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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Italien am Scheidewoge

darauf, daß Österreichs Vordringen bis zum Ägäischen Meere aus der Adria
ein "mare clau8um" machen würde. Sie spiegeln vor, daß Frankreichs
Sieg Italiens Herrschaft weit über Genua hinaus an der Küste, auf
Korsika und die Saooyenschen Berge hinauf wieder herstellen; daß eine englisch-
ftanzösisch-italienische Koalition Österreich und die Türkei aus dem Mittelmeer
vertreiben würde. Wir sehen Frankreich plötzlich wieder mit dem Vatikan liebäugeln
und bereit, den Weg nach Canossa anzutreten; wir sehen England seine diplo¬
matischen Beziehungen zum Vatikan wieder aufnehmen -- alles Anzeichen dafür,
daß die uns bisher gewogenen italienischen Klerikalen ebenfalls auf die Seite
der Dreiverbandsmächte gezogen werden sollen. Schlagworte fliegen gleich
Schrapnellkugeln von einem Lager zum anderen. Die meisten zünden nicht
oder sind Blindgänger, aber sie spritzen dafür das Gift der Verdächtigung aus.
In einem Lande nun, wo die innere wie äußere Politik nicht die offenste ist,
wo Parteileidenschaften leicht den Sieg gewinnen über staatsmännische Klug¬
heiten und Bedenken, genügt solch ein Tropfen Gift, um das Blut ruhiger Über¬
erlegung zum Stillstand, eine Raserei des Unverstandes zum Ausbruch zu bringen.
Es ist daher ein Gebot staatsmännischer Klugheit, sich nicht allzu unvorsichtig
durch beruhigende Worte italienischer Staatsmänner in untadige Ruhe einlullen zu
lassen. So überzeugt und aufrichtig der Ministerpräsident Salandra für seine
Person war, wenn er letzthin im Senate die stolzen Worte hinausrief: "Wenn
wir unsere Neutralität verschachert hätten, so hätten wir sie auch entehrt," wenn
auch die Mehrzahl der Mitglieder des Hohen Hauses wie der Nation ganz
derselben Meinung ist, so ist es doch der öffentlichen Meinung entsprechender
und politisch ehrlicher gewesen, als er sagte: "Es trat bisher kein Ereignis
ein, das unsere Haltung ändern konnte." Nun scheinen viele offene und
geheime Strömungen recht gehörig am Werke zu sein, um ein solches Ereignis,
das Italien zur Stellungnahme verpflichten würde, künstlich herbeizuführen.
Was dann? Eine Rettung gäbe es nur, falls England weitere Unvorsichtig¬
keiten zur See begehen und Italien von ihm auf der Stelle Rechenschaft ver¬
langen würde. England hat seit Ende Juli bereits so viele Unvorsichtigkeiten
begangen, daß es ihm auf eine weitere nicht mehr ankommen kann. Vielleicht
tut es uns den Gefallen, durch sein Verhalten Italien zu zwingen, dem Dreibund
endgültig treu zu bleiben, und uns Gelegenheit zu geben, unsere alte und echte
Liebe diesem Lande erhalten und aufs neue beweisen zu können. Wir werden
jedenfalls nicht diejenigen sein, die Italien verlocken, aus seiner Neutralität
herauszugehen, um es, wenn es sich auf die falsche Seite schlägt, Österreich zuliebe
anzugreifen. "Das Feuer muß von irgendjemandem gelegt werden," sagte
einst Fürst Bismarck, "wir werden es nicht anlegen." Wir haben auch durch
unseren Staatssekretär, Herrn von Jagow, Italien auf die Gefahren aufmerksam
gemacht, die ihm erwachsen würden, salls es Rußland gelingen sollte, mit Hilfe
von Serbien und Montenegro Österreich-Ungarn im Süden einen Riegel vor¬
zuschieben. Damit ist aber nicht gesagt und gemeint, Österreich beabsichtige


