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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

umgestaltete Auflage; Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts,
I.Teil; Berlin und Leipzig, J.G Göschen). Für das siebzehnte Jahrhundert
verwertet der Verfasser, der den richtigen Takt besitzt, ein Verzeichnis der von
ihm benutzten Bücher beizugebe", in erster Linie d?n zweiten Band des Hand¬
buches der Musikgeschichte von H. Niemann und hält sich auch sonst an die
neuesten Forschungsresultate. Er teilt seinen Stoff weder streng chronologisch
noch geographisch ein, sondern nach den verschiedenen in betracht kommenden
Gattungen der Tonkunst. Dieses Verfahren hat zweifellos große Vorzüge, da
es die klarste Darlegung der Entwicklungslinien gestattet. Es verführt aber
auch leicht dazu, die Bedeutung der genialen Meister nicht scharf genug hervor¬
treten zu lassen. So wird der Leser, dem es übrigens nicht an musikalischer
Bildung fehlen darf, über die Entwicklungen gut unterrichtet; aber das Bild,
das er von Heinrich Schütz erhält, ist doch zu blaß, und noch mehr enttäuscht
die Darstellung Handels, weil einem Genius gegenüber, der unter uns noch
lebendig ist und den wir immer tiefer in uns aufnehmen sollten, mehr zu er¬
warten gewesen wäre. (Für eine etwaige Neuauflage sei bemerkt, daß die
Serenade von 1708 und das Oratorium von 1720, die beide die Sage von
Acis und Galatea behandeln, nicht identisch, sondern durchaus verschiedene
Kompositionen sind.) Der Abschnitt über Händel und zugleich das erste
Bändchen schließt mit der Behauptung, bei aller Bedeutung, die dem Meister
zukomme, könne man nicht verkennen, daß er nicht so tief sei wie Bach. Es
wäre kaum begreiflich, wie man dem Schöpfer des "Messias" gegenüber eine
solche Behauptung wagen kann, wäre es nicht überhaupt unserer Zeit so schwer,
auch in dem Einfachen die Tiefe zu empfinden. Aber der Historiker sollte der¬
artigen einseitigen Zeitneigungen entgegenarbeiten, statt ihnen selbst zu verfallen.
Die Literaturgeschichte hat es längst aufgegeben zu fragen, ob Goethe oder
Schiller der größere sei. Sollte die Musikgeschichte für diesen Standpunkt noch
nicht reif genug sein?

Es ist eine seltsame Willkürlichkeit, Händel dem siebzehnten, Bach dagegen
dem achtzehnten Jahrhundert zuzurechnen. Will man einmal aus inneren
Gründen (beide Meister lebten ja gleichzeitig) eine derartige Scheidung vor¬
nehmen, so müßte sie gerade umgekehrt ausfallen; denn Bach faßte auf allen
Gebieten seiner Tätigkeit die Bestrebungen des siebzehnten Jahrhunderts zu¬
sammen und stand einsam und unbegriffen neben dem anders empfindenden
Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, während Händel, der von der Oper
herkam und seine Oratorien für ein selbständig urteilendes Publikum schrieb,
doch weit mehr Berührungspunkte mit seinen Zeitgenossen hatte. Im ganzen
ersten Teil der Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts behandelt Grunsky
nur die Tonkunst Deutschlands im Zeitalter Bachs. An der Besprechung der
Werke Bachs selbst ist zu bedauern, daß der Verfasser seinen Spezialstudien
über die von dem Meister vorgenommenen Bearbeitungen eigener und fremder
Kompositionen einen zu breiten Raum gönnt, und daß die Darstellung über-


Neue Bücher über Musik

umgestaltete Auflage; Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts,
I.Teil; Berlin und Leipzig, J.G Göschen). Für das siebzehnte Jahrhundert
verwertet der Verfasser, der den richtigen Takt besitzt, ein Verzeichnis der von
ihm benutzten Bücher beizugebe», in erster Linie d?n zweiten Band des Hand¬
buches der Musikgeschichte von H. Niemann und hält sich auch sonst an die
neuesten Forschungsresultate. Er teilt seinen Stoff weder streng chronologisch
noch geographisch ein, sondern nach den verschiedenen in betracht kommenden
Gattungen der Tonkunst. Dieses Verfahren hat zweifellos große Vorzüge, da
es die klarste Darlegung der Entwicklungslinien gestattet. Es verführt aber
auch leicht dazu, die Bedeutung der genialen Meister nicht scharf genug hervor¬
treten zu lassen. So wird der Leser, dem es übrigens nicht an musikalischer
Bildung fehlen darf, über die Entwicklungen gut unterrichtet; aber das Bild,
das er von Heinrich Schütz erhält, ist doch zu blaß, und noch mehr enttäuscht
die Darstellung Handels, weil einem Genius gegenüber, der unter uns noch
lebendig ist und den wir immer tiefer in uns aufnehmen sollten, mehr zu er¬
warten gewesen wäre. (Für eine etwaige Neuauflage sei bemerkt, daß die
Serenade von 1708 und das Oratorium von 1720, die beide die Sage von
Acis und Galatea behandeln, nicht identisch, sondern durchaus verschiedene
Kompositionen sind.) Der Abschnitt über Händel und zugleich das erste
Bändchen schließt mit der Behauptung, bei aller Bedeutung, die dem Meister
zukomme, könne man nicht verkennen, daß er nicht so tief sei wie Bach. Es
wäre kaum begreiflich, wie man dem Schöpfer des „Messias" gegenüber eine
solche Behauptung wagen kann, wäre es nicht überhaupt unserer Zeit so schwer,
auch in dem Einfachen die Tiefe zu empfinden. Aber der Historiker sollte der¬
artigen einseitigen Zeitneigungen entgegenarbeiten, statt ihnen selbst zu verfallen.
Die Literaturgeschichte hat es längst aufgegeben zu fragen, ob Goethe oder
Schiller der größere sei. Sollte die Musikgeschichte für diesen Standpunkt noch
nicht reif genug sein?

