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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grundfragen der Jugendfürsorge

will." Ob diese turnusweise Verpflegung dem Kinde zusammen mit seiner
Mutter zugedacht war oder dem Kinde allein -- denn die Mutter konnte sich
selbst ernähren und hatte keinen Anlaß zurückzukommen --, bleibt sich in der
Wirkung ziemlich gleich, denn in jedem Falle dürfte ein solches Sichherum¬
essen von Haus zu Haus eher alles andere als eine ordentliche Erziehung
darstellen.

Man wird sich kaum wundern, wenn Pflegemutter, denen ein Kind zu
solcher Verpflegung abgenommen worden ist, ungeachtet auch einer weiten Reise,
sich bald nach ihm sehnen, um dann von solchem Mitleid ergriffen zu werden, daß sie
das Kind selbst ohne weiteres wieder mit sich nehmen, obwohl sie wissen, daß
sie nie einen Pfennig für seine Verpflegung zu erwarten haben. Kaum kann
unsere Armenpflege für Kinder eine härtere Verurteilung erfahren, als wenn Pflege¬
mutter die ihnen fremden Kinder auf eigene Gefahr und Kosten aus solcher
öffentlichen Versorgung retten. Doch nicht genug! Hören wir eine höhere In¬
stanz über das, was man als öffentliche Fürsorge sür schutzbedürftige Kinder
ausgibt. Vor wenigen Jahren (1909) wurde in Glatz eine arme Dienstmagd
zum Tode verurteilt, weil sie ihr eigenes Kind in eine Lehmgrube geworfen
hatte. Was hatte die unglückliche Mutter zu diesem Schritt verleitet? War
sie von Natur eine Rabenmutter, die ihr Kind haßte und verachtete? Im
Gegenteil! Sie hatte in der aufopferndsten Weise, soweit nur Menschenkräfte
reichen, für ihr Kind zu sorgen gesucht. Sie hatte regelmäßig Pflegegeld für
dasselbe bezahlt, so schwer es ihr auch wurde. In Oberhermsdorf, wo sie in Dienst
war, verweigerte der Ortsvorsteher, daß das Kind untergebracht werde. So
brachte sie es in einem Nachbarort, Niederhermsdorf, unter und wanderte jeden
Abend den weiten Weg hinüber und morgens früh wieder zurück, ihr Kind zu
zu nähren. Aber auch hier fordert der Ortsvorsteher alsbald: "Das Kind muß
'naus!" Die Mutter bringt nun das Kind nach Glatz und bezahlt dort eben¬
falls regelmäßig 12 Mark im Monat. Am 1. April erklärt die Polizei in
Glatz. wie die Kindesmutter vor Gericht aussagte: "Das Kind muß binnen
24 Stunden aus Glatz herausgeschafft werden!" Der Vormund -- über die
Bedeutung der Vormundschaft wird noch besonders zu reden sein -- lehnt es
ab. für das Kind beim Bürgermeister vorstellig zu werden. Die Mutter selbst
bittet vergebens. Da faßt sie auf der Suche nach einem neuen Unterkunfts¬
plätzchen die Verzweiflung: sie tötet ihr Kind. Die Todesstrafe wurde im
Gnadenwege' in zehnjährige Zuchthausstrafe verwandelt, "weil die Verurteilte
sich durch die Maßnahmen einer Polizeiverwaltung und verschiedener Gemeinde¬
behörden in einer Notlage befand", wie sich der preußische Minister des Innern
1910 in einem besonderen Erlaß ausdrückte. Jene Behörden waren gesetzlich
verpflichtet, sich des Kindes schon deshalb anzunehmen, weil sie die Aufsicht
über die Kostkinder zu führen, d. h. dafür zu sorgen hatten, daß das Kind
richtig versorgt wurde. Aber auch als Armenbehörde waren sie, wo die Mittel
für den Unterhalt des Kindes fehlten, verpflichtet, selbst einzuspringen. Da sie


Grundfragen der Jugendfürsorge

will." Ob diese turnusweise Verpflegung dem Kinde zusammen mit seiner
Mutter zugedacht war oder dem Kinde allein — denn die Mutter konnte sich
selbst ernähren und hatte keinen Anlaß zurückzukommen —, bleibt sich in der
Wirkung ziemlich gleich, denn in jedem Falle dürfte ein solches Sichherum¬
essen von Haus zu Haus eher alles andere als eine ordentliche Erziehung
darstellen.