Italien am Scheidewoge

darauf, daß Österreichs Vordringen bis zum Ägäischen Meere aus der Adria
ein „mare clau8um" machen würde. Sie spiegeln vor, daß Frankreichs
Sieg Italiens Herrschaft weit über Genua hinaus an der Küste, auf
Korsika und die Saooyenschen Berge hinauf wieder herstellen; daß eine englisch-
ftanzösisch-italienische Koalition Österreich und die Türkei aus dem Mittelmeer
vertreiben würde. Wir sehen Frankreich plötzlich wieder mit dem Vatikan liebäugeln
und bereit, den Weg nach Canossa anzutreten; wir sehen England seine diplo¬
matischen Beziehungen zum Vatikan wieder aufnehmen — alles Anzeichen dafür,
daß die uns bisher gewogenen italienischen Klerikalen ebenfalls auf die Seite
der Dreiverbandsmächte gezogen werden sollen. Schlagworte fliegen gleich
Schrapnellkugeln von einem Lager zum anderen. Die meisten zünden nicht
oder sind Blindgänger, aber sie spritzen dafür das Gift der Verdächtigung aus.
In einem Lande nun, wo die innere wie äußere Politik nicht die offenste ist,
wo Parteileidenschaften leicht den Sieg gewinnen über staatsmännische Klug¬
heiten und Bedenken, genügt solch ein Tropfen Gift, um das Blut ruhiger Über¬
erlegung zum Stillstand, eine Raserei des Unverstandes zum Ausbruch zu bringen.
Es ist daher ein Gebot staatsmännischer Klugheit, sich nicht allzu unvorsichtig
durch beruhigende Worte italienischer Staatsmänner in untadige Ruhe einlullen zu
lassen. So überzeugt und aufrichtig der Ministerpräsident Salandra für seine
Person war, wenn er letzthin im Senate die stolzen Worte hinausrief: „Wenn
wir unsere Neutralität verschachert hätten, so hätten wir sie auch entehrt," wenn
auch die Mehrzahl der Mitglieder des Hohen Hauses wie der Nation ganz
derselben Meinung ist, so ist es doch der öffentlichen Meinung entsprechender
und politisch ehrlicher gewesen, als er sagte: „Es trat bisher kein Ereignis
ein, das unsere Haltung ändern konnte." Nun scheinen viele offene und
geheime Strömungen recht gehörig am Werke zu sein, um ein solches Ereignis,
das Italien zur Stellungnahme verpflichten würde, künstlich herbeizuführen.
Was dann? Eine Rettung gäbe es nur, falls England weitere Unvorsichtig¬
keiten zur See begehen und Italien von ihm auf der Stelle Rechenschaft ver¬
langen würde. England hat seit Ende Juli bereits so viele Unvorsichtigkeiten
begangen, daß es ihm auf eine weitere nicht mehr ankommen kann. Vielleicht
tut es uns den Gefallen, durch sein Verhalten Italien zu zwingen, dem Dreibund
endgültig treu zu bleiben, und uns Gelegenheit zu geben, unsere alte und echte
Liebe diesem Lande erhalten und aufs neue beweisen zu können. Wir werden
jedenfalls nicht diejenigen sein, die Italien verlocken, aus seiner Neutralität
herauszugehen, um es, wenn es sich auf die falsche Seite schlägt, Österreich zuliebe
anzugreifen. „Das Feuer muß von irgendjemandem gelegt werden," sagte
einst Fürst Bismarck, „wir werden es nicht anlegen." Wir haben auch durch
unseren Staatssekretär, Herrn von Jagow, Italien auf die Gefahren aufmerksam
gemacht, die ihm erwachsen würden, salls es Rußland gelingen sollte, mit Hilfe
von Serbien und Montenegro Österreich-Ungarn im Süden einen Riegel vor¬
zuschieben. Damit ist aber nicht gesagt und gemeint, Österreich beabsichtige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/18>, abgerufen am 15.05.2024.