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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

nach Osten hinströmenden Germanen bedrängt wurden. Zunächst waren es
deutsche Schwertbrüder und Kolonisten, die sich an der baltischen Küste nieder¬
ließen und ihre Bekehrungsversuche, die meist durch Feuer und Schwert unter¬
stützt wurden, begannen. Das heidnische Volk widersetzte sich der Einführung
der neuen Religion und der damit verbundenen Untertänigkeit. Es begannen
Kriege, die fast ununterbrochen Jahrhunderte dauerten. Die Grenzen des
ältesten eigentlichen Litauen im engeren Sinne dürften sich mit den ethno¬
graphischen Grenzen der gegenwärtig von den Litauern bewohnten Gebiete
annähernd decken; sie sind also verlaufen von der Ostsee oberhalb Polangen
längs der Heiligen Aa in fast gerader Linie östlich über Bauske bis Dünaburg,
von da in weit östlich gebauschten, vielfach gewundenem Bogen nach Süden
über Wilna (Oszmiann) fast bis zur Memel (Riemen), dann in westlicher
Richtung über Luda, Grodno. Suwalki, Goldapp, Darlehnen. Wehlau, Labiau
bis zum kurischen Haff. Dieses eigentliche Nationalgebiet der Litauer wurde
im Laufe der Zeit durch die Eroberungszüge ihrer Fürsten bedeutend erweitert,
ja gewaltig ausgedehnt.

Der sagenhafte Großfürst Rmgaud von Litauen (1204 bis 1239) kämpfte
Zeit seines Lebens gegen die russischen Großfürsten und dehnte seine Herrschaft
bis Smolensk und Witebsk aus. Sein Sohn Mindowe (1240 bis 1263) trat
zum Christentum über und ließ sich unter Anerkennung des Papstes Jnnozenz
des Vierten zum König von Litauen krönen. Den deutschen Ritterorden befehdete
er zunächst erfolgreich, einigte sich dann mit ihm, schenkte ihm weite Ländereien
und versprach ihm sogar sein ganzes Land, wenn er kinderlos stürbe. In Wilna
gründete er ein römisch-katholisches Bistum. Doch die Eroberungslust des Ordens
zwang ihn zu neuen Kämpfen. Da verließ er den neuen Glauben und ver"
einigte die baltischen Stämme zum nationalen Freiheitskampf. Auch gegen die
Russen hat er jahrelang gekämpft. Gedimin (1316 bis 1341) war der erfolgreichste
litauische Herrscher, der Kiew und Nowgorod eroberte, Wolynien unterjochte und
sich König der Litauer und Russen nannte. Seine Untertanen bestanden zu
einem Drittel aus Litauern, zu zwei Drittel aus Russen. Deutsche Handwerker
und Künstler, christliche Mönche und Gelehrte zog er in sein Land. Er baute
den Christen Kirchen und ließ seine Söhne griechisch - katholische Fürstentochter
der Moskowiter heiraten. Seine Söhne Algird und Keistut regierten gemein¬
schaftlich und dehnten die Grenzen des Reiches noch weiter aus; jener residierte
in Wilna, dieser in Kowno (oder Troll). Das Reich erstreckte sich vom baltischen
bis zum Schwarzen Meer, von dem dreimal erstürmten Moskau und der Agra
bis zu den rechten Nebenflüssen der Weichsel. Doch gelang es dem Ordensmeister
Winrich von Kniprode auf seinen Kriegsreisen weit in Litauen hineinzubringen;
ja, er zerstörte 1362 Kowno und besuchte 1378 sogar Wilna. Dafür rächten
sich dann die Litauer durch verheerende Kriegszüge im Preußenlande. Es kam
nun Algirds Sohn Jagello zur Herrseherwürde (1377 bis 1434). Er ließ seinen
Oheim Keistut. dem er mißtraute, ermorden, wurde Christ und bestieg nach


