei, und zwar kennzeichnet<lb/>
sich die Verbrechernatur durch eine mangelhafte oder völlig unterbliebene Aus¬<lb/>
bildung der höheren, sozialen Instinkte, so daß bei einem solchen Menschen die<lb/>
niederen, egoistischen, antisozialen Instinkte kein genügendes Gegengewicht finden.<lb/>
Es handelt sich also beim Verbrecher im allgemeinen um einen Defekt, der<lb/>
sich in der großen Mehrzahl der Fälle auch auf anderen Gebieten geltend macht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_582"> Ja sogar an seinem Körper weist der Verbrecher häufig gewisse Zeichen<lb/>
auf, die den Verdacht, es handle sich um einen Komo clelinquens, rege zu<lb/>
machen geeignet sind. Das sind die seit Morel sogenannten Entartungszeichen:<lb/>
schiefer Schädel, fliehende Stirn, abstehende Ohren, falsche Zahnstellung, ver¬<lb/>
bildeter Gaumen, überzählige Glieder und vieles andere. Alles dies sind Zeichen,<lb/>
die sich auch an normalen Menschen finden, von denen aber die Erfahrung<lb/>
gelehrt hat, daß sie bei Verbrechern weit häufiger angetroffen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_583"> Ungemein verbreitet sind auch unter den Verbrechern Defekte der In¬<lb/>
telligenz, die um so ausgesprochener zu sein pflegen, je roher das Verbrechen.<lb/>
Das geht so weit, daß wirklich kluge Menschen nur sehr selten unter den Ver¬<lb/>
brechern gefunden werden, während ein gewisser Grad von Schlauheit bei ihnen<lb/>
ziemlich weit verbreitet ist. Es kennzeichnet sich deshalb im allgemeinen der<lb/>
Verbrecher als ein Augenblicksmensch, der schon deshalb nicht die Fähigkeit<lb/>
hat, nach allgemeinen Normen der Verrinnst und der Moral zu handeln, weil<lb/>
er nicht genügend Verstand und Gefühl besitzt, um solche in sich auszubilden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_584" next="#ID_585"> Bei einer gewissen Klasse endlich fehlt es nicht einmal an Verstand,<lb/>
sondern nur an dem sozialen Gefühl und dem ethischen Urteilsvermögen. Man</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0136] Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht destoweniger erkennt die Psychiatrie auch bei ihr Dämmerzustände an, und wir haben erst aus den Verhandlungen des jüngst vergangenen Prozesses über den Mord im Tiergarten ersehen können, daß sie vor Gericht als strafmildernder Umstand zur Geltung gebracht werden können. Ich nehme an, die bisherigen, aus dem großen Gebiete der Psychiatrie willkürlich herausgegriffenen Beispiele werden genügt haben, um den Eindruck zu erwecken, daß die Zahl der möglichen Anwendungen des Z 51 eine recht große ist. Das ist aber noch lange nicht alles. Ungefähr zur selben Zeit, als unser Strafgesetzbuch geschaffen wurde, be¬ gann eine Bewegung, die sich seither unter dem Namen der Kriminalanthro¬ pologie längst zu einem großen, weitverzweigten Forschungsgebiete ausgewachsen hat, und die neben vielen neuen Kenntnissen auch viele neue Schwierigkeiten für die Handhabung des Z 51 mit sich brachte. Als den Vater dieser Be¬ wegung bezeichnet man trotz mancher Vorläufer den Italiener Cesare Lombroso, der anfangs der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in kleineren Arbeiten und 1885 in einem seither weitverbreiteten Buche seine Lehre vom An>me> clelinczuente, dem geborenen Verbrecher, aufstellte und begeistert verteidigte. Auf Grund jahrzehntelanger, mühsamer Studien gelangte er zu dem Ergebnis, daß der Verbrecher in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zu seiner Lauf¬ bahn durch seine natürliche Veranlagung prädestiniert sei, und zwar kennzeichnet sich die Verbrechernatur durch eine mangelhafte oder völlig unterbliebene Aus¬ bildung der höheren, sozialen Instinkte, so daß bei einem solchen Menschen die niederen, egoistischen, antisozialen Instinkte kein genügendes Gegengewicht finden. Es handelt sich also beim Verbrecher im allgemeinen um einen Defekt, der sich in der großen Mehrzahl der Fälle auch auf anderen Gebieten geltend macht. Ja sogar an seinem Körper weist der Verbrecher häufig gewisse Zeichen auf, die den Verdacht, es handle sich um einen Komo clelinquens, rege zu machen geeignet sind. Das sind die seit Morel sogenannten Entartungszeichen: schiefer Schädel, fliehende Stirn, abstehende Ohren, falsche Zahnstellung, ver¬ bildeter Gaumen, überzählige Glieder und vieles andere. Alles dies sind Zeichen, die sich auch an normalen Menschen finden, von denen aber die Erfahrung gelehrt hat, daß sie bei Verbrechern weit häufiger angetroffen werden. Ungemein verbreitet sind auch unter den Verbrechern Defekte der In¬ telligenz, die um so ausgesprochener zu sein pflegen, je roher das Verbrechen. Das geht so weit, daß wirklich kluge Menschen nur sehr selten unter den Ver¬ brechern gefunden werden, während ein gewisser Grad von Schlauheit bei ihnen ziemlich weit verbreitet ist. Es kennzeichnet sich deshalb im allgemeinen der Verbrecher als ein Augenblicksmensch, der schon deshalb nicht die Fähigkeit hat, nach allgemeinen Normen der Verrinnst und der Moral zu handeln, weil er nicht genügend Verstand und Gefühl besitzt, um solche in sich auszubilden. Bei einer gewissen Klasse endlich fehlt es nicht einmal an Verstand, sondern nur an dem sozialen Gefühl und dem ethischen Urteilsvermögen. Man

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/136
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/136>, abgerufen am 15.06.2024.