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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Sie litauisch-baltische Frage

unterworfenen Gebiete zu verwalten hatte, paßte sich der Umgebung an
und entnationalisierte sich. Es herrschte in Litauen volle Freiheit für die fremden
Sprachen der unterworfenen Völker. In der Staatskanzlei und im Justizbetrieb
war vornehmlich das Weißrussische im Gebrauch. Wjtaut war noch bestrebt
gewesen, das Litauische zur Hofsprache zu erheben. Nach Eintritt der Personal¬
union erhielt aber polnische Sitte und Sprache großen Einfluß bei Hofe und
in der Verwaltung. Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts hatte fast der
ganze litauische Adel bereits die polnische Sprache angenommen; Städte und
Güter waren polonisiert. Auch die Geistlichkeit, die aus dem Adel hervorging,
verstärkte die Vorherrschaft der polnischen Sprache in Litauen. Obwohl der Adel
polnisch sprach, nannte er sich doch litauisch und trat für Litauens Interessen
voll ein. In der Umgebung von Wilna. Oszmiann, Luda, Szwencziany nistete
sich allmählich das Weißrussische ein.

Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts fand die Reformation schnell
Eingang in Litauen. Hauptsächlich durch das Bemühen der Nadziwills wurde
das reformierte Bekenntnis weit und breit durch Wort und Schrift verkündigt.
Bald wurde in fast allen Kirchen Litauens litauisch-evangelischer Gottesdienst
gehalten. In Kiedainy wurde von Nadziwill eine Druckerei errichtet, die eine
Menge litauisch-reformierte Bücher herausgab. Da riefen die Katholiken die
Jesuiten ins Land; mit Unterstützung der königlichen Regierung wurden die
Kirchen den Kalvinisten wieder genommen und das Volk, meist mit Gewalt,
wieder dem katholischen Glauben zugeführt. In Wilna errichteten die Jesuiten
1578 eine Akademie, in der philosophische und theologische Fächer, auch freie
Künste traktiert wurden; 1614 kam eine juristische Fakultät hinzu. Die Akademie
wurde, nachdem sie 1796 von den Russen zur Hauptschule von Wilna um¬
gewandelt worden war, 1803 zur Universität erhoben, aber 1830 wieder völlig
aufgehoben.

Die beiden Jahrhunderte der Zugehörigkeit Litauens zu Polen haben dem
litauischen Volk nicht den mindesten Segen gebracht. Das Volk, das seiner
Sprache und Sitte treu blieb, erfuhr weder in nationaler noch wirtschaftlicher
Hinsicht eine Hebung. Es blieb in seiner Kultur immer mehr zurück, und
Regierung wie Adel wurden ihm entfremdet. So regte sich das Volk auch
nicht weiter darüber auf, als 1795 der größere Teil Litauens, das nördlich
der Memel gelegene Szamaiten und die angrenzenden Gegenden (Gou¬
vernement Kowno und Wilna) von Rußland, und das südlich der
Memel gelegene litauische Gebiet (Gouvernement Suwalki) von Preußen
annektiert wurde. Letzteres ist bekanntlich 1815 ebenfalls Rußland einverleibt
worden.

Seit der polnischen Insurrektion 1863, an der sich weniger das
litauische Volk als der litauische Adel beteiligte, begann als Vergeltung
dieser Beteiligung die systematische und rücksichtslose Russifizierung
Liiaueus.


Sie litauisch-baltische Frage

unterworfenen Gebiete zu verwalten hatte, paßte sich der Umgebung an
und entnationalisierte sich. Es herrschte in Litauen volle Freiheit für die fremden
Sprachen der unterworfenen Völker. In der Staatskanzlei und im Justizbetrieb
war vornehmlich das Weißrussische im Gebrauch. Wjtaut war noch bestrebt
gewesen, das Litauische zur Hofsprache zu erheben. Nach Eintritt der Personal¬
union erhielt aber polnische Sitte und Sprache großen Einfluß bei Hofe und
in der Verwaltung. Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts hatte fast der
ganze litauische Adel bereits die polnische Sprache angenommen; Städte und
Güter waren polonisiert. Auch die Geistlichkeit, die aus dem Adel hervorging,
verstärkte die Vorherrschaft der polnischen Sprache in Litauen. Obwohl der Adel
polnisch sprach, nannte er sich doch litauisch und trat für Litauens Interessen
voll ein. In der Umgebung von Wilna. Oszmiann, Luda, Szwencziany nistete
sich allmählich das Weißrussische ein.

Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts fand die Reformation schnell
Eingang in Litauen. Hauptsächlich durch das Bemühen der Nadziwills wurde
das reformierte Bekenntnis weit und breit durch Wort und Schrift verkündigt.
Bald wurde in fast allen Kirchen Litauens litauisch-evangelischer Gottesdienst
gehalten. In Kiedainy wurde von Nadziwill eine Druckerei errichtet, die eine
Menge litauisch-reformierte Bücher herausgab. Da riefen die Katholiken die
Jesuiten ins Land; mit Unterstützung der königlichen Regierung wurden die
Kirchen den Kalvinisten wieder genommen und das Volk, meist mit Gewalt,
wieder dem katholischen Glauben zugeführt. In Wilna errichteten die Jesuiten
1578 eine Akademie, in der philosophische und theologische Fächer, auch freie
Künste traktiert wurden; 1614 kam eine juristische Fakultät hinzu. Die Akademie
wurde, nachdem sie 1796 von den Russen zur Hauptschule von Wilna um¬
gewandelt worden war, 1803 zur Universität erhoben, aber 1830 wieder völlig
aufgehoben.

Die beiden Jahrhunderte der Zugehörigkeit Litauens zu Polen haben dem
litauischen Volk nicht den mindesten Segen gebracht. Das Volk, das seiner
Sprache und Sitte treu blieb, erfuhr weder in nationaler noch wirtschaftlicher
Hinsicht eine Hebung. Es blieb in seiner Kultur immer mehr zurück, und
Regierung wie Adel wurden ihm entfremdet. So regte sich das Volk auch
nicht weiter darüber auf, als 1795 der größere Teil Litauens, das nördlich
der Memel gelegene Szamaiten und die angrenzenden Gegenden (Gou¬
vernement Kowno und Wilna) von Rußland, und das südlich der
Memel gelegene litauische Gebiet (Gouvernement Suwalki) von Preußen
annektiert wurde. Letzteres ist bekanntlich 1815 ebenfalls Rußland einverleibt
worden.

Seit der polnischen Insurrektion 1863, an der sich weniger das
litauische Volk als der litauische Adel beteiligte, begann als Vergeltung
dieser Beteiligung die systematische und rücksichtslose Russifizierung
Liiaueus.


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[0222] Sie litauisch-baltische Frage unterworfenen Gebiete zu verwalten hatte, paßte sich der Umgebung an und entnationalisierte sich. Es herrschte in Litauen volle Freiheit für die fremden Sprachen der unterworfenen Völker. In der Staatskanzlei und im Justizbetrieb war vornehmlich das Weißrussische im Gebrauch. Wjtaut war noch bestrebt gewesen, das Litauische zur Hofsprache zu erheben. Nach Eintritt der Personal¬ union erhielt aber polnische Sitte und Sprache großen Einfluß bei Hofe und in der Verwaltung. Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts hatte fast der ganze litauische Adel bereits die polnische Sprache angenommen; Städte und Güter waren polonisiert. Auch die Geistlichkeit, die aus dem Adel hervorging, verstärkte die Vorherrschaft der polnischen Sprache in Litauen. Obwohl der Adel polnisch sprach, nannte er sich doch litauisch und trat für Litauens Interessen voll ein. In der Umgebung von Wilna. Oszmiann, Luda, Szwencziany nistete sich allmählich das Weißrussische ein. Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts fand die Reformation schnell Eingang in Litauen. Hauptsächlich durch das Bemühen der Nadziwills wurde das reformierte Bekenntnis weit und breit durch Wort und Schrift verkündigt. Bald wurde in fast allen Kirchen Litauens litauisch-evangelischer Gottesdienst gehalten. In Kiedainy wurde von Nadziwill eine Druckerei errichtet, die eine Menge litauisch-reformierte Bücher herausgab. Da riefen die Katholiken die Jesuiten ins Land; mit Unterstützung der königlichen Regierung wurden die Kirchen den Kalvinisten wieder genommen und das Volk, meist mit Gewalt, wieder dem katholischen Glauben zugeführt. In Wilna errichteten die Jesuiten 1578 eine Akademie, in der philosophische und theologische Fächer, auch freie Künste traktiert wurden; 1614 kam eine juristische Fakultät hinzu. Die Akademie wurde, nachdem sie 1796 von den Russen zur Hauptschule von Wilna um¬ gewandelt worden war, 1803 zur Universität erhoben, aber 1830 wieder völlig aufgehoben. Die beiden Jahrhunderte der Zugehörigkeit Litauens zu Polen haben dem litauischen Volk nicht den mindesten Segen gebracht. Das Volk, das seiner Sprache und Sitte treu blieb, erfuhr weder in nationaler noch wirtschaftlicher Hinsicht eine Hebung. Es blieb in seiner Kultur immer mehr zurück, und Regierung wie Adel wurden ihm entfremdet. So regte sich das Volk auch nicht weiter darüber auf, als 1795 der größere Teil Litauens, das nördlich der Memel gelegene Szamaiten und die angrenzenden Gegenden (Gou¬ vernement Kowno und Wilna) von Rußland, und das südlich der Memel gelegene litauische Gebiet (Gouvernement Suwalki) von Preußen annektiert wurde. Letzteres ist bekanntlich 1815 ebenfalls Rußland einverleibt worden. Seit der polnischen Insurrektion 1863, an der sich weniger das litauische Volk als der litauische Adel beteiligte, begann als Vergeltung dieser Beteiligung die systematische und rücksichtslose Russifizierung Liiaueus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/222>, abgerufen am 03.06.2024.