Es ist eine seltsame Willkürlichkeit, Händel dem siebzehnten, Bach dagegen
dem achtzehnten Jahrhundert zuzurechnen. Will man einmal aus inneren
Gründen (beide Meister lebten ja gleichzeitig) eine derartige Scheidung vor¬
nehmen, so müßte sie gerade umgekehrt ausfallen; denn Bach faßte auf allen
Gebieten seiner Tätigkeit die Bestrebungen des siebzehnten Jahrhunderts zu¬
sammen und stand einsam und unbegriffen neben dem anders empfindenden
Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, während Händel, der von der Oper
herkam und seine Oratorien für ein selbständig urteilendes Publikum schrieb,
doch weit mehr Berührungspunkte mit seinen Zeitgenossen hatte. Im ganzen
ersten Teil der Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts behandelt Grunsky
nur die Tonkunst Deutschlands im Zeitalter Bachs. An der Besprechung der
Werke Bachs selbst ist zu bedauern, daß der Verfasser seinen Spezialstudien
über die von dem Meister vorgenommenen Bearbeitungen eigener und fremder
Kompositionen einen zu breiten Raum gönnt, und daß die Darstellung über-


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[0386] Neue Bücher über Musik umgestaltete Auflage; Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, I.Teil; Berlin und Leipzig, J.G Göschen). Für das siebzehnte Jahrhundert verwertet der Verfasser, der den richtigen Takt besitzt, ein Verzeichnis der von ihm benutzten Bücher beizugebe», in erster Linie d?n zweiten Band des Hand¬ buches der Musikgeschichte von H. Niemann und hält sich auch sonst an die neuesten Forschungsresultate. Er teilt seinen Stoff weder streng chronologisch noch geographisch ein, sondern nach den verschiedenen in betracht kommenden Gattungen der Tonkunst. Dieses Verfahren hat zweifellos große Vorzüge, da es die klarste Darlegung der Entwicklungslinien gestattet. Es verführt aber auch leicht dazu, die Bedeutung der genialen Meister nicht scharf genug hervor¬ treten zu lassen. So wird der Leser, dem es übrigens nicht an musikalischer Bildung fehlen darf, über die Entwicklungen gut unterrichtet; aber das Bild, das er von Heinrich Schütz erhält, ist doch zu blaß, und noch mehr enttäuscht die Darstellung Handels, weil einem Genius gegenüber, der unter uns noch lebendig ist und den wir immer tiefer in uns aufnehmen sollten, mehr zu er¬ warten gewesen wäre. (Für eine etwaige Neuauflage sei bemerkt, daß die Serenade von 1708 und das Oratorium von 1720, die beide die Sage von Acis und Galatea behandeln, nicht identisch, sondern durchaus verschiedene Kompositionen sind.) Der Abschnitt über Händel und zugleich das erste Bändchen schließt mit der Behauptung, bei aller Bedeutung, die dem Meister zukomme, könne man nicht verkennen, daß er nicht so tief sei wie Bach. Es wäre kaum begreiflich, wie man dem Schöpfer des „Messias" gegenüber eine solche Behauptung wagen kann, wäre es nicht überhaupt unserer Zeit so schwer, auch in dem Einfachen die Tiefe zu empfinden. Aber der Historiker sollte der¬ artigen einseitigen Zeitneigungen entgegenarbeiten, statt ihnen selbst zu verfallen. Die Literaturgeschichte hat es längst aufgegeben zu fragen, ob Goethe oder Schiller der größere sei. Sollte die Musikgeschichte für diesen Standpunkt noch nicht reif genug sein? Es ist eine seltsame Willkürlichkeit, Händel dem siebzehnten, Bach dagegen dem achtzehnten Jahrhundert zuzurechnen. Will man einmal aus inneren Gründen (beide Meister lebten ja gleichzeitig) eine derartige Scheidung vor¬ nehmen, so müßte sie gerade umgekehrt ausfallen; denn Bach faßte auf allen Gebieten seiner Tätigkeit die Bestrebungen des siebzehnten Jahrhunderts zu¬ sammen und stand einsam und unbegriffen neben dem anders empfindenden Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, während Händel, der von der Oper herkam und seine Oratorien für ein selbständig urteilendes Publikum schrieb, doch weit mehr Berührungspunkte mit seinen Zeitgenossen hatte. Im ganzen ersten Teil der Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts behandelt Grunsky nur die Tonkunst Deutschlands im Zeitalter Bachs. An der Besprechung der Werke Bachs selbst ist zu bedauern, daß der Verfasser seinen Spezialstudien über die von dem Meister vorgenommenen Bearbeitungen eigener und fremder Kompositionen einen zu breiten Raum gönnt, und daß die Darstellung über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/386>, abgerufen am 16.06.2024.