Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Lehre des Krieges und die öffentliche lNeinimg

löst von seiner faktischen Geltung und die, im Geiste Savignus, neue Rechts¬
formulierung nur zulassen will auf Grund der Erkenntnis der tatsächlichen
Anpassungsfähigkeit des neuen Rechtssatzes.

Die Untersuchung der Anpassungsfähigkeit des Völkerkriegsrechts enthüllt
uns den Kern des Problems. Wenn selbst der Gesetzgeber im sicher
funktionierenden Rechtsstaat hierauf zu achten hat, um nicht trotz aller Organe
staatlichen Zwanges im späteren Rechtsleben Enttäuschungen zu erleben, so muß
dies sür die unorganisierte Völkerrechtsgemeinschaft in erhöhtem Maße gelten.
Fehlt sie, so ruht hier alles ans den schwachen Schultern der Vertragstreue.
Es fehlt dann vor allem an der stärksten Garantie jedes Rechts und der
einzigen eigentlichen des Völkerrechts, an dem im Rechtsinhalt steckenden
unmittelbaren Interessenausgleich der Rechtsgenossen. Im Frieden wird solchen¬
falls die mannigfache Wechselwirkung der Verkehrsbeziehungen wenigstens einen
mittelbaren Interessenausgleich bringen, so daß dem an sich rein ethischen Prinzip
der Vertragstreue in der Scheu vor den Folgen des Vertragsbruches die not¬
wendige materielle Stütze erwächst.

Der Krieg aber zerschneidet alle Banden gemeinsamer Interessen. Es
bleibt als einziges wahres Interesse der Wille zum Sieg, die Niederwerfung
des Gegners. Für den modernen Weltkrieg gilt dies in besonderem Maße.
Je kleiner die Zahl der unbeteiligten Staaten ist, um so geringer wird die
Sorge vor den psychischen Folgen des Vertragsbruches. Wenn daher unser
Völkerrecht mit dem Beginn des Krieges alle bisher geltenden Verträge zwischen
den Kriegsbeteiligten erlöschen läßt, oder wenigstens suspendiert, so hat es den
Sinn der Anpassungsfähigkeit meisterlich erfaßt. Wenn es aber von dieser
allgemeinen Regel insofern Ausnahmen zuläßt, als es sich um Rechtssätze
handelt, die gerade für den Kriegsfall getroffen sind, ja, wenn es diese Aus¬
nahmen soweit treibt, daß im Hinblick auf sie (vgl. die Haager Landkriegs¬
ordnung, die Londoner Seerechtsdeklaration) heute das Wort Bluntschlis, der
Krieg sei in seinem Verlauf ein rechtlich geregelter riesiger Völkerprozeß, kaum
noch zu übertreiben scheint, so hat es den Bogen der Vertragstreue überspannt.
Der Weltkrieg mußte die Katastrophe bringen.

Es sei dies an einem Rechtsgrundsatz erläutert, den man in den Mittel¬
punkt des modernen Kriegsrechts gestellt hat. Man sagt, der Krieg begründe
Feindschaft nur zwischen den Staaten, nicht auch zwischen deren Bürgern. Man
meint damit, der Krieg solle nur zwischen den Heeren und gegen das Staats¬
gut geführt werden. Die friedlichen Bürger "werden deshalb fortfahren, die
Sicherheit ihrer Personen und ihrer Güter zu genießen"*). Man prüfe diesen
Grundsatz auf seine Anpassungsfähigkeit und verwerte dabei die Erfahrungen
dieses Krieges. Wir sehen Riesenaufgebote Bewaffneter, das Volk in Waffen.
Wir sehen jede Schlachtfront ins unbegrenzte tendieren. Im Bestreben, den



*) Proklamation König Wilhelms vom 11. August 1370. Vergleiche auch Artikel 17
der deutschen Kriegsartikel.*
15
Die Lehre des Krieges und die öffentliche lNeinimg

löst von seiner faktischen Geltung und die, im Geiste Savignus, neue Rechts¬
formulierung nur zulassen will auf Grund der Erkenntnis der tatsächlichen
Anpassungsfähigkeit des neuen Rechtssatzes.

