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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Auge vorüberziehen zu lassen. Wir lassen den Sinnbildern den Vortritt, die
ursprünglich vollebendige Rechtshandlungen waren, zu ihrer symbolischen
Schattenhaftigkeit erst durch das Verschwinden des Verständnisses ihrer wahren
Bedeutung herabsanken.

In der Vorstellung vieler Naturvölker bewirkt das Trinken gemeinsamen
Blutes eine wirkliche Einheit der Seele und des ganzen Wesens. Die Bluts¬
brüder, die Blutsschwestern werden eins durch den Blutstrunk. Die rechtlich
ganz von selbst eintretende Folge dieses metaphysischen Vorganges ist vor
allem die Vermögensgemeinschaft. Später verliert sich diese Vorstellung und
der Blutstrunk wird zum bloßen Sinnbild der Verbrüderung. Auch bei der
Eheschließung ging die ursprüngliche Vorstellung dahin, daß durch den Ritus,
das gemeinsame von religiösen Zeremonien begleitete Mahl das physische Band
tatsächlich geschlossen wurde, dessen selbstverständliche Folge dann die rechtliche
Zusammengehörigkeit war. Aus diesem gemeinsamen Mahle wurde im alten
Rom das gemeinsame Opfer eines Kuchens aus Speltmehl vor dem obersten
Priester. Im frühen, deutschen Mittelalter aber erscheint die uralte Anschauung
in dem Brauche, den Eheleuten, die bereits die gemeinsame Wohnung bezogen
haben, am Morgen ein gebratenes Huhn, das "minnsliuon" darzureichen.
Erst danach erfolgt der Kirchgang die Messe.

Der beste Beweis, daß in der Anschauung des Naturvolkes wirklich eine
metaphysische Einheit zwischen Mann und Weib durch eine sakrale Handlung her¬
gestellt worden ist, ist die noch jetzt bei sehr vielen Naturvölkern übliche Vor¬
stellung, daß der Ehemann durch die Schwangerschaft seines Weibes in physische
Mitleidenschaft gezogen wird. Er muß sich in dieser Zeit Entbehrungen unter¬
werfen und Ruhevorschriften unterziehen. Auf Java darf er in dieser Zeit kein
Tier töten. Einzelne afrikanische Negerstämme verbieten ihm, einen Toten zu
berühren, ein Schwein zu schlachten, ein Haus zu bauen, einen Nagel ein¬
zuschlagen, ein Loch zu bohren, einen Baum zu pflanzen usw. Er gilt als
durch geheimnisvolle, durch den Ritus befestigte Macht mit dem körperlichen
Organismus der Frau verbunden. Man kennt diese Bräuche unter dem Namen
Louvsclc. Auch der indische Brauch, der verlangt, daß sich die Witwe nach
dem Tode des Mannes den Flammen übergibt, eine Sitte oder besser eine
religiöse Anschauung, gegen welche die englische Regierung noch jetzt mit
aller Gewalt kämpfen muß, entspricht der gleichen Vorstellung der Lebens¬
einheit.

Das Recht der Naturvölker ist durchsetzt von religiösen Vorstellungen. Die
germanischen Völkerschaften riefen bei Vertragsschlüssen einen ihrer Götter, meist
Donar, zum Zeugen an, daß ihnen die Wahrung der getroffenen Abreden
heilig sei. Sie folgten aber dabei der Anschauung, daß es möglich sei, durch
eine rituelle Handlung, ein Beschwören, die Gottheit, ob sie nun wollte oder
nicht, gewaltsam in den Rechtsakt hineinzuziehen, gewissermaßen als einen Kontrakts¬
zeugen, dessen Strafgericht man sich freiwillig für den Fall des Kontraktsbruches


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Auge vorüberziehen zu lassen. Wir lassen den Sinnbildern den Vortritt, die
ursprünglich vollebendige Rechtshandlungen waren, zu ihrer symbolischen
Schattenhaftigkeit erst durch das Verschwinden des Verständnisses ihrer wahren
Bedeutung herabsanken.

In der Vorstellung vieler Naturvölker bewirkt das Trinken gemeinsamen
Blutes eine wirkliche Einheit der Seele und des ganzen Wesens. Die Bluts¬
brüder, die Blutsschwestern werden eins durch den Blutstrunk. Die rechtlich
ganz von selbst eintretende Folge dieses metaphysischen Vorganges ist vor
allem die Vermögensgemeinschaft. Später verliert sich diese Vorstellung und
der Blutstrunk wird zum bloßen Sinnbild der Verbrüderung. Auch bei der
Eheschließung ging die ursprüngliche Vorstellung dahin, daß durch den Ritus,
das gemeinsame von religiösen Zeremonien begleitete Mahl das physische Band
tatsächlich geschlossen wurde, dessen selbstverständliche Folge dann die rechtliche
Zusammengehörigkeit war. Aus diesem gemeinsamen Mahle wurde im alten
Rom das gemeinsame Opfer eines Kuchens aus Speltmehl vor dem obersten
Priester. Im frühen, deutschen Mittelalter aber erscheint die uralte Anschauung
in dem Brauche, den Eheleuten, die bereits die gemeinsame Wohnung bezogen
haben, am Morgen ein gebratenes Huhn, das „minnsliuon" darzureichen.
Erst danach erfolgt der Kirchgang die Messe.

