Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Grundfragen der Jugendfürsorge
Dr. Klunker von Professor

er Kern aller Kinderfürsorge ist der Ersatz von Leistungen der
Familie durch solche anderer Organe, fremder Einzelpersonen, Ver¬
eine oder staatlicher Einrichtungen. Dieser Ersatz kann aus
friedlichem Wege oder zwangsweise erfolgen; was die Familie
nicht leisten kann, das kann, im Einverständnis mit ihr, von
anderen übernommen werden, ebensooft aber weicht die Anschauung der Ge¬
sellschaft und des Staates von der der Familie so sehr ab, daß diese die Ma߬
nahmen jener für unberechtigt und unnötig hält. Dann entsteht ein Zwiespalt
und die Kinderfürsorge verdrängt im Kampfe die Familie, um sich selbst an
deren Stelle zu setzen. Gesteht man der Familie zu. daß ihr auch unter den
heutigen Verhältnissen bedeutende Erziehungsaufgaben zufallen, daß in ihr noch
starke erzieherische Kräfte vorhanden sind, die im Interesse der Gesamtheit wie
der Kinder benutzt werden sollen, so hängt der Erfolg aller Kinderfürsorge
sehr wesentlich davon ab, daß ihr Eingreifen im Einverständnis mit der Familie
ersolgt, daß es, wo diese widerstrebt, gelingt, sie zur Mitarbeit zu ge¬
winnen. Alle Fürsorgeeingriffe müssen mit dem Umstände rechnen, daß die
Stellung der Familie in unserem bürgerlichen Rechte stark verankert ist, daß
also Eingriffe feindlicher Natur in das Gebiet der Familie stets eines besonderen
Nachweises ihrer Notwendigkeit bedürfen. Die Sicherheit der Familie erfreut
sich eines starken richterlichen Schutzes, weil sie eine der Grundfesten unserer
Rechtsordnung ist. Wer sie antasten will, muß das Recht dazu vor irgend¬
einer richterlichen Instanz nachweisen. Dieser Zustand hat sich bei uns seit
hundert Jahren sest eingebürgert. Als die Franzosen einst in Hamburg ein¬
zogen und eine französische Verwaltung einrichteten, entstanden sofort Schwierig¬
keiten, weil die Verwaltungsbehörde Erwachsene und Kinder aus Gründen
öffentlicher Ordnung und Erziehung in die Zwangsarbeitsanstalten und deren
Erziehungseinrichtungen einsperren konnte. Dieser Zustand, der bis dahin
unanstößig befunden wurde, war dem Rechtsgefühle der neuen Republikaner so
zuwider, daß sie ihn ohne weiteres beseitigten und die Freiheit der Persön¬
lichkeit wie der Familie unter den Schutz des Gerichtes stellten. Hieraus folgen
aber nicht unwesentliche Grundsätze der Kinderfürsorge. Die Notwendigkeit eines