Die Untersuchung der Anpassungsfähigkeit des Völkerkriegsrechts enthüllt
uns den Kern des Problems. Wenn selbst der Gesetzgeber im sicher
funktionierenden Rechtsstaat hierauf zu achten hat, um nicht trotz aller Organe
staatlichen Zwanges im späteren Rechtsleben Enttäuschungen zu erleben, so muß
dies sür die unorganisierte Völkerrechtsgemeinschaft in erhöhtem Maße gelten.
Fehlt sie, so ruht hier alles ans den schwachen Schultern der Vertragstreue.
Es fehlt dann vor allem an der stärksten Garantie jedes Rechts und der
einzigen eigentlichen des Völkerrechts, an dem im Rechtsinhalt steckenden
unmittelbaren Interessenausgleich der Rechtsgenossen. Im Frieden wird solchen¬
falls die mannigfache Wechselwirkung der Verkehrsbeziehungen wenigstens einen
mittelbaren Interessenausgleich bringen, so daß dem an sich rein ethischen Prinzip
der Vertragstreue in der Scheu vor den Folgen des Vertragsbruches die not¬
wendige materielle Stütze erwächst.

Der Krieg aber zerschneidet alle Banden gemeinsamer Interessen. Es
bleibt als einziges wahres Interesse der Wille zum Sieg, die Niederwerfung
des Gegners. Für den modernen Weltkrieg gilt dies in besonderem Maße.
Je kleiner die Zahl der unbeteiligten Staaten ist, um so geringer wird die
Sorge vor den psychischen Folgen des Vertragsbruches. Wenn daher unser
Völkerrecht mit dem Beginn des Krieges alle bisher geltenden Verträge zwischen
den Kriegsbeteiligten erlöschen läßt, oder wenigstens suspendiert, so hat es den
Sinn der Anpassungsfähigkeit meisterlich erfaßt. Wenn es aber von dieser
allgemeinen Regel insofern Ausnahmen zuläßt, als es sich um Rechtssätze
handelt, die gerade für den Kriegsfall getroffen sind, ja, wenn es diese Aus¬
nahmen soweit treibt, daß im Hinblick auf sie (vgl. die Haager Landkriegs¬
ordnung, die Londoner Seerechtsdeklaration) heute das Wort Bluntschlis, der
Krieg sei in seinem Verlauf ein rechtlich geregelter riesiger Völkerprozeß, kaum
noch zu übertreiben scheint, so hat es den Bogen der Vertragstreue überspannt.
Der Weltkrieg mußte die Katastrophe bringen.

Es sei dies an einem Rechtsgrundsatz erläutert, den man in den Mittel¬
punkt des modernen Kriegsrechts gestellt hat. Man sagt, der Krieg begründe
Feindschaft nur zwischen den Staaten, nicht auch zwischen deren Bürgern. Man
meint damit, der Krieg solle nur zwischen den Heeren und gegen das Staats¬
gut geführt werden. Die friedlichen Bürger „werden deshalb fortfahren, die
Sicherheit ihrer Personen und ihrer Güter zu genießen"*). Man prüfe diesen
Grundsatz auf seine Anpassungsfähigkeit und verwerte dabei die Erfahrungen
dieses Krieges. Wir sehen Riesenaufgebote Bewaffneter, das Volk in Waffen.
Wir sehen jede Schlachtfront ins unbegrenzte tendieren. Im Bestreben, den