Die litauisch-baltische Frage

nach Osten hinströmenden Germanen bedrängt wurden. Zunächst waren es
deutsche Schwertbrüder und Kolonisten, die sich an der baltischen Küste nieder¬
ließen und ihre Bekehrungsversuche, die meist durch Feuer und Schwert unter¬
stützt wurden, begannen. Das heidnische Volk widersetzte sich der Einführung
der neuen Religion und der damit verbundenen Untertänigkeit. Es begannen
Kriege, die fast ununterbrochen Jahrhunderte dauerten. Die Grenzen des
ältesten eigentlichen Litauen im engeren Sinne dürften sich mit den ethno¬
graphischen Grenzen der gegenwärtig von den Litauern bewohnten Gebiete
annähernd decken; sie sind also verlaufen von der Ostsee oberhalb Polangen
längs der Heiligen Aa in fast gerader Linie östlich über Bauske bis Dünaburg,
von da in weit östlich gebauschten, vielfach gewundenem Bogen nach Süden
über Wilna (Oszmiann) fast bis zur Memel (Riemen), dann in westlicher
Richtung über Luda, Grodno. Suwalki, Goldapp, Darlehnen. Wehlau, Labiau
bis zum kurischen Haff. Dieses eigentliche Nationalgebiet der Litauer wurde
im Laufe der Zeit durch die Eroberungszüge ihrer Fürsten bedeutend erweitert,
ja gewaltig ausgedehnt.

Der sagenhafte Großfürst Rmgaud von Litauen (1204 bis 1239) kämpfte
Zeit seines Lebens gegen die russischen Großfürsten und dehnte seine Herrschaft
bis Smolensk und Witebsk aus. Sein Sohn Mindowe (1240 bis 1263) trat
zum Christentum über und ließ sich unter Anerkennung des Papstes Jnnozenz
des Vierten zum König von Litauen krönen. Den deutschen Ritterorden befehdete
er zunächst erfolgreich, einigte sich dann mit ihm, schenkte ihm weite Ländereien
und versprach ihm sogar sein ganzes Land, wenn er kinderlos stürbe. In Wilna
gründete er ein römisch-katholisches Bistum. Doch die Eroberungslust des Ordens
zwang ihn zu neuen Kämpfen. Da verließ er den neuen Glauben und ver»
einigte die baltischen Stämme zum nationalen Freiheitskampf. Auch gegen die
Russen hat er jahrelang gekämpft. Gedimin (1316 bis 1341) war der erfolgreichste
litauische Herrscher, der Kiew und Nowgorod eroberte, Wolynien unterjochte und
sich König der Litauer und Russen nannte. Seine Untertanen bestanden zu
einem Drittel aus Litauern, zu zwei Drittel aus Russen. Deutsche Handwerker
und Künstler, christliche Mönche und Gelehrte zog er in sein Land. Er baute
den Christen Kirchen und ließ seine Söhne griechisch - katholische Fürstentochter
der Moskowiter heiraten. Seine Söhne Algird und Keistut regierten gemein¬
schaftlich und dehnten die Grenzen des Reiches noch weiter aus; jener residierte
in Wilna, dieser in Kowno (oder Troll). Das Reich erstreckte sich vom baltischen
bis zum Schwarzen Meer, von dem dreimal erstürmten Moskau und der Agra
bis zu den rechten Nebenflüssen der Weichsel. Doch gelang es dem Ordensmeister
Winrich von Kniprode auf seinen Kriegsreisen weit in Litauen hineinzubringen;
ja, er zerstörte 1362 Kowno und besuchte 1378 sogar Wilna. Dafür rächten
sich dann die Litauer durch verheerende Kriegszüge im Preußenlande. Es kam
nun Algirds Sohn Jagello zur Herrseherwürde (1377 bis 1434). Er ließ seinen
Oheim Keistut. dem er mißtraute, ermorden, wurde Christ und bestieg nach


