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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur Psychologie des Nationalbewußtseins

nicht möglich ist, trotz der Sprache eine solche Einheit herzustellen. Und es wird
daher nötig sein, einmal diejenigen Faktoren nachzuprüfen, die außer der Sprache
bisher ganze Volksmassen zu solidarischen Einheiten zusammengeschweißt haben.

Was die psychologische Charakteristik des Nationalgefühls anlangt, so ist
es zur Gruppe der sozialen Sympathiegefühle zu rechnen. Diese pflegen im
allgemeinen, wenn sie nicht mit andern Gefühlen zusammen auftreten, nicht
sonderlich starke positive Qualitäten aufzuweisen. Sie sind da und äußern sich
als ein in der Regel nicht sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Zu stärkeren
Affekten werden sie erst dann, wenn die Gemeinschaft, auf die sie sich beziehen,
von Gefahr bedroht ist oder irgendwie sich zu lösen droht. Das ist in Familien
der Fall, wenn ein Mitglied Abschied nimmt, vielleicht gar für immer. Auf
einmal pflegt dann das Zusammengehörigkeitsgefühl als starkes positives Be¬
wußtseinselement zu erscheinen. Besonders äußere Bedrohung kann dieses
Gefühl des Zusammengehörens unerhört verstärken, ja kann es zwischen vorher
Fremden plötzlich entstehen lassen. Wir alle haben es im Anfang dieses Krieges
staunend erlebt, daß Leute, die sonst mit Kosmopolitismus groß getan, mit
einem Schlage sich ihres Deutschtums enthaltnen. Ja, die Gefahr schuf selbst
aus bisherigen Gegnern plötzlich Freunde, so daß Deutsche, Tschechen und
Magyaren auf einmal alle ihre Sprachstreitigkeiten vergaßen. Bismarck hat
einmal in einer bekannten Reichstagsrede die Deutschen mit jenem Ehepaar
Moltöres verglichen, das sich beständig prügelt, das aber im nächsten Augen¬
blick einig ist und sich vereint gegen die Nachbarin wendet, als diese sich ein¬
mischt und den Mann ob seiner Grobheit zur Rede stellt. Bismarck hatte
recht; die Gefahr hat die Deutschen und nicht nur die deutschsprechenden Staats¬
bürger zusammengefügt, stärker als es je glückliche Zeiten vermocht hätten.

Indessen ist ein solcher defensiver Zusammenschluß nur ein nationaler
"Glücksfall", der glücklicherweise nicht allzuoft eintritt, wenn er auch über
seine Entstehungsursache hinaus verlängert werden kaun. Das wird auch
diesmal der Fall sein, wie es 1870 gewesen ist; vielleicht noch mehr! Nichts-
verstärkt das Solidaritätsgefühl auch über die eigentliche Gefahr hinaus so sehr
wie das Bewußtsein, diese Gefahren gemeinsam siegreich bestanden zu haben.
Gemeinsamer Stolz und gemeinsame Siegesfreude sind fähig, weit über die
Zeit der Not hinaus den Ertrag derselben zu bewahren. Friedrich des
Großen Taten schufen die Anfänge eines solchen Gefühls über Preußens
Grenzen hinaus. 1813 legte den Grund zu 1870. Und diesem wiederum
danken wir vor allem die gewaltige Einigkeit von 1914. Und was wir hoffen
dürfen ist. daß 1914 den Grund legt zu einem noch weiter greifenden National¬
bewußtsein, das bisher doch einige der schönsten deutschen Lande nicht einbezog
in seinen Kreis. Wir haben jetzt eine wirklich lebendige gemeinsame deutsche
Geschichte! --

Fragen wir nun weiter, was die Menschen außer der Sprache zusammen¬
bindet, so dürfen wir nicht antworten: die Kultur, denn diese ist, wie ich oben


Zur Psychologie des Nationalbewußtseins

nicht möglich ist, trotz der Sprache eine solche Einheit herzustellen. Und es wird
daher nötig sein, einmal diejenigen Faktoren nachzuprüfen, die außer der Sprache
bisher ganze Volksmassen zu solidarischen Einheiten zusammengeschweißt haben.

Was die psychologische Charakteristik des Nationalgefühls anlangt, so ist
es zur Gruppe der sozialen Sympathiegefühle zu rechnen. Diese pflegen im
allgemeinen, wenn sie nicht mit andern Gefühlen zusammen auftreten, nicht
sonderlich starke positive Qualitäten aufzuweisen. Sie sind da und äußern sich
als ein in der Regel nicht sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Zu stärkeren
Affekten werden sie erst dann, wenn die Gemeinschaft, auf die sie sich beziehen,
von Gefahr bedroht ist oder irgendwie sich zu lösen droht. Das ist in Familien
der Fall, wenn ein Mitglied Abschied nimmt, vielleicht gar für immer. Auf
einmal pflegt dann das Zusammengehörigkeitsgefühl als starkes positives Be¬
wußtseinselement zu erscheinen. Besonders äußere Bedrohung kann dieses
Gefühl des Zusammengehörens unerhört verstärken, ja kann es zwischen vorher
Fremden plötzlich entstehen lassen. Wir alle haben es im Anfang dieses Krieges
staunend erlebt, daß Leute, die sonst mit Kosmopolitismus groß getan, mit
einem Schlage sich ihres Deutschtums enthaltnen. Ja, die Gefahr schuf selbst
aus bisherigen Gegnern plötzlich Freunde, so daß Deutsche, Tschechen und
Magyaren auf einmal alle ihre Sprachstreitigkeiten vergaßen. Bismarck hat
einmal in einer bekannten Reichstagsrede die Deutschen mit jenem Ehepaar
Moltöres verglichen, das sich beständig prügelt, das aber im nächsten Augen¬
blick einig ist und sich vereint gegen die Nachbarin wendet, als diese sich ein¬
mischt und den Mann ob seiner Grobheit zur Rede stellt. Bismarck hatte
recht; die Gefahr hat die Deutschen und nicht nur die deutschsprechenden Staats¬
bürger zusammengefügt, stärker als es je glückliche Zeiten vermocht hätten.

