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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grundfragen der Jugendfürsorge

Ortsverbänden gerne die Unterbringung ihrer armen Kinder ab und versorgt
diese auf das beste. Ferner sind fast überall die größeren Verbände ver¬
pflichtet, die kleineren zu unterstützen, im Falle diese überlastet und außerstande
sind, ihre Pflichten zu erfüllen. Das geschieht auch; allein der Nachweis der
Überlastung ist nicht so einfach. Bis es zu ihm kommt, sind die kleineren Ver¬
bände doch in einer sehr schwierigen Lage. Nur wo zufällig der zu unter¬
stützende Verband in der Leitung des größeren, der ihn unterstützen muß, die
Mehrheit besitzt, da kann er eine solche Unterstützung leicht erlangen. So
gehört z. B. die Stadt München infolge solcher Umstände zu den überlasteten
Verbänden; sie wird von dem größeren Verband, in dem sie selbst die Stimmen¬
mehrheit, besitzt, unterstützt. Im ganzen fruchtet aber diese Bestimmung weniger.
Entlastet sie auch finanziell die kleinen Gemeinden -- die Durchführung der
Armenpflege für Kinder bleibt doch in den Händen der kleinen Behörden, die
innerlich, geistig dieser Aufgabe nicht gewachsen sein können. Wir müssen also,
wie es übrigens die berufenen Organe der Armenpflege schon oft getan haben,
verlangen, daß die Armenpflege für Kinder nur von größeren Verbänden aus¬
geübt werde, die finanziell wie geistig dieser Aufgabe gewachsen sind und daß
der Staat möglichst im Interesse der heranwachsenden Einviertelmillion armer
Kinder diesen Verbänden einen Teil der Lasten abnehme.

Die günstigen Folgen eines solchen Systems können wir in Frankreich
verfolgen. Dort ist die Armenpflege für Kinder seit mehr als hundert Jahren
als selbständiger öffentlicher Dienstzweig organisiert. Jedes Departement hat
seine Aufnahmehospize, die von Unverständigen gelegentlich als Findelanstalten
verschrien werden. In ihnen findet jedes kleine hilfsbedürftige Kind, einerlei
von wem es gebracht wird, jederzeit Aufnahme und Versorgung. Von hier
aus wird es in Pflegefamilien gegeben, die von staatlichen Inspektoren regel¬
mäßig besucht werden und die in den meisten Departements ihre Aufgabe vor¬
trefflich erfüllen.

Gerade die staatliche Kontrolle fehlt nun bedauerlicherweise in der deutschen
Armenpflege. Sie ist keiner durchgreifenden höheren Aufsicht unterworfen.
Die Verwaltungsinstanz ist entscheidend für die Beschwerden des Armen. So
kommt es, daß nicht nur jene kleinen Verbände die gröbsten Fehler immer
wieder begehen können, sondern daß auch große Verbände auf das äußerste
rückständig sind. Wenn die Armenverwaltung einer Großstadt ein armes Kind
nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres in eine Dienststelle bringt und
bei den ersten Schwierigkeiten, die sich ergeben -- und gerade in diesem Alter
ergeben sich so oft Schwierigkeiten, deren Behandlung entscheidend für das
Leben zu sein pflegt --, nicht sich dieses Kindes besonders annimmt, um seine
Erziehung zu vollenden und zu sichern, sondern kaltblütig dem Vormund
schreibt: "Ihr Mündel benimmt sich nicht, wie wir es wünschen; wir kümmern
uns nicht mehr darum, weil es sich selbst ernähren kann", so ist ein solches
Verhalten noch weit jämmerlicher und verächtlicher als alles, was vorhin von.


"renzboten II 1914 11
Grundfragen der Jugendfürsorge

Ortsverbänden gerne die Unterbringung ihrer armen Kinder ab und versorgt
diese auf das beste. Ferner sind fast überall die größeren Verbände ver¬
pflichtet, die kleineren zu unterstützen, im Falle diese überlastet und außerstande
sind, ihre Pflichten zu erfüllen. Das geschieht auch; allein der Nachweis der
Überlastung ist nicht so einfach. Bis es zu ihm kommt, sind die kleineren Ver¬
bände doch in einer sehr schwierigen Lage. Nur wo zufällig der zu unter¬
stützende Verband in der Leitung des größeren, der ihn unterstützen muß, die
Mehrheit besitzt, da kann er eine solche Unterstützung leicht erlangen. So
gehört z. B. die Stadt München infolge solcher Umstände zu den überlasteten
Verbänden; sie wird von dem größeren Verband, in dem sie selbst die Stimmen¬
mehrheit, besitzt, unterstützt. Im ganzen fruchtet aber diese Bestimmung weniger.
Entlastet sie auch finanziell die kleinen Gemeinden — die Durchführung der
Armenpflege für Kinder bleibt doch in den Händen der kleinen Behörden, die
innerlich, geistig dieser Aufgabe nicht gewachsen sein können. Wir müssen also,
wie es übrigens die berufenen Organe der Armenpflege schon oft getan haben,
verlangen, daß die Armenpflege für Kinder nur von größeren Verbänden aus¬
geübt werde, die finanziell wie geistig dieser Aufgabe gewachsen sind und daß
der Staat möglichst im Interesse der heranwachsenden Einviertelmillion armer
Kinder diesen Verbänden einen Teil der Lasten abnehme.

Die günstigen Folgen eines solchen Systems können wir in Frankreich
verfolgen. Dort ist die Armenpflege für Kinder seit mehr als hundert Jahren
als selbständiger öffentlicher Dienstzweig organisiert. Jedes Departement hat
seine Aufnahmehospize, die von Unverständigen gelegentlich als Findelanstalten
verschrien werden. In ihnen findet jedes kleine hilfsbedürftige Kind, einerlei
von wem es gebracht wird, jederzeit Aufnahme und Versorgung. Von hier
aus wird es in Pflegefamilien gegeben, die von staatlichen Inspektoren regel¬
mäßig besucht werden und die in den meisten Departements ihre Aufgabe vor¬
trefflich erfüllen.

Gerade die staatliche Kontrolle fehlt nun bedauerlicherweise in der deutschen
Armenpflege. Sie ist keiner durchgreifenden höheren Aufsicht unterworfen.
Die Verwaltungsinstanz ist entscheidend für die Beschwerden des Armen. So
kommt es, daß nicht nur jene kleinen Verbände die gröbsten Fehler immer
wieder begehen können, sondern daß auch große Verbände auf das äußerste
rückständig sind. Wenn die Armenverwaltung einer Großstadt ein armes Kind
nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres in eine Dienststelle bringt und
bei den ersten Schwierigkeiten, die sich ergeben — und gerade in diesem Alter
ergeben sich so oft Schwierigkeiten, deren Behandlung entscheidend für das
Leben zu sein pflegt —, nicht sich dieses Kindes besonders annimmt, um seine
Erziehung zu vollenden und zu sichern, sondern kaltblütig dem Vormund
schreibt: „Ihr Mündel benimmt sich nicht, wie wir es wünschen; wir kümmern
uns nicht mehr darum, weil es sich selbst ernähren kann", so ist ein solches
Verhalten noch weit jämmerlicher und verächtlicher als alles, was vorhin von.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/173>, abgerufen am 15.06.2024.