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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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So aber kann es nicht gemeint sein; so ist es nicht gemeint. Wie der
Spruch der Geschworenen unter Zugrundelegung eines technisch formulierten
Gesetzbuches ohne vorhergehende Nechtsbelehrung ein Unding wäre, wie ohne
klares in sich verständliches Programm eine große Partei nicht arbeiten kann,
wie das Referendum die zweifelsfreie Formulierung der betreffenden Frage
voraussetzt, so heißt es umgekehrt in unserer Frage des Völkerrechts das ge¬
sprochene Urteil zu verstehen, losgelöst von seinem technischen Zusammenhange,
auf der Grundlage seiner eigenen Voraussetzungen.

Man frage die öffentliche Meinung, ob sie in Zukunft zum Beispiel auf
den selbst jetzt zur Kriegszeit so sicher arbeitenden Weltpostverein verzichten will.

Man frage sie auch, ob sie sich den kommenden Frieden denken kann ohne
vorausgehenden Friedensvertrag, der, nach der Ansicht des im übrigen so völker¬
rechtsfeindlichen Spinoza, die Staaten "gegenseitig zur Treue verpflichtet", also
den Beginn völkerrechtlicher Ordnung bedeutet.

Schwerlich! Wir alle wissen, daß der künftige Friedensvertrag vom Staats¬
mann nicht nur politische Reife sondern auch juristische Einsicht verlangen wird*).
Wir wissen, daß mit dem Frieden, insbesondere mit dem Sturze des vertrags-
und verkehrsfeindlichen England das Völkerverkehrsrecht, bedingt durch die sich
ergebende Weltkonjunktur, zu weit größerer Bedeutung als bisher erwachen wird.

Darum, was die Wissenschaft unter Völkerrecht verstand, diesen ganzen
Komplex der rechtlichen Ordnung des zwischenstaatlichen Verkehrs im weitesten
Sinne, hat das Urteil der öffentlichen Meinung nicht im Auge gehabt. Für
diese lag das Völkerrecht auf einem Gebiete, wo sie enttäuscht, wo sie empört
war. Dort nämlich, wo die Rechtsbrüche in unerhört rascher Folge und Regel¬
mäßigkeit begangen sind, auf dem Gebiete des sogenannten Völkerkriegsrechts.
Dieses ist für den Laien das Völkerrecht. Hierauf bezog sich sein Urteil. Und
nur rin dem Urteil in dieser Beschränkung braucht, aber auch muß sich der
Völkerrechtler auseinandersetzen. Auf der Grundlage der in Überfülle objektiv
bereits festgestellten oder noch sicher zu stellenden Rechtsbrüche wird ihm diese
Auseinandersetzung, das heißt die juristische Durchdringung des gefällten Laien¬
urteils nicht schwer fallen**). Es wird sich dann erweisen, wie wenig mystisch,
wie sehr der Rechts- und Sachlogik gemäß, wie historisch gerechtfertigt es ge¬
wesen ist.

Denn indem die öffentliche Meinung an der Hand der sich häufenden
Rechtsbrüche zur Verneinung bestehenden Rechts und infolgedessen zum Verzicht
auf künftige neue Formulierungen von Kriegsrechtssätzen gelangte, handelte sie
in Übereinstimmung mit unserer modernen positiven, zum mindesten der historisch¬
soziologisch gerichteten Rechtswissenschaft, die den Begriff des Rechts nicht los-




*) Vgl. die Entwicklung der Marokkofmge!
**) Auch die nach den Balkankriegen von der Carnegiestiftung entsandte Untersuchungs¬
kommission mußte feststellen, dasz so gut wie nichts von der gesamten neueren Kriegsrechts"
kodifikation befolgt war.

So aber kann es nicht gemeint sein; so ist es nicht gemeint. Wie der
Spruch der Geschworenen unter Zugrundelegung eines technisch formulierten
Gesetzbuches ohne vorhergehende Nechtsbelehrung ein Unding wäre, wie ohne
klares in sich verständliches Programm eine große Partei nicht arbeiten kann,
wie das Referendum die zweifelsfreie Formulierung der betreffenden Frage
voraussetzt, so heißt es umgekehrt in unserer Frage des Völkerrechts das ge¬
sprochene Urteil zu verstehen, losgelöst von seinem technischen Zusammenhange,
auf der Grundlage seiner eigenen Voraussetzungen.

Man frage die öffentliche Meinung, ob sie in Zukunft zum Beispiel auf
den selbst jetzt zur Kriegszeit so sicher arbeitenden Weltpostverein verzichten will.

Man frage sie auch, ob sie sich den kommenden Frieden denken kann ohne
vorausgehenden Friedensvertrag, der, nach der Ansicht des im übrigen so völker¬
rechtsfeindlichen Spinoza, die Staaten „gegenseitig zur Treue verpflichtet", also
den Beginn völkerrechtlicher Ordnung bedeutet.

Schwerlich! Wir alle wissen, daß der künftige Friedensvertrag vom Staats¬
mann nicht nur politische Reife sondern auch juristische Einsicht verlangen wird*).
Wir wissen, daß mit dem Frieden, insbesondere mit dem Sturze des vertrags-
und verkehrsfeindlichen England das Völkerverkehrsrecht, bedingt durch die sich
ergebende Weltkonjunktur, zu weit größerer Bedeutung als bisher erwachen wird.

Darum, was die Wissenschaft unter Völkerrecht verstand, diesen ganzen
Komplex der rechtlichen Ordnung des zwischenstaatlichen Verkehrs im weitesten
Sinne, hat das Urteil der öffentlichen Meinung nicht im Auge gehabt. Für
diese lag das Völkerrecht auf einem Gebiete, wo sie enttäuscht, wo sie empört
war. Dort nämlich, wo die Rechtsbrüche in unerhört rascher Folge und Regel¬
mäßigkeit begangen sind, auf dem Gebiete des sogenannten Völkerkriegsrechts.
Dieses ist für den Laien das Völkerrecht. Hierauf bezog sich sein Urteil. Und
nur rin dem Urteil in dieser Beschränkung braucht, aber auch muß sich der
Völkerrechtler auseinandersetzen. Auf der Grundlage der in Überfülle objektiv
bereits festgestellten oder noch sicher zu stellenden Rechtsbrüche wird ihm diese
Auseinandersetzung, das heißt die juristische Durchdringung des gefällten Laien¬
urteils nicht schwer fallen**). Es wird sich dann erweisen, wie wenig mystisch,
wie sehr der Rechts- und Sachlogik gemäß, wie historisch gerechtfertigt es ge¬
wesen ist.

Denn indem die öffentliche Meinung an der Hand der sich häufenden
Rechtsbrüche zur Verneinung bestehenden Rechts und infolgedessen zum Verzicht
auf künftige neue Formulierungen von Kriegsrechtssätzen gelangte, handelte sie
in Übereinstimmung mit unserer modernen positiven, zum mindesten der historisch¬
soziologisch gerichteten Rechtswissenschaft, die den Begriff des Rechts nicht los-




*) Vgl. die Entwicklung der Marokkofmge!
**) Auch die nach den Balkankriegen von der Carnegiestiftung entsandte Untersuchungs¬
kommission mußte feststellen, dasz so gut wie nichts von der gesamten neueren Kriegsrechts»
kodifikation befolgt war.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/238>, abgerufen am 15.05.2024.