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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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<Lin "Europäischer Stacrtcnbund"?

einen Staate recht ist, dem anderen nicht mehr billig ist. Bedenken wir. wie
schnell Spanien im siebzehnten Jahrhundert, die Türkei im neunzehnten Jahr¬
hundert zurückgegangen ist, wie schnell sich dagegen England im achtzehnten
Jahrhundert, Deutschland im neunzehnten Jahrhundert emporgeschwungen hat.
Welche wechselvollen Schicksale haben Schweden und die Niederlande durch¬
gemacht, was ist aus dem Kirchenstaate geworden und was hat sich in
Nordamerika aus einem Nichts herausentwickelt! -- Die oberste Gewalt im
Europäischen Staatenbund müßte solchen Vorgängen des unvermeidlichen Auf-
und Niedersteigens der einzelnen Völker oder Staaten doch irgendwie Rechnung
tragen, aber in welcher Weise dies geschehen sollte, ist mir rätselhaft. Da
sich der Wert der Einzelstaaten ändert, so müssen sich auch ihre Rechtsverhältnisse
ändern; Gleichberechtigung ist, wie gesagt, nur bei Gleichwertigkeit möglich.
Es scheint mir, daß der Europäische Staatenbund damit beginnen müßte, den
Einzelstaaten ihren Territortalbestand für alle Zeit zu garantieren, aber auch
hier würden sich wieder sehr sonderbare Konsequenzen ergeben. Englands
Kolontalreich, das ebensowenig wie andere Kolonialreiche "auf Grund der
Gleichberechtigung und inneren Selbständigkeit" der Kolonialvölker zustande
gekommen ist, umfaßt etwa ein Fünftel der Erde. Soll England dieses
Kolontalreich eventuell solange behalten, bis die Engländer in England selbst
ausgestorben sind, und darf Deutschland keinen Quadratmeter davon bekommen,
auch wenn seine Bevölkerung inzwischen auf 200 Millionen angewachsen
wäre?

Nehmen wir an, ein Mann habe zwei Söhne, die ihm gleich lieb sind.
Vor ihrer Schulzeit sei keine geistige Verschiedenheit an ihnen bemerkbar, und
demgemäß verwendet der Vater zunächst gleich viel Mühe und gleich viel Geld
- auf ihre Ausbildung. Im Laufe der Schulzeit stelle sich aber heraus, daß der
eine Sohn hochbegabt und fleißig, der andere schwachbegabt und faul ist. Soll
der Vater nun auf seinem früheren Standpunkte verharren? Doch wohl nicht.
Als die Jungen ansingen, in die Schule zu gehen, wird er sich vielleicht
vorgenommen haben, für ihre gesamte Berufsausbildung -- seinen Vermögens-
verhältnissen entsprechend -- sagen wir je zehntausend Mark aufzuwenden:
ihr vermeintlich gleicher geistiger Wert sicherte ihnen gleiches Recht an des
Vaters Geldbeutel. Später wird er aber seinen Entschluß ändern; er
wird den einen Sohn studieren, den anderen ein Handwerk lernen lassen, und
er wird dabei für jenen sagen wir sechzehntausend Mark, für diesen nur
viertausend Mark aufwenden; ihr verschiedener geistiger Wert sichert den
Söhnen auch verschiedenes Recht. Und wenn der Vater anders verführe, so
würde jeder verständige Mensch ihn tadeln müssen. Sollten sich aber die
beiden Söhne allein unter einander zu einigen haben, so ist hundert gegen
eins zu wetten, daß der dumme und faule ebensoviel Geld beanspruchen
würde wie der kluge und fleißige, und dieser müßte dann entweder auf eine
Ausbildung, zu der sein größerer geistiger Wert ihn berechtigte, verzichten,


<Lin „Europäischer Stacrtcnbund"?