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[0220] Die litauisch-baltische Frage nach Osten hinströmenden Germanen bedrängt wurden. Zunächst waren es deutsche Schwertbrüder und Kolonisten, die sich an der baltischen Küste nieder¬ ließen und ihre Bekehrungsversuche, die meist durch Feuer und Schwert unter¬ stützt wurden, begannen. Das heidnische Volk widersetzte sich der Einführung der neuen Religion und der damit verbundenen Untertänigkeit. Es begannen Kriege, die fast ununterbrochen Jahrhunderte dauerten. Die Grenzen des ältesten eigentlichen Litauen im engeren Sinne dürften sich mit den ethno¬ graphischen Grenzen der gegenwärtig von den Litauern bewohnten Gebiete annähernd decken; sie sind also verlaufen von der Ostsee oberhalb Polangen längs der Heiligen Aa in fast gerader Linie östlich über Bauske bis Dünaburg, von da in weit östlich gebauschten, vielfach gewundenem Bogen nach Süden über Wilna (Oszmiann) fast bis zur Memel (Riemen), dann in westlicher Richtung über Luda, Grodno. Suwalki, Goldapp, Darlehnen. Wehlau, Labiau bis zum kurischen Haff. Dieses eigentliche Nationalgebiet der Litauer wurde im Laufe der Zeit durch die Eroberungszüge ihrer Fürsten bedeutend erweitert, ja gewaltig ausgedehnt. Der sagenhafte Großfürst Rmgaud von Litauen (1204 bis 1239) kämpfte Zeit seines Lebens gegen die russischen Großfürsten und dehnte seine Herrschaft bis Smolensk und Witebsk aus. Sein Sohn Mindowe (1240 bis 1263) trat zum Christentum über und ließ sich unter Anerkennung des Papstes Jnnozenz des Vierten zum König von Litauen krönen. Den deutschen Ritterorden befehdete er zunächst erfolgreich, einigte sich dann mit ihm, schenkte ihm weite Ländereien und versprach ihm sogar sein ganzes Land, wenn er kinderlos stürbe. In Wilna gründete er ein römisch-katholisches Bistum. Doch die Eroberungslust des Ordens zwang ihn zu neuen Kämpfen. Da verließ er den neuen Glauben und ver» einigte die baltischen Stämme zum nationalen Freiheitskampf. Auch gegen die Russen hat er jahrelang gekämpft. Gedimin (1316 bis 1341) war der erfolgreichste litauische Herrscher, der Kiew und Nowgorod eroberte, Wolynien unterjochte und sich König der Litauer und Russen nannte. Seine Untertanen bestanden zu einem Drittel aus Litauern, zu zwei Drittel aus Russen. Deutsche Handwerker und Künstler, christliche Mönche und Gelehrte zog er in sein Land. Er baute den Christen Kirchen und ließ seine Söhne griechisch - katholische Fürstentochter der Moskowiter heiraten. Seine Söhne Algird und Keistut regierten gemein¬ schaftlich und dehnten die Grenzen des Reiches noch weiter aus; jener residierte in Wilna, dieser in Kowno (oder Troll). Das Reich erstreckte sich vom baltischen bis zum Schwarzen Meer, von dem dreimal erstürmten Moskau und der Agra bis zu den rechten Nebenflüssen der Weichsel. Doch gelang es dem Ordensmeister Winrich von Kniprode auf seinen Kriegsreisen weit in Litauen hineinzubringen; ja, er zerstörte 1362 Kowno und besuchte 1378 sogar Wilna. Dafür rächten sich dann die Litauer durch verheerende Kriegszüge im Preußenlande. Es kam nun Algirds Sohn Jagello zur Herrseherwürde (1377 bis 1434). Er ließ seinen Oheim Keistut. dem er mißtraute, ermorden, wurde Christ und bestieg nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/220>, abgerufen am 29.05.2024.