Man wird sich kaum wundern, wenn Pflegemutter, denen ein Kind zu
solcher Verpflegung abgenommen worden ist, ungeachtet auch einer weiten Reise,
sich bald nach ihm sehnen, um dann von solchem Mitleid ergriffen zu werden, daß sie
das Kind selbst ohne weiteres wieder mit sich nehmen, obwohl sie wissen, daß
sie nie einen Pfennig für seine Verpflegung zu erwarten haben. Kaum kann
unsere Armenpflege für Kinder eine härtere Verurteilung erfahren, als wenn Pflege¬
mutter die ihnen fremden Kinder auf eigene Gefahr und Kosten aus solcher
öffentlichen Versorgung retten. Doch nicht genug! Hören wir eine höhere In¬
stanz über das, was man als öffentliche Fürsorge sür schutzbedürftige Kinder
ausgibt. Vor wenigen Jahren (1909) wurde in Glatz eine arme Dienstmagd
zum Tode verurteilt, weil sie ihr eigenes Kind in eine Lehmgrube geworfen
hatte. Was hatte die unglückliche Mutter zu diesem Schritt verleitet? War
sie von Natur eine Rabenmutter, die ihr Kind haßte und verachtete? Im
Gegenteil! Sie hatte in der aufopferndsten Weise, soweit nur Menschenkräfte
reichen, für ihr Kind zu sorgen gesucht. Sie hatte regelmäßig Pflegegeld für
dasselbe bezahlt, so schwer es ihr auch wurde. In Oberhermsdorf, wo sie in Dienst
war, verweigerte der Ortsvorsteher, daß das Kind untergebracht werde. So
brachte sie es in einem Nachbarort, Niederhermsdorf, unter und wanderte jeden
Abend den weiten Weg hinüber und morgens früh wieder zurück, ihr Kind zu
zu nähren. Aber auch hier fordert der Ortsvorsteher alsbald: „Das Kind muß
'naus!" Die Mutter bringt nun das Kind nach Glatz und bezahlt dort eben¬
falls regelmäßig 12 Mark im Monat. Am 1. April erklärt die Polizei in
Glatz. wie die Kindesmutter vor Gericht aussagte: „Das Kind muß binnen
24 Stunden aus Glatz herausgeschafft werden!" Der Vormund — über die
Bedeutung der Vormundschaft wird noch besonders zu reden sein — lehnt es
ab. für das Kind beim Bürgermeister vorstellig zu werden. Die Mutter selbst
bittet vergebens. Da faßt sie auf der Suche nach einem neuen Unterkunfts¬
plätzchen die Verzweiflung: sie tötet ihr Kind. Die Todesstrafe wurde im
Gnadenwege' in zehnjährige Zuchthausstrafe verwandelt, „weil die Verurteilte
sich durch die Maßnahmen einer Polizeiverwaltung und verschiedener Gemeinde¬
behörden in einer Notlage befand", wie sich der preußische Minister des Innern
1910 in einem besonderen Erlaß ausdrückte. Jene Behörden waren gesetzlich
verpflichtet, sich des Kindes schon deshalb anzunehmen, weil sie die Aufsicht
über die Kostkinder zu führen, d. h. dafür zu sorgen hatten, daß das Kind
richtig versorgt wurde. Aber auch als Armenbehörde waren sie, wo die Mittel
für den Unterhalt des Kindes fehlten, verpflichtet, selbst einzuspringen. Da sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/170>, abgerufen am 15.06.2024.