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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grundfragen der Jugendfürsorge

fürsorglichen Einschreitens kann nur durch Tatsachen bewiesen werden. Man
muß dartun können, daß das Kind bereits geschädigt, verwahrlost, oder zum
mindesten wirklich gefährdet ist. Dieser Zustand ist übrigens dadurch gerecht¬
fertigt, daß das Recht der Familie so gut wie das des Kindes des Schutzes
bedarf. Dieser Rechtszustand gibt aber allen Maßnahmen, die so gegen den
Willen der Familie zwangsweise durchgeführt werden müssen, ihren eigentüm¬
lichen Charakter.

Sie können nur in der Heilung des Schadens bestehen, der bereits ein¬
getreten ist oder zu wirken begonnen hat. Alle Schutzmaßregeln für ein Kind,
die gegen den Willen der Eltern oder sogar nur ohne deren Mitwirkung ein¬
geleitet werden, können nicht vorbeugende Maßregeln sein. Man kann dies
nicht scharf genug betonen, da aus den Unklarheiten in diesen Begriffen die
seltsamsten Forderungen und Anschauungen entstanden find. Klarheit aber
in den Grundvoraussetzungen ist unbedingt nötig, wenn man aus dem großen
Wirrwarr, der heute bei uns in der Kinderfürsnrge besteht, herauskommen will.
Aufgabe der Zwangserziehung und Jugendgerichte ist es und wird es bleiben,
Übel, die bereits eingetreten sind, deren Wirkung sich rechtlich nachweisen läßt,
wieder zu heilen. Diese heilende Aufgabe ist sicher groß und wichtig, aber sie
ist doch ganz etwas anderes als Vorbeugung. Wenn wir vorbeugende Jugend¬
fürsorge suchen, dann müssen wir andere Einrichtungen ins Auge fassen, Ein¬
richtungen, die einen viel umfassenderen Charakter haben und einen viel größeren
Umkreis von Kindern umfassen als jene heilenden Maßnahmen. Vorbeugende
Maßnahmen werden sich im großen und ganzen im Einverständnis mit der
Familie vollziehen oder in einem Augenblick an deren Stelle treten, wo äußere
Umstünde den Ersatz oder die Ergänzung der elterlichen Fürsorge nötig machen,
ohne daß die Kinder sich bereits unmittelbar in Gefahr befinden. Solcher
Natur sind in der öffentlichen Kinderfürsorge zwei Einrichtungen, die zugleich
die ältesten auf dem Gebiete des Kinderschutzes sind: die Armenpflege für Kinder
und die Vormundschaft. Beide unterschieden sich bisher dadurch, daß bei der
Armenpflege die öffentlichen Organe den gesamten Schutz des armen Kindes
selbst durchführten und auch die Kosten trugen, während bei der Vormundschaft
der Staat sich damit begnügte, nur die äußere Rechtsform für diesen Schutz zu
schaffen, ihn selbst aber der privaten Hilfstätigkeit wohlgesinnter Bürger zu über¬
lassen. Wir werden später die innere Umwandlung der Vormundschaft noch
eingehend zu betrachten haben.

Die Eigenart der Armenpflege besteht gerade darin, daß die öffentlichen Gewalten
die gesamte Erziehung des Kindes übernehmen, vor allen: die ganzen Kosten tragen.
Der Eintritt der Armenpflege ist nur durch die Armut des Kindes selbst --
so bei Waisenkindern -- oder seiner Eltern -- so bei den Kindern, die armen
Eltern von den Armenbehörden unter ihrer Zustimmung abgenommen werden,
bedingt. Irgendeine Gefährdung dieser Kinder braucht noch nicht eingetreten zu sein,
wenngleich sie in manchen Fällen in Verbindung mit der Armut sich zeigen


Grundfragen der Jugendfürsorge

fürsorglichen Einschreitens kann nur durch Tatsachen bewiesen werden. Man
muß dartun können, daß das Kind bereits geschädigt, verwahrlost, oder zum
mindesten wirklich gefährdet ist. Dieser Zustand ist übrigens dadurch gerecht¬
fertigt, daß das Recht der Familie so gut wie das des Kindes des Schutzes
bedarf. Dieser Rechtszustand gibt aber allen Maßnahmen, die so gegen den
Willen der Familie zwangsweise durchgeführt werden müssen, ihren eigentüm¬
lichen Charakter.

