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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Irrtümer

bauschen des Märchens materiellen Vorteil bringt. Daß aber ganz Deutschland
mit Berlin an der Spitze jahrelang unter der Hypnose einer solchen Mystifikation
stehen konnte, ist durchaus nicht begreiflich, wenn man weiß, daß in Petersburg
eine deutsche Botschaft existiert, daß es dort Korrespondenten der Berliner Presse
gibt und zwischen Petersburg und Berlin täglich allerlei enge Beziehungen
gepflogen werden. Trotz alledem fährr die Mär von der offiziösen und öffentlichen
Bedeutung des Nowoje Wremja fort, ihren verderblichen Einfluß auf die deutsch¬
russischen Beziehungen auszuüben.

Meine langjährige Lebenserfahrung läßt mir diese Mystifikation komisch
erscheinen, aber sie belehrt mich auch, daß das Komische gelegentlich ernst, ja
gefährlich werden kann. Man bedenke, daß eine Fliege in ihrem kleinen Rüssel
Jnfektionskeime bergen kann, die einem ganzen Lande verderblich werden.
So vermag auch eine durch Lügen vergiftete Fabel einen ganzen Volks¬
organismus zu durchdringen und die freundschaftlichen Beziehungen zweier
Reiche nicht nur abzukühlen, sondern sogar in feindselige zu verwandeln. In
letzter Zeit machen sich in Deutschland Anzeichen geltend, die mir in dieser
Auffassung recht geben. Wenn in Deutschland nicht die Ansicht bestünde, daß
das Nowoje Wremja nicht nur das Organ der öffentlichen Meinung, sondern auch
der offiziellen Kreise sei, würden die germanophoben Ideen dieser Zeitung
niemals vermocht haben, so stark zu wirken, um in zwei Organen der deutschen
Presse geradezu feindselige, ja sogar herausfordernde Artikel gegen Rußland zu
veranlassen. Diese Artikel der bedeutsamen Kölnischen Zeitung und des ver¬
breiteten Berliner Tageblatts*) haben in Petersburg verblüfft, da es
niemand in den Sinn gekommen war, Feindschaft gegen Deutschland zu hegen,
und am wenigsten hatte man in Regierungskreisen daran gedacht. Die Heeres¬
verstärkung in Rußland, die die deutschen Zeitungen als wichtigsten Anlaß ihrer
feindseligen Angriffe auf Rußland betrachteten, hatte die friedliche Stimmung
der Geister nicht im geringsten gestört, weil alle wußten, daß diese Rüstung
angesichts der Heeresverstärkung in Deutschland und Österreich von unserer Re¬
gierung als notwendig erachtet wurde in der hüben und drüben geltenden
Erkenntnis, daß die Aussicht auf dauernden Frieden um so größer, je besser
die Kriegsbereitschaft ist.

Ich muß gestehen, daß mich trotz der Nichtigkeit meiner obigen Ausführungen
nicht die kriegerischen Artikel dieser oder jener deutschen Zeitung gegen Rußland



") Wir vermögen nicht festzustellen, auf welchen Artikel des Berliner Tageblatts hier
Die Schriftleitung angespielt wird.
Irrtümer

bauschen des Märchens materiellen Vorteil bringt. Daß aber ganz Deutschland
mit Berlin an der Spitze jahrelang unter der Hypnose einer solchen Mystifikation
stehen konnte, ist durchaus nicht begreiflich, wenn man weiß, daß in Petersburg
eine deutsche Botschaft existiert, daß es dort Korrespondenten der Berliner Presse
gibt und zwischen Petersburg und Berlin täglich allerlei enge Beziehungen
gepflogen werden. Trotz alledem fährr die Mär von der offiziösen und öffentlichen
Bedeutung des Nowoje Wremja fort, ihren verderblichen Einfluß auf die deutsch¬
russischen Beziehungen auszuüben.

