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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

bezeichnet das nach dem Vorgange des Engländers Prichard als moral in-
LÄliit^. einen Zustand, für den die Großen der Renaissance, die natale8ta,
ßorZia und andere, die treffendsten Beispiele stellen.

Da sich unter die Rubrik des moralischen Defektzustandes schließlich jeder
Rechtsbrecher einreihen läßt, an dem keine andere Geisteskrankheit nachzuweisen
ist, so hat das Reichsgericht diesem Zustande seine Anerkennung verweigert,
es sei denn, daß auch anderweitig der Beweis der geistigen Störung erbracht
werden kann.

Ohne auf die mutmaßlichen Ursachen der Entartung, unter denen der
Alkoholismus eine ebenso große wie traurige Rolle spielt, einzugehen, wollen
wir uns nun vielmehr vergegenwärtigen, was wir aus dem bisher Geschöpften
für die Abgrenzung der "krankhaften Störung der Geistestätigkeit" gelernt
haben. Und da hoffe ich, daß es meinen Ausführungen gelungen ist, diese
Grenze so undeutlich zu zeigen, wie sie in Wirklichkeit ist.

Schon bei körperlichen Zuständen ist es oft schwer, zu entscheiden, wo das
Gesunde aufhört, obgleich wir doch hier das Kriterium in der Hand haben,
daß jede Krankheit die Lebensfähigkeit des Organismus herabsetzt. Dieser Ma߬
stab läßt sich aber auf das geistige Gebiet höchstens in extremen Fällen an¬
wenden, da hier die zum bloßen individuellen Leben nötige Ausbildung der
Geisteskräfte nur einen minimalen Bruchteil des Erreichbaren und auch des im
Durchschnitt Erreichten darstellt. Die unüberwindliche Schwierigkeit ist also die,
daß wir nicht mit auch nur annähernder Bestimmtheit anzugeben wissen, was
denn als geistig normal zu bezeichnen sei, eine Frage, auf die auch für ein
und dieselbe Person die Antwort ganz verschieden ausfallen dürfte, je nachdem
sie von einem Mathematiker oder einem Musiker oder einem Tierbändiger ab¬
gegeben werden sollte.

Die Dinge liegen daher so, daß zwar in sehr vielen Fällen der ärztliche
Sachverständige das Bestehen einer geistigen Störung einwandfrei wird nach¬
weisen können -- finden sich doch unter den Verbrechern zehmal soviel Geistes¬
kranke, als unter der nicht kriminellen Bevölkerung. Schon bei den Dämmer¬
zuständen fällt der glatte Beweis, daß während der Begehung der Tat ein
solcher vorhanden war, oft schwer, und man wird sich dann damit begnügen
müssen, die Möglichkeit eines solchen nachzuweisen.

Dann aber bleibt noch eine große Anzahl von Fällen übrig, bei denen
uns die psychiatrische Wissenschaft keinen Anhalt dafür in die Hand gibt, ob
man das von der Norm abweichende Verhalten eines Rechtsbrechers --
schließlich hat sich ja jeder solche über die im allgemeinen für unser Handeln
gültigen Normen hinweggesetzt -- als krankhaft bezeichnen solle, oder nicht.
In diesen Fällen entscheidet dann weniger der Arzt als der Mensch, und das
Resultat wird verschieden ausfallen, je nach den Anschauungen, die sich der Gut¬
achter -- allerdings zum Teil auf Grund seiner durch die Praxis vertieften
Menschenkenntnis -- von dem Zwang der Motive, dem Druck der Verhältnisse


Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

bezeichnet das nach dem Vorgange des Engländers Prichard als moral in-
LÄliit^. einen Zustand, für den die Großen der Renaissance, die natale8ta,
ßorZia und andere, die treffendsten Beispiele stellen.

Da sich unter die Rubrik des moralischen Defektzustandes schließlich jeder
Rechtsbrecher einreihen läßt, an dem keine andere Geisteskrankheit nachzuweisen
ist, so hat das Reichsgericht diesem Zustande seine Anerkennung verweigert,
es sei denn, daß auch anderweitig der Beweis der geistigen Störung erbracht
werden kann.

Ohne auf die mutmaßlichen Ursachen der Entartung, unter denen der
Alkoholismus eine ebenso große wie traurige Rolle spielt, einzugehen, wollen
wir uns nun vielmehr vergegenwärtigen, was wir aus dem bisher Geschöpften
für die Abgrenzung der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit" gelernt
haben. Und da hoffe ich, daß es meinen Ausführungen gelungen ist, diese
Grenze so undeutlich zu zeigen, wie sie in Wirklichkeit ist.

Schon bei körperlichen Zuständen ist es oft schwer, zu entscheiden, wo das
Gesunde aufhört, obgleich wir doch hier das Kriterium in der Hand haben,
daß jede Krankheit die Lebensfähigkeit des Organismus herabsetzt. Dieser Ma߬
stab läßt sich aber auf das geistige Gebiet höchstens in extremen Fällen an¬
wenden, da hier die zum bloßen individuellen Leben nötige Ausbildung der
Geisteskräfte nur einen minimalen Bruchteil des Erreichbaren und auch des im
Durchschnitt Erreichten darstellt. Die unüberwindliche Schwierigkeit ist also die,
daß wir nicht mit auch nur annähernder Bestimmtheit anzugeben wissen, was
denn als geistig normal zu bezeichnen sei, eine Frage, auf die auch für ein
und dieselbe Person die Antwort ganz verschieden ausfallen dürfte, je nachdem
sie von einem Mathematiker oder einem Musiker oder einem Tierbändiger ab¬
gegeben werden sollte.

