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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grundfragen der Jugendfürsorge

pflege so ausgezeichnet bestellt ist? Wir Deutsche sind ja trotz unserer blinden
Begeisterung für das Ausland, wie sie beim Jugendgericht wieder wahre Orgien
gefeiert hat, doch so leicht geneigt, gerade im Erziehungswesen uns an der
Spitze der Kulturnationen zu denken. Zunächst also einige praktische Beispiele
aus neuester Zeit Am 14, Februar des Jahres 1912, also mitten in der
Gegenwart unseres Kulturlebens, erschien in der Sulinger Kreiszeitung, einem
offiziellen Blatt des Kreises Sulingen, folgende Anzeige: "Zwei hiesige kleine
Mädchen im Alter von 2 und 4 Jahren sollen am Sonntag, morgens 9 Uhr,
im . . . Gasthaus in gute Pflege mindestfordernd untergebracht werden. S . . .,
Waisenrat." So mancher hat sich schon gewöhnt -- auch der Schreiber dieser
Zeilen hat vor wenigen Jahren noch dazu gehört --, solche Versteigerungen
von Kindern an den Mindestfordernden als längst veraltet anzusehen. Die
finden wir noch in Romanen, in ausländischen Staaten, aber im deutschen
Vaterlande findet man dergleichen nicht mehr. Jene Anzeige beweist nicht
nur, daß auf diesem Wege, für dessen Bezeichnung kein Wort zu hart ist,
Kinder von öffentlichen Organen untergebracht werden, sondern daß es auch
Behörden gibt, die dies Verfahren für so zweckmäßig und normal halten, daß sie
diese ihre ruhmreiche Tätigkeit in der Presse veröffentlichen, und die Redaktion
eines öffentlichen Organs nimmt an dieser Anzeige gar keinen Anstoß. Doch
vielleicht war das nur eine augenblickliche Entgleisung? Vor wenigen Jahren
fielen mir die Armenamtsakten eines einjährigen Kindes in die Hände. Die
bayerische Gemeinde, der die Pflegekosten mit monatlich 20 Mark in einer
mitteldeutschen Stadt zu hoch waren, verlangte Überführung des Kindes nach
der Dorfgemeinde. Auf Anfrage des Bezirksamtes, wie die Gemeinde für das
Kind sorgen wolle, erklärte diese in einem amtlichen Schreiben: "Das Kind
(ein Säugling von wenig mehr als einem Jahre) soll öffentlich an den
Wenigstfordernden vergeben werden." Das Bezirksamt nahm hierauf keine
Gelegenheit, die Gemeinde zur Rede zu stellen, sondern leitete die Allen ohne
einen Vermerk an die mitteldeutsche Stadt, welche das Kind bisher versorgt
hatte. Hier ist wieder nicht die Tatsache einer Versteigerung von Säuglingen
durch die Gemeinde das besonders Auffällige, sondern daß man dies Verfahren
für so selbstverständlich hält, daß man es der vorgesetzten Behörde ruhig
amtlich mitteilt. Wenn in dieser Behörde die Akten von jemand zufällig
bearbeitet werden, der dies auch für selbstverständlich hält, so kann man das
allerdings ruhig für einen Zufall halten, da in den höheren Instanzen im
allgemeinen für so grobe Mißstände das nötige Verständnis da sein wird.
Immerhin scheint aber doch dieser ganz gemeingefährliche Mißgriff der Orts¬
armenverbände öfter vorzukommen, denn in einem anderen Falle sollte ein
uneheliches, fünfjähriges Kind, für das Pflegegeld nach auswärts bezahlt
werden mußte, ebenfalls mit oder ohne die Mutter in seine bayerische Dorf¬
gemeinde zurückgefordert werden, "wo man", wie es wieder in einem amtlicken
Schreiben hieß, "dann durch turnusweise Verpflegung für sie Sorge tragen