Der beste Beweis, daß in der Anschauung des Naturvolkes wirklich eine
metaphysische Einheit zwischen Mann und Weib durch eine sakrale Handlung her¬
gestellt worden ist, ist die noch jetzt bei sehr vielen Naturvölkern übliche Vor¬
stellung, daß der Ehemann durch die Schwangerschaft seines Weibes in physische
Mitleidenschaft gezogen wird. Er muß sich in dieser Zeit Entbehrungen unter¬
werfen und Ruhevorschriften unterziehen. Auf Java darf er in dieser Zeit kein
Tier töten. Einzelne afrikanische Negerstämme verbieten ihm, einen Toten zu
berühren, ein Schwein zu schlachten, ein Haus zu bauen, einen Nagel ein¬
zuschlagen, ein Loch zu bohren, einen Baum zu pflanzen usw. Er gilt als
durch geheimnisvolle, durch den Ritus befestigte Macht mit dem körperlichen
Organismus der Frau verbunden. Man kennt diese Bräuche unter dem Namen
Louvsclc. Auch der indische Brauch, der verlangt, daß sich die Witwe nach
dem Tode des Mannes den Flammen übergibt, eine Sitte oder besser eine
religiöse Anschauung, gegen welche die englische Regierung noch jetzt mit
aller Gewalt kämpfen muß, entspricht der gleichen Vorstellung der Lebens¬
einheit.

Das Recht der Naturvölker ist durchsetzt von religiösen Vorstellungen. Die
germanischen Völkerschaften riefen bei Vertragsschlüssen einen ihrer Götter, meist
Donar, zum Zeugen an, daß ihnen die Wahrung der getroffenen Abreden
heilig sei. Sie folgten aber dabei der Anschauung, daß es möglich sei, durch
eine rituelle Handlung, ein Beschwören, die Gottheit, ob sie nun wollte oder
nicht, gewaltsam in den Rechtsakt hineinzuziehen, gewissermaßen als einen Kontrakts¬
zeugen, dessen Strafgericht man sich freiwillig für den Fall des Kontraktsbruches


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[0032] Rcchtssymbolik Auge vorüberziehen zu lassen. Wir lassen den Sinnbildern den Vortritt, die ursprünglich vollebendige Rechtshandlungen waren, zu ihrer symbolischen Schattenhaftigkeit erst durch das Verschwinden des Verständnisses ihrer wahren Bedeutung herabsanken. In der Vorstellung vieler Naturvölker bewirkt das Trinken gemeinsamen Blutes eine wirkliche Einheit der Seele und des ganzen Wesens. Die Bluts¬ brüder, die Blutsschwestern werden eins durch den Blutstrunk. Die rechtlich ganz von selbst eintretende Folge dieses metaphysischen Vorganges ist vor allem die Vermögensgemeinschaft. Später verliert sich diese Vorstellung und der Blutstrunk wird zum bloßen Sinnbild der Verbrüderung. Auch bei der Eheschließung ging die ursprüngliche Vorstellung dahin, daß durch den Ritus, das gemeinsame von religiösen Zeremonien begleitete Mahl das physische Band tatsächlich geschlossen wurde, dessen selbstverständliche Folge dann die rechtliche Zusammengehörigkeit war. Aus diesem gemeinsamen Mahle wurde im alten Rom das gemeinsame Opfer eines Kuchens aus Speltmehl vor dem obersten Priester. Im frühen, deutschen Mittelalter aber erscheint die uralte Anschauung in dem Brauche, den Eheleuten, die bereits die gemeinsame Wohnung bezogen haben, am Morgen ein gebratenes Huhn, das „minnsliuon" darzureichen. Erst danach erfolgt der Kirchgang die Messe. Der beste Beweis, daß in der Anschauung des Naturvolkes wirklich eine metaphysische Einheit zwischen Mann und Weib durch eine sakrale Handlung her¬ gestellt worden ist, ist die noch jetzt bei sehr vielen Naturvölkern übliche Vor¬ stellung, daß der Ehemann durch die Schwangerschaft seines Weibes in physische Mitleidenschaft gezogen wird. Er muß sich in dieser Zeit Entbehrungen unter¬ werfen und Ruhevorschriften unterziehen. Auf Java darf er in dieser Zeit kein Tier töten. Einzelne afrikanische Negerstämme verbieten ihm, einen Toten zu berühren, ein Schwein zu schlachten, ein Haus zu bauen, einen Nagel ein¬ zuschlagen, ein Loch zu bohren, einen Baum zu pflanzen usw. Er gilt als durch geheimnisvolle, durch den Ritus befestigte Macht mit dem körperlichen Organismus der Frau verbunden. Man kennt diese Bräuche unter dem Namen Louvsclc. Auch der indische Brauch, der verlangt, daß sich die Witwe nach dem Tode des Mannes den Flammen übergibt, eine Sitte oder besser eine religiöse Anschauung, gegen welche die englische Regierung noch jetzt mit aller Gewalt kämpfen muß, entspricht der gleichen Vorstellung der Lebens¬ einheit. Das Recht der Naturvölker ist durchsetzt von religiösen Vorstellungen. Die germanischen Völkerschaften riefen bei Vertragsschlüssen einen ihrer Götter, meist Donar, zum Zeugen an, daß ihnen die Wahrung der getroffenen Abreden heilig sei. Sie folgten aber dabei der Anschauung, daß es möglich sei, durch eine rituelle Handlung, ein Beschwören, die Gottheit, ob sie nun wollte oder nicht, gewaltsam in den Rechtsakt hineinzuziehen, gewissermaßen als einen Kontrakts¬ zeugen, dessen Strafgericht man sich freiwillig für den Fall des Kontraktsbruches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/32>, abgerufen am 22.05.2024.