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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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I_IItima ratio regis

Sehen wir uns also die Armee, als das Instrument dieser möglichen
Gewalt, näher an, sehen wir uns den Staat an, insofern er Gewalt übt.




Alle Entwicklung ist Differenzierung. Was im Urzustand gemischt und
ungetrennt war, scheidet sich um so mehr, je mehr es sich vervollkommnet, und
lebt ein Sonderleben. So ist im Anfang staatlicher Entwicklung, im Zustand
des Stammes oder Dorfes, jeder Mann zugleich und ohne weiteres Krieger,
und er ist dies, weil der Krieg niemals aufhört, weil Krieg und Frieden nicht
geschieden sind. Erst auf einer höheren Entwicklungsstufe wird der Frieden
zum normalen Zustand, der Krieg zur Ausnahme, so sehr zur Ausnahme, daß
wir uns in den dreiundvierzig Friedensjahren fast gewöhnt hatten, nicht mehr
an seine Möglichkeit zu glauben, und uns vor dem ungewohnten Zustand mehr
fürchteten, als vor den Opfern, die der Krieg kosten würde.

Erst auf dieser Entwicklungsstufe, wo der Krieg zur Ausnahme geworden
ist. liegt der eigentliche Sinn des Staates im Frieden: die Bändigung und
Abwehr der Gewalt, der Schutz von Leben und Eigentum ist die Bedingung
für feine kulturelle Entwicklung und das freie Spiel seiner produktiven Kräfte.
Der Friede unter den Staaten beruht auf der Voraussetzung, daß jeder einen
Raum einnimmt, der seinen inneren Kräften genau entspricht -- Raum im
eigentlichen geographischen Sinne wie im übertragenen von wirtschaftlichen
Beziehungen, politischem Einfluß usw. Der Friede ist das Gleichgewicht der
Spannkräfte; er beruht, wie gesagt, nicht auf Gewalt, sondern auf Bändigung
und Unterdrückung des Gewaltsamen, wohl aber auf der Möglichkeit zur
Gewalt.

Krieg heißt, daß die Kräfte nicht mehr richtig verteilt sind, daß der eine
Staat eine Ausdehnung, der andere eine Zusammenpressung erfahren muß.
Krieg heißt, daß der Zustand des Vertrages und der Verhandlung, wie er auf
Grund der angenommenen Gleichheit der Kräfte bestand, aufgehoben ist und
die bloße Gewalt, die Kraft des Stärkeren entscheiden soll. Krieg heißt, daß
der Wille zweier Staaten, der in irgendeinem Punkte differiert, mit Gewalt
durchgesetzt werden soll, zum Beispiel 1870 der Wille Frankreichs in bezug auf
die spanische Thronkandidatur eines Hohenzollern. Dieser Kriegsgrund ist
natürlich nur ein Vorwand, er ist das sichtbare und benennbare Objekt des
Streites, das Symbol der zu groß gewordenen Spannung. Subjektiv, in
unserem Bewußtsein, haben wir den Eindruck, als sei Friede, weil wir be¬
freundet sind, und Krieg, weil wir uns verfeindet haben. In Wirklichkeit ist
es wahrscheinlich umgekehrt: die staatliche Notwendigkeit, die Verteilung der
außermenschlichen Kräfte bewirkt den Krieg, und wir unterliegen diesem Massen-
ereignis so, daß wir Feinde werden, uns hassen und verachten; wenn der
Ausgleich der Spannung erfolgt ist und mit naturgesetzlicher Notwendigkeit der
Friede sich wieder herstellt, so unterliegen wir diesem Ereignis aufs neue mit


I_IItima ratio regis

Sehen wir uns also die Armee, als das Instrument dieser möglichen
Gewalt, näher an, sehen wir uns den Staat an, insofern er Gewalt übt.




Alle Entwicklung ist Differenzierung. Was im Urzustand gemischt und
ungetrennt war, scheidet sich um so mehr, je mehr es sich vervollkommnet, und
lebt ein Sonderleben. So ist im Anfang staatlicher Entwicklung, im Zustand
des Stammes oder Dorfes, jeder Mann zugleich und ohne weiteres Krieger,
und er ist dies, weil der Krieg niemals aufhört, weil Krieg und Frieden nicht
geschieden sind. Erst auf einer höheren Entwicklungsstufe wird der Frieden
zum normalen Zustand, der Krieg zur Ausnahme, so sehr zur Ausnahme, daß
wir uns in den dreiundvierzig Friedensjahren fast gewöhnt hatten, nicht mehr
an seine Möglichkeit zu glauben, und uns vor dem ungewohnten Zustand mehr
fürchteten, als vor den Opfern, die der Krieg kosten würde.

Erst auf dieser Entwicklungsstufe, wo der Krieg zur Ausnahme geworden
ist. liegt der eigentliche Sinn des Staates im Frieden: die Bändigung und
Abwehr der Gewalt, der Schutz von Leben und Eigentum ist die Bedingung
für feine kulturelle Entwicklung und das freie Spiel seiner produktiven Kräfte.
Der Friede unter den Staaten beruht auf der Voraussetzung, daß jeder einen
Raum einnimmt, der seinen inneren Kräften genau entspricht — Raum im
eigentlichen geographischen Sinne wie im übertragenen von wirtschaftlichen
Beziehungen, politischem Einfluß usw. Der Friede ist das Gleichgewicht der
Spannkräfte; er beruht, wie gesagt, nicht auf Gewalt, sondern auf Bändigung
und Unterdrückung des Gewaltsamen, wohl aber auf der Möglichkeit zur
Gewalt.

