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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Kriegerische Volkspoesie

Marschpoesie auf, zu gleicher Zeit entsteht die moderne Regimentsmusik. Und
mit Marschpoesie und Schrittgesang hält der Kehrreim seinen Einzug in die
Kriegspoesie. Vor allem aber -- und das ist das Wichtigste -- wird von
nun an die Melodie entscheidend und ist es geblieben bis auf den heutigen
Tag, Die Melodie schafft Texte und ändert Texte. Von Jahrzehnt zu Jahr-
zehnt, von Krieg zu Krn-g. ja, von Schlacht zu Schlacht wechseln und wandeln
sich die Lieder. Der solvat findet je nach seinen Erlebnissen immer neue
Strophen und neue Melodien, ununterbrochen ist das Volk an der Arbeit,

Wie dabei immer die Melodie und nie der Text entscheidet, läßt sich mit
zahllosen Beispielen belegen. Die Soldatenlieder unserer Zeit finden wir zu¬
meist in der Urform schon damals vor und können ihre Entwicklung über zahl¬
reiche Varianten, die nur durch verschiedene Melodien erklärbar sind, bis auf
die Gegenwart verfolgen. Das Lied, das heute mit Tralali gesungen wird,
wird morgen mit Tschingderassa gesungen, und dabei ist es durchaus nicht
immer eine neu erfundene, sondern oft eine von einem anderen Marschlied
übernommene Weise. Ein schönes Beispiel dafür, das wir täglich auf der
Straße hören können und das uns gleichzeitig einen hübschen Einblick in das
Schaffen der dichtenden Soldatenwelt gewährt, ist die Form, in der heute mit
Gloria Viktoria Uhlands herrliches Soldatenlied "Der gute Kamerad" gesungen
wird. Der Soldat und die hintendran marschierende Straßenjugend singen
es, indem sie von jeder Strophe den letzten Vers unterschlagen. Das geht
ohne erhebliche Sinnentstellung ganz gut. nur bei der. letzten Strophe hapert
es, die in der neuen Fassung also lautet: ,

So sehr also herrscht die Melodie über das Soldatenlied, daß sie vor¬
handene Poesie rein uni des Textes und der Töne, manchmal auch bloß um
des schönen, frohen Kehrreims willen bis zum Unsinn verstümmelt.

Aber nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt trat mit der Zeit
des Soldatenkönigs eine entscheidende Wandlung ein. Jetzt konnte wirklich
wieder Poesie entstehen: es war eine Sache da, die den Krieger zum Sänge
begeistern konnte, denn jetzt bewegte ihn nicht mehr ein privates, sondern ein
öffentliches Interesse -- der Staat. Der Soldat war etwas Soziales geworden,
er war nicht mehr der Herr der zerrütteten Welt, dem keine Krone zu hoch
saß, sondern ganz einfach des Königs Mann in des Königs Rock.

Diese Wandlung begann freilich erst später auf die Kriegspoesie ihre Wirkung
zu üben, aber sie war doch eine notwendige Folge der gerade damals ein¬
setzenden Entwicklung. Fürs erste allerdings ließ der Zwang, den Friedrich
Wilhelm bei der Schaffung seines Heeres anwandte, das ungerechte Kanton¬
system, das die Reichen vor den Armen bevorzugte, und die grausame Soldaten-
presserei keine Freude aufkommen. Soldat sein galt nach Gustav Freytags
Worten damals "in Preußen als ein Unglück, im übrigen Deutschland als eine


Kriegerische Volkspoesie

Marschpoesie auf, zu gleicher Zeit entsteht die moderne Regimentsmusik. Und
mit Marschpoesie und Schrittgesang hält der Kehrreim seinen Einzug in die
Kriegspoesie. Vor allem aber — und das ist das Wichtigste — wird von
nun an die Melodie entscheidend und ist es geblieben bis auf den heutigen
Tag, Die Melodie schafft Texte und ändert Texte. Von Jahrzehnt zu Jahr-
zehnt, von Krieg zu Krn-g. ja, von Schlacht zu Schlacht wechseln und wandeln
sich die Lieder. Der solvat findet je nach seinen Erlebnissen immer neue
Strophen und neue Melodien, ununterbrochen ist das Volk an der Arbeit,

Wie dabei immer die Melodie und nie der Text entscheidet, läßt sich mit
zahllosen Beispielen belegen. Die Soldatenlieder unserer Zeit finden wir zu¬
meist in der Urform schon damals vor und können ihre Entwicklung über zahl¬
reiche Varianten, die nur durch verschiedene Melodien erklärbar sind, bis auf
die Gegenwart verfolgen. Das Lied, das heute mit Tralali gesungen wird,
wird morgen mit Tschingderassa gesungen, und dabei ist es durchaus nicht
immer eine neu erfundene, sondern oft eine von einem anderen Marschlied
übernommene Weise. Ein schönes Beispiel dafür, das wir täglich auf der
Straße hören können und das uns gleichzeitig einen hübschen Einblick in das
Schaffen der dichtenden Soldatenwelt gewährt, ist die Form, in der heute mit
Gloria Viktoria Uhlands herrliches Soldatenlied „Der gute Kamerad" gesungen
wird. Der Soldat und die hintendran marschierende Straßenjugend singen
es, indem sie von jeder Strophe den letzten Vers unterschlagen. Das geht
ohne erhebliche Sinnentstellung ganz gut. nur bei der. letzten Strophe hapert
es, die in der neuen Fassung also lautet: ,

So sehr also herrscht die Melodie über das Soldatenlied, daß sie vor¬
handene Poesie rein uni des Textes und der Töne, manchmal auch bloß um
des schönen, frohen Kehrreims willen bis zum Unsinn verstümmelt.

