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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grundfragen der Jugendfürsorge

Die Versorgung der Armen ist zwar im Grunde von den modernen Gesetzen
als eine Staatslast angesehen worden, man hat sie aber in Wirklichkeit wieder
wie früher den kleinen Gemeindeverbänden überlassen. Die Gemeinden und die
Gutsbezirke müssen für ihre Armen selbst sorgen. Das ist dem Staatssäckel sehr
angenehm, aber die Kassen der kleinen Verbände werden dadurch oft in einer Weise
belastet, die ihnen die Armenpflege als höchst beschwerlich erscheinen lassen muß.
Wenn eine kleine, arme Fischergemeinde, deren ganze Steuerkraft 150 Mark
beträgt, für vier arme Kinder sorgen soll, so wird die Steuer, die jeder einzelne
zu zahlen hat, auf das Vier- oder Fünffache erhöht. Wenn gar ein solches
armes Kind einer ärztlichen Behandlung und Kur bedarf, wenn für seine Er¬
ziehung etwa die Unterbringung in eine besondere Anstalt erforderlich ist. so
kann man verstehen, wenn die Gemeinde sich auf jede Weise solcher Lasten, die
ihre Kräfte übersteigen, zu entledigen sucht. Der Leiter eines solchen Gemein¬
wesens handelt ja schließlich nur in Erfüllung seiner Pflichten und in verstän¬
diger Wahrung der Interessen seiner Gemeinde, wenn er jeder Möglichkeit,
einmal einem Kinde Armenunterstützung gewähren zu müssen, nach Kräften
vorzubeugen sucht.

Dazu kommt, daß der Leiter solcher kleinen Gemeinwesen unmöglich das
nötige Verständnis für die Wichtigkeit und die höheren Aufgaben öffentlicher
Kinderoersorgung haben kann. Wenn ein solches Kind nur einigermaßen so
untergebracht wird, wie es die ärmsten Kinder bei ihren Eltern haben, so
erscheint ihm das in Anbetracht der Umstände als vollkommen genügend.
Man kann von diesen Behörden, wenn man ihre finanzielle Lage und wenn
man ihre Unerfahrenheit in allen tieferen gesellschaftlichen Fragen, vorweg in
Dingen der Erziehung, beachtet, kaum ein anderes Verhalten erwarten, als
wie sie es nach obigem zeigen. Solche Rücksichtslosigkeit gegen die armen
Kinder ist nicht Bosheit und Schlechtigkeit der einzelnen Person, die dieses Amt
einnimmt, sondern sie ist die unvermeidliche traurige Folge einer ganz ver¬
fehlten Ordnung der Armenpflege.

Gehen wir von dieser Unterlage der Mißstände aus, so entrollt sich uns
ein freundlicheres Bild. Die Erkenntnis des Übels hat an vielen Stellen schon
Versuche zur Besserung gezeitigt. An die Stelle jener unfähigen kleinen Ver¬
bände sind vielfach größere Organe getreten. In Preußen haben die Land¬
armenverbände, also meist die Provinzen, kraft Gesetzes einen Teil der Kinder¬
fürsorge, die Versorgung der Blinden, Taubstummen, schwachsinnigen Kinder
übertragen erhalten. Verwandte Einrichtungen finden sich in vielen anderen
Staaten, von denen manche kleineren die Kinderfürsorge unmittelbar zur Staats¬
aufgabe gehabt haben. Manchmal, wie vor allem im Königreich Sachsen, dessen
Entwicklung in vielen Gebieten der Kinderfürsorge geradezu mustergültig ist,
sind da einheitliche Einrichtungen für ein ganzes Land gebildet worden.
Manchmal haben die größeren Verbände sich in noch breiterem Umfange frei¬
willig der Kinder angenommen; die Provinz Hannover nimmt den kleineren


Grundfragen der Jugendfürsorge

Die Versorgung der Armen ist zwar im Grunde von den modernen Gesetzen
als eine Staatslast angesehen worden, man hat sie aber in Wirklichkeit wieder
wie früher den kleinen Gemeindeverbänden überlassen. Die Gemeinden und die
Gutsbezirke müssen für ihre Armen selbst sorgen. Das ist dem Staatssäckel sehr
angenehm, aber die Kassen der kleinen Verbände werden dadurch oft in einer Weise
belastet, die ihnen die Armenpflege als höchst beschwerlich erscheinen lassen muß.
Wenn eine kleine, arme Fischergemeinde, deren ganze Steuerkraft 150 Mark
beträgt, für vier arme Kinder sorgen soll, so wird die Steuer, die jeder einzelne
zu zahlen hat, auf das Vier- oder Fünffache erhöht. Wenn gar ein solches
armes Kind einer ärztlichen Behandlung und Kur bedarf, wenn für seine Er¬
ziehung etwa die Unterbringung in eine besondere Anstalt erforderlich ist. so
kann man verstehen, wenn die Gemeinde sich auf jede Weise solcher Lasten, die
ihre Kräfte übersteigen, zu entledigen sucht. Der Leiter eines solchen Gemein¬
wesens handelt ja schließlich nur in Erfüllung seiner Pflichten und in verstän¬
diger Wahrung der Interessen seiner Gemeinde, wenn er jeder Möglichkeit,
einmal einem Kinde Armenunterstützung gewähren zu müssen, nach Kräften
vorzubeugen sucht.

Dazu kommt, daß der Leiter solcher kleinen Gemeinwesen unmöglich das
nötige Verständnis für die Wichtigkeit und die höheren Aufgaben öffentlicher
Kinderoersorgung haben kann. Wenn ein solches Kind nur einigermaßen so
untergebracht wird, wie es die ärmsten Kinder bei ihren Eltern haben, so
erscheint ihm das in Anbetracht der Umstände als vollkommen genügend.
Man kann von diesen Behörden, wenn man ihre finanzielle Lage und wenn
man ihre Unerfahrenheit in allen tieferen gesellschaftlichen Fragen, vorweg in
Dingen der Erziehung, beachtet, kaum ein anderes Verhalten erwarten, als
wie sie es nach obigem zeigen. Solche Rücksichtslosigkeit gegen die armen
Kinder ist nicht Bosheit und Schlechtigkeit der einzelnen Person, die dieses Amt
einnimmt, sondern sie ist die unvermeidliche traurige Folge einer ganz ver¬
fehlten Ordnung der Armenpflege.

Gehen wir von dieser Unterlage der Mißstände aus, so entrollt sich uns
ein freundlicheres Bild. Die Erkenntnis des Übels hat an vielen Stellen schon
Versuche zur Besserung gezeitigt. An die Stelle jener unfähigen kleinen Ver¬
bände sind vielfach größere Organe getreten. In Preußen haben die Land¬
armenverbände, also meist die Provinzen, kraft Gesetzes einen Teil der Kinder¬
fürsorge, die Versorgung der Blinden, Taubstummen, schwachsinnigen Kinder
übertragen erhalten. Verwandte Einrichtungen finden sich in vielen anderen
Staaten, von denen manche kleineren die Kinderfürsorge unmittelbar zur Staats¬
aufgabe gehabt haben. Manchmal, wie vor allem im Königreich Sachsen, dessen
Entwicklung in vielen Gebieten der Kinderfürsorge geradezu mustergültig ist,
sind da einheitliche Einrichtungen für ein ganzes Land gebildet worden.
Manchmal haben die größeren Verbände sich in noch breiterem Umfange frei¬
willig der Kinder angenommen; die Provinz Hannover nimmt den kleineren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/172>, abgerufen am 15.06.2024.