*) Proklamation König Wilhelms vom 11. August 1370. Vergleiche auch Artikel 17
der deutschen Kriegsartikel.*
15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0239" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323336"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Lehre des Krieges und die öffentliche lNeinimg</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_754" prev="#ID_753"> löst von seiner faktischen Geltung und die, im Geiste Savignus, neue Rechts¬<lb/>
formulierung nur zulassen will auf Grund der Erkenntnis der tatsächlichen<lb/>
Anpassungsfähigkeit des neuen Rechtssatzes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_755"> Die Untersuchung der Anpassungsfähigkeit des Völkerkriegsrechts enthüllt<lb/>
uns den Kern des Problems. Wenn selbst der Gesetzgeber im sicher<lb/>
funktionierenden Rechtsstaat hierauf zu achten hat, um nicht trotz aller Organe<lb/>
staatlichen Zwanges im späteren Rechtsleben Enttäuschungen zu erleben, so muß<lb/>
dies sür die unorganisierte Völkerrechtsgemeinschaft in erhöhtem Maße gelten.<lb/>
Fehlt sie, so ruht hier alles ans den schwachen Schultern der Vertragstreue.<lb/>
Es fehlt dann vor allem an der stärksten Garantie jedes Rechts und der<lb/>
einzigen eigentlichen des Völkerrechts, an dem im Rechtsinhalt steckenden<lb/>
unmittelbaren Interessenausgleich der Rechtsgenossen. Im Frieden wird solchen¬<lb/>
falls die mannigfache Wechselwirkung der Verkehrsbeziehungen wenigstens einen<lb/>
mittelbaren Interessenausgleich bringen, so daß dem an sich rein ethischen Prinzip<lb/>
der Vertragstreue in der Scheu vor den Folgen des Vertragsbruches die not¬<lb/>
wendige materielle Stütze erwächst.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_756"> Der Krieg aber zerschneidet alle Banden gemeinsamer Interessen. Es<lb/>
bleibt als einziges wahres Interesse der Wille zum Sieg, die Niederwerfung<lb/>
des Gegners. Für den modernen Weltkrieg gilt dies in besonderem Maße.<lb/>
Je kleiner die Zahl der unbeteiligten Staaten ist, um so geringer wird die<lb/>
Sorge vor den psychischen Folgen des Vertragsbruches. Wenn daher unser<lb/>
Völkerrecht mit dem Beginn des Krieges alle bisher geltenden Verträge zwischen<lb/>
den Kriegsbeteiligten erlöschen läßt, oder wenigstens suspendiert, so hat es den<lb/>
Sinn der Anpassungsfähigkeit meisterlich erfaßt. Wenn es aber von dieser<lb/>
allgemeinen Regel insofern Ausnahmen zuläßt, als es sich um Rechtssätze<lb/>
handelt, die gerade für den Kriegsfall getroffen sind, ja, wenn es diese Aus¬<lb/>
nahmen soweit treibt, daß im Hinblick auf sie (vgl. die Haager Landkriegs¬<lb/>
ordnung, die Londoner Seerechtsdeklaration) heute das Wort Bluntschlis, der<lb/>
Krieg sei in seinem Verlauf ein rechtlich geregelter riesiger Völkerprozeß, kaum<lb/>
noch zu übertreiben scheint, so hat es den Bogen der Vertragstreue überspannt.<lb/>
Der Weltkrieg mußte die Katastrophe bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_757" next="#ID_758"> Es sei dies an einem Rechtsgrundsatz erläutert, den man in den Mittel¬<lb/>
punkt des modernen Kriegsrechts gestellt hat. Man sagt, der Krieg begründe<lb/>
Feindschaft nur zwischen den Staaten, nicht auch zwischen deren Bürgern. Man<lb/>
meint damit, der Krieg solle nur zwischen den Heeren und gegen das Staats¬<lb/>
gut geführt werden. Die friedlichen Bürger &#x201E;werden deshalb fortfahren, die<lb/>
Sicherheit ihrer Personen und ihrer Güter zu genießen"*). Man prüfe diesen<lb/>
Grundsatz auf seine Anpassungsfähigkeit und verwerte dabei die Erfahrungen<lb/>
dieses Krieges. Wir sehen Riesenaufgebote Bewaffneter, das Volk in Waffen.<lb/>