Aber nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt trat mit der Zeit
des Soldatenkönigs eine entscheidende Wandlung ein. Jetzt konnte wirklich
wieder Poesie entstehen: es war eine Sache da, die den Krieger zum Sänge
begeistern konnte, denn jetzt bewegte ihn nicht mehr ein privates, sondern ein
öffentliches Interesse — der Staat. Der Soldat war etwas Soziales geworden,
er war nicht mehr der Herr der zerrütteten Welt, dem keine Krone zu hoch
saß, sondern ganz einfach des Königs Mann in des Königs Rock.

Diese Wandlung begann freilich erst später auf die Kriegspoesie ihre Wirkung
zu üben, aber sie war doch eine notwendige Folge der gerade damals ein¬
setzenden Entwicklung. Fürs erste allerdings ließ der Zwang, den Friedrich
Wilhelm bei der Schaffung seines Heeres anwandte, das ungerechte Kanton¬
system, das die Reichen vor den Armen bevorzugte, und die grausame Soldaten-
presserei keine Freude aufkommen. Soldat sein galt nach Gustav Freytags
Worten damals „in Preußen als ein Unglück, im übrigen Deutschland als eine


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[0195] Kriegerische Volkspoesie Marschpoesie auf, zu gleicher Zeit entsteht die moderne Regimentsmusik. Und mit Marschpoesie und Schrittgesang hält der Kehrreim seinen Einzug in die Kriegspoesie. Vor allem aber — und das ist das Wichtigste — wird von nun an die Melodie entscheidend und ist es geblieben bis auf den heutigen Tag, Die Melodie schafft Texte und ändert Texte. Von Jahrzehnt zu Jahr- zehnt, von Krieg zu Krn-g. ja, von Schlacht zu Schlacht wechseln und wandeln sich die Lieder. Der solvat findet je nach seinen Erlebnissen immer neue Strophen und neue Melodien, ununterbrochen ist das Volk an der Arbeit, Wie dabei immer die Melodie und nie der Text entscheidet, läßt sich mit zahllosen Beispielen belegen. Die Soldatenlieder unserer Zeit finden wir zu¬ meist in der Urform schon damals vor und können ihre Entwicklung über zahl¬ reiche Varianten, die nur durch verschiedene Melodien erklärbar sind, bis auf die Gegenwart verfolgen. Das Lied, das heute mit Tralali gesungen wird, wird morgen mit Tschingderassa gesungen, und dabei ist es durchaus nicht immer eine neu erfundene, sondern oft eine von einem anderen Marschlied übernommene Weise. Ein schönes Beispiel dafür, das wir täglich auf der Straße hören können und das uns gleichzeitig einen hübschen Einblick in das Schaffen der dichtenden Soldatenwelt gewährt, ist die Form, in der heute mit Gloria Viktoria Uhlands herrliches Soldatenlied „Der gute Kamerad" gesungen wird. Der Soldat und die hintendran marschierende Straßenjugend singen es, indem sie von jeder Strophe den letzten Vers unterschlagen. Das geht ohne erhebliche Sinnentstellung ganz gut. nur bei der. letzten Strophe hapert es, die in der neuen Fassung also lautet: , So sehr also herrscht die Melodie über das Soldatenlied, daß sie vor¬ handene Poesie rein uni des Textes und der Töne, manchmal auch bloß um des schönen, frohen Kehrreims willen bis zum Unsinn verstümmelt. Aber nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt trat mit der Zeit des Soldatenkönigs eine entscheidende Wandlung ein. Jetzt konnte wirklich wieder Poesie entstehen: es war eine Sache da, die den Krieger zum Sänge begeistern konnte, denn jetzt bewegte ihn nicht mehr ein privates, sondern ein öffentliches Interesse — der Staat. Der Soldat war etwas Soziales geworden, er war nicht mehr der Herr der zerrütteten Welt, dem keine Krone zu hoch saß, sondern ganz einfach des Königs Mann in des Königs Rock. Diese Wandlung begann freilich erst später auf die Kriegspoesie ihre Wirkung zu üben, aber sie war doch eine notwendige Folge der gerade damals ein¬ setzenden Entwicklung. Fürs erste allerdings ließ der Zwang, den Friedrich Wilhelm bei der Schaffung seines Heeres anwandte, das ungerechte Kanton¬ system, das die Reichen vor den Armen bevorzugte, und die grausame Soldaten- presserei keine Freude aufkommen. Soldat sein galt nach Gustav Freytags Worten damals „in Preußen als ein Unglück, im übrigen Deutschland als eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/195>, abgerufen am 29.05.2024.