Grundfragen der Jugendfürsorge

pflege so ausgezeichnet bestellt ist? Wir Deutsche sind ja trotz unserer blinden
Begeisterung für das Ausland, wie sie beim Jugendgericht wieder wahre Orgien
gefeiert hat, doch so leicht geneigt, gerade im Erziehungswesen uns an der
Spitze der Kulturnationen zu denken. Zunächst also einige praktische Beispiele
aus neuester Zeit Am 14, Februar des Jahres 1912, also mitten in der
Gegenwart unseres Kulturlebens, erschien in der Sulinger Kreiszeitung, einem
offiziellen Blatt des Kreises Sulingen, folgende Anzeige: „Zwei hiesige kleine
Mädchen im Alter von 2 und 4 Jahren sollen am Sonntag, morgens 9 Uhr,
im . . . Gasthaus in gute Pflege mindestfordernd untergebracht werden. S . . .,
Waisenrat." So mancher hat sich schon gewöhnt — auch der Schreiber dieser
Zeilen hat vor wenigen Jahren noch dazu gehört —, solche Versteigerungen
von Kindern an den Mindestfordernden als längst veraltet anzusehen. Die
finden wir noch in Romanen, in ausländischen Staaten, aber im deutschen
Vaterlande findet man dergleichen nicht mehr. Jene Anzeige beweist nicht
nur, daß auf diesem Wege, für dessen Bezeichnung kein Wort zu hart ist,
Kinder von öffentlichen Organen untergebracht werden, sondern daß es auch
Behörden gibt, die dies Verfahren für so zweckmäßig und normal halten, daß sie
diese ihre ruhmreiche Tätigkeit in der Presse veröffentlichen, und die Redaktion
eines öffentlichen Organs nimmt an dieser Anzeige gar keinen Anstoß. Doch
vielleicht war das nur eine augenblickliche Entgleisung? Vor wenigen Jahren
fielen mir die Armenamtsakten eines einjährigen Kindes in die Hände. Die
bayerische Gemeinde, der die Pflegekosten mit monatlich 20 Mark in einer
mitteldeutschen Stadt zu hoch waren, verlangte Überführung des Kindes nach
der Dorfgemeinde. Auf Anfrage des Bezirksamtes, wie die Gemeinde für das
Kind sorgen wolle, erklärte diese in einem amtlichen Schreiben: „Das Kind
(ein Säugling von wenig mehr als einem Jahre) soll öffentlich an den
Wenigstfordernden vergeben werden." Das Bezirksamt nahm hierauf keine
Gelegenheit, die Gemeinde zur Rede zu stellen, sondern leitete die Allen ohne
einen Vermerk an die mitteldeutsche Stadt, welche das Kind bisher versorgt
hatte. Hier ist wieder nicht die Tatsache einer Versteigerung von Säuglingen
durch die Gemeinde das besonders Auffällige, sondern daß man dies Verfahren
für so selbstverständlich hält, daß man es der vorgesetzten Behörde ruhig
amtlich mitteilt. Wenn in dieser Behörde die Akten von jemand zufällig
bearbeitet werden, der dies auch für selbstverständlich hält, so kann man das
allerdings ruhig für einen Zufall halten, da in den höheren Instanzen im
allgemeinen für so grobe Mißstände das nötige Verständnis da sein wird.
Immerhin scheint aber doch dieser ganz gemeingefährliche Mißgriff der Orts¬
armenverbände öfter vorzukommen, denn in einem anderen Falle sollte ein
uneheliches, fünfjähriges Kind, für das Pflegegeld nach auswärts bezahlt
werden mußte, ebenfalls mit oder ohne die Mutter in seine bayerische Dorf¬
gemeinde zurückgefordert werden, „wo man", wie es wieder in einem amtlicken
Schreiben hieß, „dann durch turnusweise Verpflegung für sie Sorge tragen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/169>, abgerufen am 16.06.2024.