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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Rcchtssymbolik

noch lange Zeit unverändert. Das Ritual war eine bloße Scheinzahlung, ein
äußerliches Sinnbild des durch den Kauf und das Darlehen gefügten Nechts-
bandes. Die wirkliche Zahlung lag außerhalb, war bereits vorangegangen.

Bei vielen Völkern in Indien und im Sudan schließt der ältere Bruder,
dessen jüngerer vor ihm heiratet, eine Art Ehe mit einer Pflanze oder Puppe
ab. Warum? Weil früher bei ihnen der Rechtssatz galt, daß Geschwister nur
in der Reihenfolge des Alters heiraten durften. Ursprünglich erwarb der Mann
das Weib im Raub. Man denke an die alte Sage vom Raub der Sabine"
rinnen. Als der Frauenraub fiel, blieb der Scheinraub übrig und auch dieser
verfluchtste sich in bloße Raubformen, symbolische Rauberinnerungen. So er¬
scheinen noch jetzt bei den Finnen und Ehlen, wie Kohler in seinem Aufsatz
"Recht, Glaube und Sitte" in Grünhuts Zeitschrift Band 19 erzählt, die Braut¬
werber unter fingierten Vorwänden. "Die Braut versteckt sich. Der Bräutigam
rückt mit Bewaffneten an. Das Haus wird verbarrikadiert, Schüsse fallen, die
Braut wird eingeholt und verhüllt, um ihr Schreien zu dämpfen und uoch ein
paar Tage sitzt sie grollend da mit niedergeschlagenen Augen, ohne dem Mann
zu antworten."

Nach alter deutscher Rechtsanschauung sührt der Erschlagene selbst die An¬
klage gegen den Mörder. Der Leichnam des Erschlagenen wird von den Ver¬
wandten oder Freunden vor Gericht gebracht. Vor dem Leichnam wird verhandelt;
vor ihn wird der Mörder berufen. Das ist das Bahrrecht. Hagen muß an
der Leiche Siegfrieds erscheinen. Das führte mit der Zeit zu Unzuträglichkeiten,
besonders wenn man des Täters nicht alsbald habhaft werden konnte und der
Leichnam "schmeckend" wurde, wie das alte Weistum statt unseres "riechend"
sagt. Man hackte also dem Toten die rechte Hand ab, bevor man ihn der
Erde übergab. Die Hand wurde verwahrt. Sie vertrat, wenn es gelang, den
Mörder vor Gericht zu bringen, symbolisch den Toten in der Verhandlung.
Das war noch Brauch im vierzehnten Jahrhundert. Im fünfzehnten und
sechzehnten Jahrhundert verliert das Symbol immer mehr die ursprüngliche
Farbe. An Stelle der Hand treten die blutigen Kleider, die also keineswegs
bloßes Beweismittel waren.

Wurde einer im Hause überfallen, so hatte er nach altem deutschen Rechte
das Hausgesinde als Zeugen vor Gericht zu bringen. Zeugen waren unerläßlich.
Besonders dann, wenn er den Eindringling erschlagen hatte und sich' reinigen
sollte. Wie nun, wenn er kein Gesinde hatte? Dann griff er zu anderen Zeugen.
Er nahm, wie eine alte Urkunde berichtet, drei Halme von seinem Strohsack,
seinen Hund/ der im Hof gewacht hatte, an ein Seil oder die Katze, die beim
Herd gesessen, oder den Hahn, der bei den Hühnern gewacht, zog mit den Tieren
vor Gericht und beschwor in ihrer Gegenwart das Geschehene. Die Tiere ver¬
treten symbolisch die Zeugen.

Die staatliche Gesetzgebung schützte früher den Mörder, wenn ihm die Auf¬
nahme in ein Kloster, Stift oder Meierhof gelang, dem das Asylrecht verliehen


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noch lange Zeit unverändert. Das Ritual war eine bloße Scheinzahlung, ein
äußerliches Sinnbild des durch den Kauf und das Darlehen gefügten Nechts-
bandes. Die wirkliche Zahlung lag außerhalb, war bereits vorangegangen.

Bei vielen Völkern in Indien und im Sudan schließt der ältere Bruder,
dessen jüngerer vor ihm heiratet, eine Art Ehe mit einer Pflanze oder Puppe
ab. Warum? Weil früher bei ihnen der Rechtssatz galt, daß Geschwister nur
in der Reihenfolge des Alters heiraten durften. Ursprünglich erwarb der Mann
das Weib im Raub. Man denke an die alte Sage vom Raub der Sabine»
rinnen. Als der Frauenraub fiel, blieb der Scheinraub übrig und auch dieser
verfluchtste sich in bloße Raubformen, symbolische Rauberinnerungen. So er¬
scheinen noch jetzt bei den Finnen und Ehlen, wie Kohler in seinem Aufsatz
„Recht, Glaube und Sitte" in Grünhuts Zeitschrift Band 19 erzählt, die Braut¬
werber unter fingierten Vorwänden. „Die Braut versteckt sich. Der Bräutigam
rückt mit Bewaffneten an. Das Haus wird verbarrikadiert, Schüsse fallen, die
Braut wird eingeholt und verhüllt, um ihr Schreien zu dämpfen und uoch ein
paar Tage sitzt sie grollend da mit niedergeschlagenen Augen, ohne dem Mann
zu antworten."

Nach alter deutscher Rechtsanschauung sührt der Erschlagene selbst die An¬
klage gegen den Mörder. Der Leichnam des Erschlagenen wird von den Ver¬
wandten oder Freunden vor Gericht gebracht. Vor dem Leichnam wird verhandelt;
vor ihn wird der Mörder berufen. Das ist das Bahrrecht. Hagen muß an
der Leiche Siegfrieds erscheinen. Das führte mit der Zeit zu Unzuträglichkeiten,
besonders wenn man des Täters nicht alsbald habhaft werden konnte und der
Leichnam „schmeckend" wurde, wie das alte Weistum statt unseres „riechend"
sagt. Man hackte also dem Toten die rechte Hand ab, bevor man ihn der
Erde übergab. Die Hand wurde verwahrt. Sie vertrat, wenn es gelang, den
Mörder vor Gericht zu bringen, symbolisch den Toten in der Verhandlung.
Das war noch Brauch im vierzehnten Jahrhundert. Im fünfzehnten und
sechzehnten Jahrhundert verliert das Symbol immer mehr die ursprüngliche
Farbe. An Stelle der Hand treten die blutigen Kleider, die also keineswegs
bloßes Beweismittel waren.

Wurde einer im Hause überfallen, so hatte er nach altem deutschen Rechte
das Hausgesinde als Zeugen vor Gericht zu bringen. Zeugen waren unerläßlich.
Besonders dann, wenn er den Eindringling erschlagen hatte und sich' reinigen
sollte. Wie nun, wenn er kein Gesinde hatte? Dann griff er zu anderen Zeugen.
Er nahm, wie eine alte Urkunde berichtet, drei Halme von seinem Strohsack,
seinen Hund/ der im Hof gewacht hatte, an ein Seil oder die Katze, die beim
Herd gesessen, oder den Hahn, der bei den Hühnern gewacht, zog mit den Tieren
vor Gericht und beschwor in ihrer Gegenwart das Geschehene. Die Tiere ver¬
treten symbolisch die Zeugen.

Die staatliche Gesetzgebung schützte früher den Mörder, wenn ihm die Auf¬
nahme in ein Kloster, Stift oder Meierhof gelang, dem das Asylrecht verliehen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/34>, abgerufen am 22.05.2024.