Sie können nur in der Heilung des Schadens bestehen, der bereits ein¬
getreten ist oder zu wirken begonnen hat. Alle Schutzmaßregeln für ein Kind,
die gegen den Willen der Eltern oder sogar nur ohne deren Mitwirkung ein¬
geleitet werden, können nicht vorbeugende Maßregeln sein. Man kann dies
nicht scharf genug betonen, da aus den Unklarheiten in diesen Begriffen die
seltsamsten Forderungen und Anschauungen entstanden find. Klarheit aber
in den Grundvoraussetzungen ist unbedingt nötig, wenn man aus dem großen
Wirrwarr, der heute bei uns in der Kinderfürsnrge besteht, herauskommen will.
Aufgabe der Zwangserziehung und Jugendgerichte ist es und wird es bleiben,
Übel, die bereits eingetreten sind, deren Wirkung sich rechtlich nachweisen läßt,
wieder zu heilen. Diese heilende Aufgabe ist sicher groß und wichtig, aber sie
ist doch ganz etwas anderes als Vorbeugung. Wenn wir vorbeugende Jugend¬
fürsorge suchen, dann müssen wir andere Einrichtungen ins Auge fassen, Ein¬
richtungen, die einen viel umfassenderen Charakter haben und einen viel größeren
Umkreis von Kindern umfassen als jene heilenden Maßnahmen. Vorbeugende
Maßnahmen werden sich im großen und ganzen im Einverständnis mit der
Familie vollziehen oder in einem Augenblick an deren Stelle treten, wo äußere
Umstünde den Ersatz oder die Ergänzung der elterlichen Fürsorge nötig machen,
ohne daß die Kinder sich bereits unmittelbar in Gefahr befinden. Solcher
Natur sind in der öffentlichen Kinderfürsorge zwei Einrichtungen, die zugleich
die ältesten auf dem Gebiete des Kinderschutzes sind: die Armenpflege für Kinder
und die Vormundschaft. Beide unterschieden sich bisher dadurch, daß bei der
Armenpflege die öffentlichen Organe den gesamten Schutz des armen Kindes
selbst durchführten und auch die Kosten trugen, während bei der Vormundschaft
der Staat sich damit begnügte, nur die äußere Rechtsform für diesen Schutz zu
schaffen, ihn selbst aber der privaten Hilfstätigkeit wohlgesinnter Bürger zu über¬
lassen. Wir werden später die innere Umwandlung der Vormundschaft noch
eingehend zu betrachten haben.

Die Eigenart der Armenpflege besteht gerade darin, daß die öffentlichen Gewalten
die gesamte Erziehung des Kindes übernehmen, vor allen: die ganzen Kosten tragen.
Der Eintritt der Armenpflege ist nur durch die Armut des Kindes selbst —
so bei Waisenkindern — oder seiner Eltern — so bei den Kindern, die armen
Eltern von den Armenbehörden unter ihrer Zustimmung abgenommen werden,
bedingt. Irgendeine Gefährdung dieser Kinder braucht noch nicht eingetreten zu sein,
wenngleich sie in manchen Fällen in Verbindung mit der Armut sich zeigen


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[0167] Grundfragen der Jugendfürsorge fürsorglichen Einschreitens kann nur durch Tatsachen bewiesen werden. Man muß dartun können, daß das Kind bereits geschädigt, verwahrlost, oder zum mindesten wirklich gefährdet ist. Dieser Zustand ist übrigens dadurch gerecht¬ fertigt, daß das Recht der Familie so gut wie das des Kindes des Schutzes bedarf. Dieser Rechtszustand gibt aber allen Maßnahmen, die so gegen den Willen der Familie zwangsweise durchgeführt werden müssen, ihren eigentüm¬ lichen Charakter. Sie können nur in der Heilung des Schadens bestehen, der bereits ein¬ getreten ist oder zu wirken begonnen hat. Alle Schutzmaßregeln für ein Kind, die gegen den Willen der Eltern oder sogar nur ohne deren Mitwirkung ein¬ geleitet werden, können nicht vorbeugende Maßregeln sein. Man kann dies nicht scharf genug betonen, da aus den Unklarheiten in diesen Begriffen die seltsamsten Forderungen und Anschauungen entstanden find. Klarheit aber in den Grundvoraussetzungen ist unbedingt nötig, wenn man aus dem großen Wirrwarr, der heute bei uns in der Kinderfürsnrge besteht, herauskommen will. Aufgabe der Zwangserziehung und Jugendgerichte ist es und wird es bleiben, Übel, die bereits eingetreten sind, deren Wirkung sich rechtlich nachweisen läßt, wieder zu heilen. Diese heilende Aufgabe ist sicher groß und wichtig, aber sie ist doch ganz etwas anderes als Vorbeugung. Wenn wir vorbeugende Jugend¬ fürsorge suchen, dann müssen wir andere Einrichtungen ins Auge fassen, Ein¬ richtungen, die einen viel umfassenderen Charakter haben und einen viel größeren Umkreis von Kindern umfassen als jene heilenden Maßnahmen. Vorbeugende Maßnahmen werden sich im großen und ganzen im Einverständnis mit der Familie vollziehen oder in einem Augenblick an deren Stelle treten, wo äußere Umstünde den Ersatz oder die Ergänzung der elterlichen Fürsorge nötig machen, ohne daß die Kinder sich bereits unmittelbar in Gefahr befinden. Solcher Natur sind in der öffentlichen Kinderfürsorge zwei Einrichtungen, die zugleich die ältesten auf dem Gebiete des Kinderschutzes sind: die Armenpflege für Kinder und die Vormundschaft. Beide unterschieden sich bisher dadurch, daß bei der Armenpflege die öffentlichen Organe den gesamten Schutz des armen Kindes selbst durchführten und auch die Kosten trugen, während bei der Vormundschaft der Staat sich damit begnügte, nur die äußere Rechtsform für diesen Schutz zu schaffen, ihn selbst aber der privaten Hilfstätigkeit wohlgesinnter Bürger zu über¬ lassen. Wir werden später die innere Umwandlung der Vormundschaft noch eingehend zu betrachten haben. Die Eigenart der Armenpflege besteht gerade darin, daß die öffentlichen Gewalten die gesamte Erziehung des Kindes übernehmen, vor allen: die ganzen Kosten tragen. Der Eintritt der Armenpflege ist nur durch die Armut des Kindes selbst — so bei Waisenkindern — oder seiner Eltern — so bei den Kindern, die armen Eltern von den Armenbehörden unter ihrer Zustimmung abgenommen werden, bedingt. Irgendeine Gefährdung dieser Kinder braucht noch nicht eingetreten zu sein, wenngleich sie in manchen Fällen in Verbindung mit der Armut sich zeigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/167>, abgerufen am 15.06.2024.