Wir sehen jede Schlachtfront ins unbegrenzte tendieren. Im Bestreben, den</p><lb/>
          <note xml:id="FID_20" place="foot"> *) Proklamation König Wilhelms vom 11. August 1370. Vergleiche auch Artikel 17<lb/>
der deutschen Kriegsartikel.*</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 15</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0239] Die Lehre des Krieges und die öffentliche lNeinimg löst von seiner faktischen Geltung und die, im Geiste Savignus, neue Rechts¬ formulierung nur zulassen will auf Grund der Erkenntnis der tatsächlichen Anpassungsfähigkeit des neuen Rechtssatzes. Die Untersuchung der Anpassungsfähigkeit des Völkerkriegsrechts enthüllt uns den Kern des Problems. Wenn selbst der Gesetzgeber im sicher funktionierenden Rechtsstaat hierauf zu achten hat, um nicht trotz aller Organe staatlichen Zwanges im späteren Rechtsleben Enttäuschungen zu erleben, so muß dies sür die unorganisierte Völkerrechtsgemeinschaft in erhöhtem Maße gelten. Fehlt sie, so ruht hier alles ans den schwachen Schultern der Vertragstreue. Es fehlt dann vor allem an der stärksten Garantie jedes Rechts und der einzigen eigentlichen des Völkerrechts, an dem im Rechtsinhalt steckenden unmittelbaren Interessenausgleich der Rechtsgenossen. Im Frieden wird solchen¬ falls die mannigfache Wechselwirkung der Verkehrsbeziehungen wenigstens einen mittelbaren Interessenausgleich bringen, so daß dem an sich rein ethischen Prinzip der Vertragstreue in der Scheu vor den Folgen des Vertragsbruches die not¬ wendige materielle Stütze erwächst. Der Krieg aber zerschneidet alle Banden gemeinsamer Interessen. Es bleibt als einziges wahres Interesse der Wille zum Sieg, die Niederwerfung des Gegners. Für den modernen Weltkrieg gilt dies in besonderem Maße. Je kleiner die Zahl der unbeteiligten Staaten ist, um so geringer wird die Sorge vor den psychischen Folgen des Vertragsbruches. Wenn daher unser Völkerrecht mit dem Beginn des Krieges alle bisher geltenden Verträge zwischen den Kriegsbeteiligten erlöschen läßt, oder wenigstens suspendiert, so hat es den Sinn der Anpassungsfähigkeit meisterlich erfaßt. Wenn es aber von dieser allgemeinen Regel insofern Ausnahmen zuläßt, als es sich um Rechtssätze handelt, die gerade für den Kriegsfall getroffen sind, ja, wenn es diese Aus¬ nahmen soweit treibt, daß im Hinblick auf sie (vgl. die Haager Landkriegs¬ ordnung, die Londoner Seerechtsdeklaration) heute das Wort Bluntschlis, der Krieg sei in seinem Verlauf ein rechtlich geregelter riesiger Völkerprozeß, kaum noch zu übertreiben scheint, so hat es den Bogen der Vertragstreue überspannt. Der Weltkrieg mußte die Katastrophe bringen. Es sei dies an einem Rechtsgrundsatz erläutert, den man in den Mittel¬ punkt des modernen Kriegsrechts gestellt hat. Man sagt, der Krieg begründe Feindschaft nur zwischen den Staaten, nicht auch zwischen deren Bürgern. Man meint damit, der Krieg solle nur zwischen den Heeren und gegen das Staats¬ gut geführt werden. Die friedlichen Bürger „werden deshalb fortfahren, die Sicherheit ihrer Personen und ihrer Güter zu genießen"*). Man prüfe diesen Grundsatz auf seine Anpassungsfähigkeit und verwerte dabei die Erfahrungen dieses Krieges. Wir sehen Riesenaufgebote Bewaffneter, das Volk in Waffen. Wir sehen jede Schlachtfront ins unbegrenzte tendieren. Im Bestreben, den *) Proklamation König Wilhelms vom 11. August 1370. Vergleiche auch Artikel 17 der deutschen Kriegsartikel.* 15

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/239
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/239>, abgerufen am 04.06.2024.