Krieg heißt, daß die Kräfte nicht mehr richtig verteilt sind, daß der eine
Staat eine Ausdehnung, der andere eine Zusammenpressung erfahren muß.
Krieg heißt, daß der Zustand des Vertrages und der Verhandlung, wie er auf
Grund der angenommenen Gleichheit der Kräfte bestand, aufgehoben ist und
die bloße Gewalt, die Kraft des Stärkeren entscheiden soll. Krieg heißt, daß
der Wille zweier Staaten, der in irgendeinem Punkte differiert, mit Gewalt
durchgesetzt werden soll, zum Beispiel 1870 der Wille Frankreichs in bezug auf
die spanische Thronkandidatur eines Hohenzollern. Dieser Kriegsgrund ist
natürlich nur ein Vorwand, er ist das sichtbare und benennbare Objekt des
Streites, das Symbol der zu groß gewordenen Spannung. Subjektiv, in
unserem Bewußtsein, haben wir den Eindruck, als sei Friede, weil wir be¬
freundet sind, und Krieg, weil wir uns verfeindet haben. In Wirklichkeit ist
es wahrscheinlich umgekehrt: die staatliche Notwendigkeit, die Verteilung der
außermenschlichen Kräfte bewirkt den Krieg, und wir unterliegen diesem Massen-
ereignis so, daß wir Feinde werden, uns hassen und verachten; wenn der
Ausgleich der Spannung erfolgt ist und mit naturgesetzlicher Notwendigkeit der
Friede sich wieder herstellt, so unterliegen wir diesem Ereignis aufs neue mit


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[0152] I_IItima ratio regis Sehen wir uns also die Armee, als das Instrument dieser möglichen Gewalt, näher an, sehen wir uns den Staat an, insofern er Gewalt übt. Alle Entwicklung ist Differenzierung. Was im Urzustand gemischt und ungetrennt war, scheidet sich um so mehr, je mehr es sich vervollkommnet, und lebt ein Sonderleben. So ist im Anfang staatlicher Entwicklung, im Zustand des Stammes oder Dorfes, jeder Mann zugleich und ohne weiteres Krieger, und er ist dies, weil der Krieg niemals aufhört, weil Krieg und Frieden nicht geschieden sind. Erst auf einer höheren Entwicklungsstufe wird der Frieden zum normalen Zustand, der Krieg zur Ausnahme, so sehr zur Ausnahme, daß wir uns in den dreiundvierzig Friedensjahren fast gewöhnt hatten, nicht mehr an seine Möglichkeit zu glauben, und uns vor dem ungewohnten Zustand mehr fürchteten, als vor den Opfern, die der Krieg kosten würde. Erst auf dieser Entwicklungsstufe, wo der Krieg zur Ausnahme geworden ist. liegt der eigentliche Sinn des Staates im Frieden: die Bändigung und Abwehr der Gewalt, der Schutz von Leben und Eigentum ist die Bedingung für feine kulturelle Entwicklung und das freie Spiel seiner produktiven Kräfte. Der Friede unter den Staaten beruht auf der Voraussetzung, daß jeder einen Raum einnimmt, der seinen inneren Kräften genau entspricht — Raum im eigentlichen geographischen Sinne wie im übertragenen von wirtschaftlichen Beziehungen, politischem Einfluß usw. Der Friede ist das Gleichgewicht der Spannkräfte; er beruht, wie gesagt, nicht auf Gewalt, sondern auf Bändigung und Unterdrückung des Gewaltsamen, wohl aber auf der Möglichkeit zur Gewalt. Krieg heißt, daß die Kräfte nicht mehr richtig verteilt sind, daß der eine Staat eine Ausdehnung, der andere eine Zusammenpressung erfahren muß. Krieg heißt, daß der Zustand des Vertrages und der Verhandlung, wie er auf Grund der angenommenen Gleichheit der Kräfte bestand, aufgehoben ist und die bloße Gewalt, die Kraft des Stärkeren entscheiden soll. Krieg heißt, daß der Wille zweier Staaten, der in irgendeinem Punkte differiert, mit Gewalt durchgesetzt werden soll, zum Beispiel 1870 der Wille Frankreichs in bezug auf die spanische Thronkandidatur eines Hohenzollern. Dieser Kriegsgrund ist natürlich nur ein Vorwand, er ist das sichtbare und benennbare Objekt des Streites, das Symbol der zu groß gewordenen Spannung. Subjektiv, in unserem Bewußtsein, haben wir den Eindruck, als sei Friede, weil wir be¬ freundet sind, und Krieg, weil wir uns verfeindet haben. In Wirklichkeit ist es wahrscheinlich umgekehrt: die staatliche Notwendigkeit, die Verteilung der außermenschlichen Kräfte bewirkt den Krieg, und wir unterliegen diesem Massen- ereignis so, daß wir Feinde werden, uns hassen und verachten; wenn der Ausgleich der Spannung erfolgt ist und mit naturgesetzlicher Notwendigkeit der Friede sich wieder herstellt, so unterliegen wir diesem Ereignis aufs neue mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/152>, abgerufen am 29.05.2024.