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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Politik des Fürsten Bülow

heiteren Gelassenheit ertragen, die dem Welt- und Menschenkenner als beste
Waffe zu Gebote steht gegenüber solchen Erbärmlichkeiten des Lebens, die an
berechtigten Stolz und an das Bewußtsein erfüllter Pflicht und hervorragender
Leistungen nicht heranreichen. Aber es zeigte sich, daß die Sache, das Interesse
des Staates und des Vaterlandes darunter litt. Es war nicht gut, daß der
Parteiegoismus vollkommen freie Hand behielt, die ganzen Voraussetzungen,
die geschichtlichen Grundlagen der politischen Situation willkürlich umzugestalten,
das Verständnis für das Geschehene zu zerstören, indem es der Öffentlichkeit
nur unter Gesichtspunkten dargestellt wurde, die nicht die Gedanken und Ab¬
sichten des damaligen leitenden Staatsmannes wiedergaben. Fürst Bülow hat
daher den Zeitpunkt für gekommen erachtet, persönlich in voller Öffentlichkeit
eine zusammenhängende Darstellung und Begründung seiner gesamten Politik zu
geben, ohne Spitze und Polemik, nicht die Absicht der Verteidigung voranstellend,
sondern die der Aufklärung.

Die Parteikritik knüpft immer an Einzelheiten an. Auf diesem Wege in¬
dessen kann man nicht zur gerechten Würdigung der Politik eines Staatsmannes
gelangen. Erstens weil man dann die Dinge nicht in der richtigen Perspektive
sieht, und zweitens weil auch der größte Staatsmann nur ein sterblicher Mensch
ist, der niemals die Dinge so sehen kann, wie sie hinterher wahrgenommen
werden können, wenn ein Teil der Folgen wirklich eingetreten ist. Es ist nichts
leichter, als selbst einem Bismarck sogenannte "Fehler" nachzuweisen, d. h.
Maßregeln, deren ungünstige Folgen ihm von dieser oder jener Seite voraus¬
gesagt wurden und auch wirklich eintraten. Waren darum die Warner jedesmal
klüger als Bismarck und hatte er unrecht, ihnen nicht zu folgen? Es ist selbst¬
verständlich, daß auch Bismarck nicht unfehlbar war und manchmal geirrt hat,
aber die nähere Prüfung dessen, was in den Augen überkluger Kritiker als Fehler
angesehen wurde, zeigt sehr häufig, daß er trotzdem im Sinne der höheren
Zwecke, die er verfolgen mußte, recht hatte und die Warner und Kritiker un¬
recht. Sehr oft muß der Staatsmann auf seinen vielverschlungenen Wegen von
vielen Übeln das kleinste wählen; dann ist es mitunter für andere Leute sehr
leicht und wohlfeil, klüger zu sein. Wir müssen die Politik eines Staatsmanns
als ein Ganzes auffassen und diesem Ganzen die Einzelheiten einfügen und
unterordnen.'

Was kann nun als der wesentliche Inhalt derPolitik des Fürsten Bülow
bezeichnet werden? Von welchem Grundgedanken ist sie ausgegangen, und auf
welchen Wegen suchte sie den Zweck jeder ernsthaften Politik, die Größe und
Wohlfahrt des Vaterlandes, zu erreichen? Man darf wohl sagen, daß Fürst
Bülow die zeitgemäße Weiterführung der Politik des Fürsten Bismarck anstrebte.
Das klingt vielleicht etwas sehr allgemein und unbestimmt, wenn man die Viel¬
seitigkeit und Größe der Politik Bismarcks in Betracht zieht. Sehr viel
bestimmter jedoch werden die Umrisse der Sache, wenn man mit gründlicher
und sorgfältiger Prüfung der Frage näher tritt, welche Bahn Fürst Bismarck


Die Politik des Fürsten Bülow

heiteren Gelassenheit ertragen, die dem Welt- und Menschenkenner als beste
Waffe zu Gebote steht gegenüber solchen Erbärmlichkeiten des Lebens, die an
berechtigten Stolz und an das Bewußtsein erfüllter Pflicht und hervorragender
Leistungen nicht heranreichen. Aber es zeigte sich, daß die Sache, das Interesse
des Staates und des Vaterlandes darunter litt. Es war nicht gut, daß der
Parteiegoismus vollkommen freie Hand behielt, die ganzen Voraussetzungen,
die geschichtlichen Grundlagen der politischen Situation willkürlich umzugestalten,
das Verständnis für das Geschehene zu zerstören, indem es der Öffentlichkeit
nur unter Gesichtspunkten dargestellt wurde, die nicht die Gedanken und Ab¬
sichten des damaligen leitenden Staatsmannes wiedergaben. Fürst Bülow hat
daher den Zeitpunkt für gekommen erachtet, persönlich in voller Öffentlichkeit
eine zusammenhängende Darstellung und Begründung seiner gesamten Politik zu
geben, ohne Spitze und Polemik, nicht die Absicht der Verteidigung voranstellend,
sondern die der Aufklärung.

Die Parteikritik knüpft immer an Einzelheiten an. Auf diesem Wege in¬
dessen kann man nicht zur gerechten Würdigung der Politik eines Staatsmannes
gelangen. Erstens weil man dann die Dinge nicht in der richtigen Perspektive
sieht, und zweitens weil auch der größte Staatsmann nur ein sterblicher Mensch
ist, der niemals die Dinge so sehen kann, wie sie hinterher wahrgenommen
werden können, wenn ein Teil der Folgen wirklich eingetreten ist. Es ist nichts
leichter, als selbst einem Bismarck sogenannte „Fehler" nachzuweisen, d. h.
Maßregeln, deren ungünstige Folgen ihm von dieser oder jener Seite voraus¬
gesagt wurden und auch wirklich eintraten. Waren darum die Warner jedesmal
klüger als Bismarck und hatte er unrecht, ihnen nicht zu folgen? Es ist selbst¬
verständlich, daß auch Bismarck nicht unfehlbar war und manchmal geirrt hat,
aber die nähere Prüfung dessen, was in den Augen überkluger Kritiker als Fehler
angesehen wurde, zeigt sehr häufig, daß er trotzdem im Sinne der höheren
Zwecke, die er verfolgen mußte, recht hatte und die Warner und Kritiker un¬
recht. Sehr oft muß der Staatsmann auf seinen vielverschlungenen Wegen von
vielen Übeln das kleinste wählen; dann ist es mitunter für andere Leute sehr
leicht und wohlfeil, klüger zu sein. Wir müssen die Politik eines Staatsmanns
als ein Ganzes auffassen und diesem Ganzen die Einzelheiten einfügen und
unterordnen.'

Was kann nun als der wesentliche Inhalt derPolitik des Fürsten Bülow
bezeichnet werden? Von welchem Grundgedanken ist sie ausgegangen, und auf
welchen Wegen suchte sie den Zweck jeder ernsthaften Politik, die Größe und
Wohlfahrt des Vaterlandes, zu erreichen? Man darf wohl sagen, daß Fürst
Bülow die zeitgemäße Weiterführung der Politik des Fürsten Bismarck anstrebte.
Das klingt vielleicht etwas sehr allgemein und unbestimmt, wenn man die Viel¬
seitigkeit und Größe der Politik Bismarcks in Betracht zieht. Sehr viel
bestimmter jedoch werden die Umrisse der Sache, wenn man mit gründlicher
und sorgfältiger Prüfung der Frage näher tritt, welche Bahn Fürst Bismarck


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/64>, abgerufen am 16.06.2024.