Die Dinge liegen daher so, daß zwar in sehr vielen Fällen der ärztliche
Sachverständige das Bestehen einer geistigen Störung einwandfrei wird nach¬
weisen können — finden sich doch unter den Verbrechern zehmal soviel Geistes¬
kranke, als unter der nicht kriminellen Bevölkerung. Schon bei den Dämmer¬
zuständen fällt der glatte Beweis, daß während der Begehung der Tat ein
solcher vorhanden war, oft schwer, und man wird sich dann damit begnügen
müssen, die Möglichkeit eines solchen nachzuweisen.

Dann aber bleibt noch eine große Anzahl von Fällen übrig, bei denen
uns die psychiatrische Wissenschaft keinen Anhalt dafür in die Hand gibt, ob
man das von der Norm abweichende Verhalten eines Rechtsbrechers —
schließlich hat sich ja jeder solche über die im allgemeinen für unser Handeln
gültigen Normen hinweggesetzt — als krankhaft bezeichnen solle, oder nicht.
In diesen Fällen entscheidet dann weniger der Arzt als der Mensch, und das
Resultat wird verschieden ausfallen, je nach den Anschauungen, die sich der Gut¬
achter — allerdings zum Teil auf Grund seiner durch die Praxis vertieften
Menschenkenntnis — von dem Zwang der Motive, dem Druck der Verhältnisse


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[0137] Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht bezeichnet das nach dem Vorgange des Engländers Prichard als moral in- LÄliit^. einen Zustand, für den die Großen der Renaissance, die natale8ta, ßorZia und andere, die treffendsten Beispiele stellen. Da sich unter die Rubrik des moralischen Defektzustandes schließlich jeder Rechtsbrecher einreihen läßt, an dem keine andere Geisteskrankheit nachzuweisen ist, so hat das Reichsgericht diesem Zustande seine Anerkennung verweigert, es sei denn, daß auch anderweitig der Beweis der geistigen Störung erbracht werden kann. Ohne auf die mutmaßlichen Ursachen der Entartung, unter denen der Alkoholismus eine ebenso große wie traurige Rolle spielt, einzugehen, wollen wir uns nun vielmehr vergegenwärtigen, was wir aus dem bisher Geschöpften für die Abgrenzung der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit" gelernt haben. Und da hoffe ich, daß es meinen Ausführungen gelungen ist, diese Grenze so undeutlich zu zeigen, wie sie in Wirklichkeit ist. Schon bei körperlichen Zuständen ist es oft schwer, zu entscheiden, wo das Gesunde aufhört, obgleich wir doch hier das Kriterium in der Hand haben, daß jede Krankheit die Lebensfähigkeit des Organismus herabsetzt. Dieser Ma߬ stab läßt sich aber auf das geistige Gebiet höchstens in extremen Fällen an¬ wenden, da hier die zum bloßen individuellen Leben nötige Ausbildung der Geisteskräfte nur einen minimalen Bruchteil des Erreichbaren und auch des im Durchschnitt Erreichten darstellt. Die unüberwindliche Schwierigkeit ist also die, daß wir nicht mit auch nur annähernder Bestimmtheit anzugeben wissen, was denn als geistig normal zu bezeichnen sei, eine Frage, auf die auch für ein und dieselbe Person die Antwort ganz verschieden ausfallen dürfte, je nachdem sie von einem Mathematiker oder einem Musiker oder einem Tierbändiger ab¬ gegeben werden sollte. Die Dinge liegen daher so, daß zwar in sehr vielen Fällen der ärztliche Sachverständige das Bestehen einer geistigen Störung einwandfrei wird nach¬ weisen können — finden sich doch unter den Verbrechern zehmal soviel Geistes¬ kranke, als unter der nicht kriminellen Bevölkerung. Schon bei den Dämmer¬ zuständen fällt der glatte Beweis, daß während der Begehung der Tat ein solcher vorhanden war, oft schwer, und man wird sich dann damit begnügen müssen, die Möglichkeit eines solchen nachzuweisen. Dann aber bleibt noch eine große Anzahl von Fällen übrig, bei denen uns die psychiatrische Wissenschaft keinen Anhalt dafür in die Hand gibt, ob man das von der Norm abweichende Verhalten eines Rechtsbrechers — schließlich hat sich ja jeder solche über die im allgemeinen für unser Handeln gültigen Normen hinweggesetzt — als krankhaft bezeichnen solle, oder nicht. In diesen Fällen entscheidet dann weniger der Arzt als der Mensch, und das Resultat wird verschieden ausfallen, je nach den Anschauungen, die sich der Gut¬ achter — allerdings zum Teil auf Grund seiner durch die Praxis vertieften Menschenkenntnis — von dem Zwang der Motive, dem Druck der Verhältnisse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/137>, abgerufen am 15.06.2024.