Grundfragen der Jugendfürsorge
Dr. Klunker von Professor

er Kern aller Kinderfürsorge ist der Ersatz von Leistungen der
Familie durch solche anderer Organe, fremder Einzelpersonen, Ver¬
eine oder staatlicher Einrichtungen. Dieser Ersatz kann aus
friedlichem Wege oder zwangsweise erfolgen; was die Familie
nicht leisten kann, das kann, im Einverständnis mit ihr, von
anderen übernommen werden, ebensooft aber weicht die Anschauung der Ge¬
sellschaft und des Staates von der der Familie so sehr ab, daß diese die Ma߬
nahmen jener für unberechtigt und unnötig hält. Dann entsteht ein Zwiespalt
und die Kinderfürsorge verdrängt im Kampfe die Familie, um sich selbst an
deren Stelle zu setzen. Gesteht man der Familie zu. daß ihr auch unter den
heutigen Verhältnissen bedeutende Erziehungsaufgaben zufallen, daß in ihr noch
starke erzieherische Kräfte vorhanden sind, die im Interesse der Gesamtheit wie
der Kinder benutzt werden sollen, so hängt der Erfolg aller Kinderfürsorge
sehr wesentlich davon ab, daß ihr Eingreifen im Einverständnis mit der Familie
ersolgt, daß es, wo diese widerstrebt, gelingt, sie zur Mitarbeit zu ge¬
winnen. Alle Fürsorgeeingriffe müssen mit dem Umstände rechnen, daß die
Stellung der Familie in unserem bürgerlichen Rechte stark verankert ist, daß
also Eingriffe feindlicher Natur in das Gebiet der Familie stets eines besonderen
Nachweises ihrer Notwendigkeit bedürfen. Die Sicherheit der Familie erfreut
sich eines starken richterlichen Schutzes, weil sie eine der Grundfesten unserer
Rechtsordnung ist. Wer sie antasten will, muß das Recht dazu vor irgend¬
einer richterlichen Instanz nachweisen. Dieser Zustand hat sich bei uns seit
hundert Jahren sest eingebürgert. Als die Franzosen einst in Hamburg ein¬
zogen und eine französische Verwaltung einrichteten, entstanden sofort Schwierig¬
keiten, weil die Verwaltungsbehörde Erwachsene und Kinder aus Gründen
öffentlicher Ordnung und Erziehung in die Zwangsarbeitsanstalten und deren
Erziehungseinrichtungen einsperren konnte. Dieser Zustand, der bis dahin
unanstößig befunden wurde, war dem Rechtsgefühle der neuen Republikaner so
zuwider, daß sie ihn ohne weiteres beseitigten und die Freiheit der Persön¬
lichkeit wie der Familie unter den Schutz des Gerichtes stellten. Hieraus folgen
aber nicht unwesentliche Grundsätze der Kinderfürsorge. Die Notwendigkeit eines