Indessen ist ein solcher defensiver Zusammenschluß nur ein nationaler
„Glücksfall", der glücklicherweise nicht allzuoft eintritt, wenn er auch über
seine Entstehungsursache hinaus verlängert werden kaun. Das wird auch
diesmal der Fall sein, wie es 1870 gewesen ist; vielleicht noch mehr! Nichts-
verstärkt das Solidaritätsgefühl auch über die eigentliche Gefahr hinaus so sehr
wie das Bewußtsein, diese Gefahren gemeinsam siegreich bestanden zu haben.
Gemeinsamer Stolz und gemeinsame Siegesfreude sind fähig, weit über die
Zeit der Not hinaus den Ertrag derselben zu bewahren. Friedrich des
Großen Taten schufen die Anfänge eines solchen Gefühls über Preußens
Grenzen hinaus. 1813 legte den Grund zu 1870. Und diesem wiederum
danken wir vor allem die gewaltige Einigkeit von 1914. Und was wir hoffen
dürfen ist. daß 1914 den Grund legt zu einem noch weiter greifenden National¬
bewußtsein, das bisher doch einige der schönsten deutschen Lande nicht einbezog
in seinen Kreis. Wir haben jetzt eine wirklich lebendige gemeinsame deutsche
Geschichte! —

Fragen wir nun weiter, was die Menschen außer der Sprache zusammen¬
bindet, so dürfen wir nicht antworten: die Kultur, denn diese ist, wie ich oben


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[0233] Zur Psychologie des Nationalbewußtseins nicht möglich ist, trotz der Sprache eine solche Einheit herzustellen. Und es wird daher nötig sein, einmal diejenigen Faktoren nachzuprüfen, die außer der Sprache bisher ganze Volksmassen zu solidarischen Einheiten zusammengeschweißt haben. Was die psychologische Charakteristik des Nationalgefühls anlangt, so ist es zur Gruppe der sozialen Sympathiegefühle zu rechnen. Diese pflegen im allgemeinen, wenn sie nicht mit andern Gefühlen zusammen auftreten, nicht sonderlich starke positive Qualitäten aufzuweisen. Sie sind da und äußern sich als ein in der Regel nicht sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Zu stärkeren Affekten werden sie erst dann, wenn die Gemeinschaft, auf die sie sich beziehen, von Gefahr bedroht ist oder irgendwie sich zu lösen droht. Das ist in Familien der Fall, wenn ein Mitglied Abschied nimmt, vielleicht gar für immer. Auf einmal pflegt dann das Zusammengehörigkeitsgefühl als starkes positives Be¬ wußtseinselement zu erscheinen. Besonders äußere Bedrohung kann dieses Gefühl des Zusammengehörens unerhört verstärken, ja kann es zwischen vorher Fremden plötzlich entstehen lassen. Wir alle haben es im Anfang dieses Krieges staunend erlebt, daß Leute, die sonst mit Kosmopolitismus groß getan, mit einem Schlage sich ihres Deutschtums enthaltnen. Ja, die Gefahr schuf selbst aus bisherigen Gegnern plötzlich Freunde, so daß Deutsche, Tschechen und Magyaren auf einmal alle ihre Sprachstreitigkeiten vergaßen. Bismarck hat einmal in einer bekannten Reichstagsrede die Deutschen mit jenem Ehepaar Moltöres verglichen, das sich beständig prügelt, das aber im nächsten Augen¬ blick einig ist und sich vereint gegen die Nachbarin wendet, als diese sich ein¬ mischt und den Mann ob seiner Grobheit zur Rede stellt. Bismarck hatte recht; die Gefahr hat die Deutschen und nicht nur die deutschsprechenden Staats¬ bürger zusammengefügt, stärker als es je glückliche Zeiten vermocht hätten. Indessen ist ein solcher defensiver Zusammenschluß nur ein nationaler „Glücksfall", der glücklicherweise nicht allzuoft eintritt, wenn er auch über seine Entstehungsursache hinaus verlängert werden kaun. Das wird auch diesmal der Fall sein, wie es 1870 gewesen ist; vielleicht noch mehr! Nichts- verstärkt das Solidaritätsgefühl auch über die eigentliche Gefahr hinaus so sehr wie das Bewußtsein, diese Gefahren gemeinsam siegreich bestanden zu haben. Gemeinsamer Stolz und gemeinsame Siegesfreude sind fähig, weit über die Zeit der Not hinaus den Ertrag derselben zu bewahren. Friedrich des Großen Taten schufen die Anfänge eines solchen Gefühls über Preußens Grenzen hinaus. 1813 legte den Grund zu 1870. Und diesem wiederum danken wir vor allem die gewaltige Einigkeit von 1914. Und was wir hoffen dürfen ist. daß 1914 den Grund legt zu einem noch weiter greifenden National¬ bewußtsein, das bisher doch einige der schönsten deutschen Lande nicht einbezog in seinen Kreis. Wir haben jetzt eine wirklich lebendige gemeinsame deutsche Geschichte! — Fragen wir nun weiter, was die Menschen außer der Sprache zusammen¬ bindet, so dürfen wir nicht antworten: die Kultur, denn diese ist, wie ich oben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/233>, abgerufen am 04.06.2024.