Meine langjährige Lebenserfahrung läßt mir diese Mystifikation komisch
erscheinen, aber sie belehrt mich auch, daß das Komische gelegentlich ernst, ja
gefährlich werden kann. Man bedenke, daß eine Fliege in ihrem kleinen Rüssel
Jnfektionskeime bergen kann, die einem ganzen Lande verderblich werden.
So vermag auch eine durch Lügen vergiftete Fabel einen ganzen Volks¬
organismus zu durchdringen und die freundschaftlichen Beziehungen zweier
Reiche nicht nur abzukühlen, sondern sogar in feindselige zu verwandeln. In
letzter Zeit machen sich in Deutschland Anzeichen geltend, die mir in dieser
Auffassung recht geben. Wenn in Deutschland nicht die Ansicht bestünde, daß
das Nowoje Wremja nicht nur das Organ der öffentlichen Meinung, sondern auch
der offiziellen Kreise sei, würden die germanophoben Ideen dieser Zeitung
niemals vermocht haben, so stark zu wirken, um in zwei Organen der deutschen
Presse geradezu feindselige, ja sogar herausfordernde Artikel gegen Rußland zu
veranlassen. Diese Artikel der bedeutsamen Kölnischen Zeitung und des ver¬
breiteten Berliner Tageblatts*) haben in Petersburg verblüfft, da es
niemand in den Sinn gekommen war, Feindschaft gegen Deutschland zu hegen,
und am wenigsten hatte man in Regierungskreisen daran gedacht. Die Heeres¬
verstärkung in Rußland, die die deutschen Zeitungen als wichtigsten Anlaß ihrer
feindseligen Angriffe auf Rußland betrachteten, hatte die friedliche Stimmung
der Geister nicht im geringsten gestört, weil alle wußten, daß diese Rüstung
angesichts der Heeresverstärkung in Deutschland und Österreich von unserer Re¬
gierung als notwendig erachtet wurde in der hüben und drüben geltenden
Erkenntnis, daß die Aussicht auf dauernden Frieden um so größer, je besser
die Kriegsbereitschaft ist.

Ich muß gestehen, daß mich trotz der Nichtigkeit meiner obigen Ausführungen
nicht die kriegerischen Artikel dieser oder jener deutschen Zeitung gegen Rußland



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Die Schriftleitung angespielt wird.
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[0158] Irrtümer bauschen des Märchens materiellen Vorteil bringt. Daß aber ganz Deutschland mit Berlin an der Spitze jahrelang unter der Hypnose einer solchen Mystifikation stehen konnte, ist durchaus nicht begreiflich, wenn man weiß, daß in Petersburg eine deutsche Botschaft existiert, daß es dort Korrespondenten der Berliner Presse gibt und zwischen Petersburg und Berlin täglich allerlei enge Beziehungen gepflogen werden. Trotz alledem fährr die Mär von der offiziösen und öffentlichen Bedeutung des Nowoje Wremja fort, ihren verderblichen Einfluß auf die deutsch¬ russischen Beziehungen auszuüben. Meine langjährige Lebenserfahrung läßt mir diese Mystifikation komisch erscheinen, aber sie belehrt mich auch, daß das Komische gelegentlich ernst, ja gefährlich werden kann. Man bedenke, daß eine Fliege in ihrem kleinen Rüssel Jnfektionskeime bergen kann, die einem ganzen Lande verderblich werden. So vermag auch eine durch Lügen vergiftete Fabel einen ganzen Volks¬ organismus zu durchdringen und die freundschaftlichen Beziehungen zweier Reiche nicht nur abzukühlen, sondern sogar in feindselige zu verwandeln. In letzter Zeit machen sich in Deutschland Anzeichen geltend, die mir in dieser Auffassung recht geben. Wenn in Deutschland nicht die Ansicht bestünde, daß das Nowoje Wremja nicht nur das Organ der öffentlichen Meinung, sondern auch der offiziellen Kreise sei, würden die germanophoben Ideen dieser Zeitung niemals vermocht haben, so stark zu wirken, um in zwei Organen der deutschen Presse geradezu feindselige, ja sogar herausfordernde Artikel gegen Rußland zu veranlassen. Diese Artikel der bedeutsamen Kölnischen Zeitung und des ver¬ breiteten Berliner Tageblatts*) haben in Petersburg verblüfft, da es niemand in den Sinn gekommen war, Feindschaft gegen Deutschland zu hegen, und am wenigsten hatte man in Regierungskreisen daran gedacht. Die Heeres¬ verstärkung in Rußland, die die deutschen Zeitungen als wichtigsten Anlaß ihrer feindseligen Angriffe auf Rußland betrachteten, hatte die friedliche Stimmung der Geister nicht im geringsten gestört, weil alle wußten, daß diese Rüstung angesichts der Heeresverstärkung in Deutschland und Österreich von unserer Re¬ gierung als notwendig erachtet wurde in der hüben und drüben geltenden Erkenntnis, daß die Aussicht auf dauernden Frieden um so größer, je besser die Kriegsbereitschaft ist. Ich muß gestehen, daß mich trotz der Nichtigkeit meiner obigen Ausführungen nicht die kriegerischen Artikel dieser oder jener deutschen Zeitung gegen Rußland ") Wir vermögen nicht festzustellen, auf welchen Artikel des Berliner Tageblatts hier Die Schriftleitung angespielt wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/158>, abgerufen am 16.06.2024.