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0166" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328266"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_328099/figures/grenzboten_341899_328099_328266_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Grundfragen der Jugendfürsorge<lb/><note type="byline"> Dr. Klunker</note> von Professor</head><lb/>
          <p xml:id="ID_724" next="#ID_725"> er Kern aller Kinderfürsorge ist der Ersatz von Leistungen der<lb/>
Familie durch solche anderer Organe, fremder Einzelpersonen, Ver¬<lb/>
eine oder staatlicher Einrichtungen. Dieser Ersatz kann aus<lb/>
friedlichem Wege oder zwangsweise erfolgen; was die Familie<lb/>
nicht leisten kann, das kann, im Einverständnis mit ihr, von<lb/>
anderen übernommen werden, ebensooft aber weicht die Anschauung der Ge¬<lb/>
sellschaft und des Staates von der der Familie so sehr ab, daß diese die Ma߬<lb/>
nahmen jener für unberechtigt und unnötig hält. Dann entsteht ein Zwiespalt<lb/>
und die Kinderfürsorge verdrängt im Kampfe die Familie, um sich selbst an<lb/>
deren Stelle zu setzen. Gesteht man der Familie zu. daß ihr auch unter den<lb/>
heutigen Verhältnissen bedeutende Erziehungsaufgaben zufallen, daß in ihr noch<lb/>
starke erzieherische Kräfte vorhanden sind, die im Interesse der Gesamtheit wie<lb/>
der Kinder benutzt werden sollen, so hängt der Erfolg aller Kinderfürsorge<lb/>
sehr wesentlich davon ab, daß ihr Eingreifen im Einverständnis mit der Familie<lb/>
ersolgt, daß es, wo diese widerstrebt, gelingt, sie zur Mitarbeit zu ge¬<lb/>
winnen. Alle Fürsorgeeingriffe müssen mit dem Umstände rechnen, daß die<lb/>
Stellung der Familie in unserem bürgerlichen Rechte stark verankert ist, daß<lb/>
also Eingriffe feindlicher Natur in das Gebiet der Familie stets eines besonderen<lb/>
Nachweises ihrer Notwendigkeit bedürfen. Die Sicherheit der Familie erfreut<lb/>
sich eines starken richterlichen Schutzes, weil sie eine der Grundfesten unserer<lb/>
Rechtsordnung ist. Wer sie antasten will, muß das Recht dazu vor irgend¬<lb/>
einer richterlichen Instanz nachweisen. Dieser Zustand hat sich bei uns seit<lb/>
hundert Jahren sest eingebürgert. Als die Franzosen einst in Hamburg ein¬<lb/>
zogen und eine französische Verwaltung einrichteten, entstanden sofort Schwierig¬<lb/>
keiten, weil die Verwaltungsbehörde Erwachsene und Kinder aus Gründen<lb/>
öffentlicher Ordnung und Erziehung in die Zwangsarbeitsanstalten und deren<lb/>
Erziehungseinrichtungen einsperren konnte. Dieser Zustand, der bis dahin<lb/>
unanstößig befunden wurde, war dem Rechtsgefühle der neuen Republikaner so<lb/>
zuwider, daß sie ihn ohne weiteres beseitigten und die Freiheit der Persön¬<lb/>
lichkeit wie der Familie unter den Schutz des Gerichtes stellten. Hieraus folgen<lb/>
aber nicht unwesentliche Grundsätze der Kinderfürsorge. Die Notwendigkeit eines</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0166] [Abbildung] Grundfragen der Jugendfürsorge Dr. Klunker von Professor er Kern aller Kinderfürsorge ist der Ersatz von Leistungen der Familie durch solche anderer Organe, fremder Einzelpersonen, Ver¬ eine oder staatlicher Einrichtungen. Dieser Ersatz kann aus friedlichem Wege oder zwangsweise erfolgen; was die Familie nicht leisten kann, das kann, im Einverständnis mit ihr, von anderen übernommen werden, ebensooft aber weicht die Anschauung der Ge¬ sellschaft und des Staates von der der Familie so sehr ab, daß diese die Ma߬ nahmen jener für unberechtigt und unnötig hält. Dann entsteht ein Zwiespalt und die Kinderfürsorge verdrängt im Kampfe die Familie, um sich selbst an deren Stelle zu setzen. Gesteht man der Familie zu. daß ihr auch unter den heutigen Verhältnissen bedeutende Erziehungsaufgaben zufallen, daß in ihr noch starke erzieherische Kräfte vorhanden sind, die im Interesse der Gesamtheit wie der Kinder benutzt werden sollen, so hängt der Erfolg aller Kinderfürsorge sehr wesentlich davon ab, daß ihr Eingreifen im Einverständnis mit der Familie ersolgt, daß es, wo diese widerstrebt, gelingt, sie zur Mitarbeit zu ge¬ winnen. Alle Fürsorgeeingriffe müssen mit dem Umstände rechnen, daß die Stellung der Familie in unserem bürgerlichen Rechte stark verankert ist, daß also Eingriffe feindlicher Natur in das Gebiet der Familie stets eines besonderen Nachweises ihrer Notwendigkeit bedürfen. Die Sicherheit der Familie erfreut sich eines starken richterlichen Schutzes, weil sie eine der Grundfesten unserer Rechtsordnung ist. Wer sie antasten will, muß das Recht dazu vor irgend¬ einer richterlichen Instanz nachweisen. Dieser Zustand hat sich bei uns seit hundert Jahren sest eingebürgert. Als die Franzosen einst in Hamburg ein¬ zogen und eine französische Verwaltung einrichteten, entstanden sofort Schwierig¬ keiten, weil die Verwaltungsbehörde Erwachsene und Kinder aus Gründen öffentlicher Ordnung und Erziehung in die Zwangsarbeitsanstalten und deren Erziehungseinrichtungen einsperren konnte. Dieser Zustand, der bis dahin unanstößig befunden wurde, war dem Rechtsgefühle der neuen Republikaner so zuwider, daß sie ihn ohne weiteres beseitigten und die Freiheit der Persön¬ lichkeit wie der Familie unter den Schutz des Gerichtes stellten. Hieraus folgen aber nicht unwesentliche Grundsätze der Kinderfürsorge. Die Notwendigkeit eines

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/166
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/166>, abgerufen am 15.06.2024.