einen Staate recht ist, dem anderen nicht mehr billig ist. Bedenken wir. wie
schnell Spanien im siebzehnten Jahrhundert, die Türkei im neunzehnten Jahr¬
hundert zurückgegangen ist, wie schnell sich dagegen England im achtzehnten
Jahrhundert, Deutschland im neunzehnten Jahrhundert emporgeschwungen hat.
Welche wechselvollen Schicksale haben Schweden und die Niederlande durch¬
gemacht, was ist aus dem Kirchenstaate geworden und was hat sich in
Nordamerika aus einem Nichts herausentwickelt! — Die oberste Gewalt im
Europäischen Staatenbund müßte solchen Vorgängen des unvermeidlichen Auf-
und Niedersteigens der einzelnen Völker oder Staaten doch irgendwie Rechnung
tragen, aber in welcher Weise dies geschehen sollte, ist mir rätselhaft. Da
sich der Wert der Einzelstaaten ändert, so müssen sich auch ihre Rechtsverhältnisse
ändern; Gleichberechtigung ist, wie gesagt, nur bei Gleichwertigkeit möglich.
Es scheint mir, daß der Europäische Staatenbund damit beginnen müßte, den
Einzelstaaten ihren Territortalbestand für alle Zeit zu garantieren, aber auch
hier würden sich wieder sehr sonderbare Konsequenzen ergeben. Englands
Kolontalreich, das ebensowenig wie andere Kolonialreiche „auf Grund der
Gleichberechtigung und inneren Selbständigkeit" der Kolonialvölker zustande
gekommen ist, umfaßt etwa ein Fünftel der Erde. Soll England dieses
Kolontalreich eventuell solange behalten, bis die Engländer in England selbst
ausgestorben sind, und darf Deutschland keinen Quadratmeter davon bekommen,
auch wenn seine Bevölkerung inzwischen auf 200 Millionen angewachsen
wäre?

Nehmen wir an, ein Mann habe zwei Söhne, die ihm gleich lieb sind.
Vor ihrer Schulzeit sei keine geistige Verschiedenheit an ihnen bemerkbar, und
demgemäß verwendet der Vater zunächst gleich viel Mühe und gleich viel Geld
- auf ihre Ausbildung. Im Laufe der Schulzeit stelle sich aber heraus, daß der
eine Sohn hochbegabt und fleißig, der andere schwachbegabt und faul ist. Soll
der Vater nun auf seinem früheren Standpunkte verharren? Doch wohl nicht.
Als die Jungen ansingen, in die Schule zu gehen, wird er sich vielleicht
vorgenommen haben, für ihre gesamte Berufsausbildung — seinen Vermögens-
verhältnissen entsprechend — sagen wir je zehntausend Mark aufzuwenden:
ihr vermeintlich gleicher geistiger Wert sicherte ihnen gleiches Recht an des
Vaters Geldbeutel. Später wird er aber seinen Entschluß ändern; er
wird den einen Sohn studieren, den anderen ein Handwerk lernen lassen, und
er wird dabei für jenen sagen wir sechzehntausend Mark, für diesen nur
viertausend Mark aufwenden; ihr verschiedener geistiger Wert sichert den
Söhnen auch verschiedenes Recht. Und wenn der Vater anders verführe, so
würde jeder verständige Mensch ihn tadeln müssen. Sollten sich aber die
beiden Söhne allein unter einander zu einigen haben, so ist hundert gegen
eins zu wetten, daß der dumme und faule ebensoviel Geld beanspruchen
würde wie der kluge und fleißige, und dieser müßte dann entweder auf eine
Ausbildung, zu der sein größerer geistiger Wert ihn berechtigte, verzichten,


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[0283] <Lin „Europäischer Stacrtcnbund"? einen Staate recht ist, dem anderen nicht mehr billig ist. Bedenken wir. wie schnell Spanien im siebzehnten Jahrhundert, die Türkei im neunzehnten Jahr¬ hundert zurückgegangen ist, wie schnell sich dagegen England im achtzehnten Jahrhundert, Deutschland im neunzehnten Jahrhundert emporgeschwungen hat. Welche wechselvollen Schicksale haben Schweden und die Niederlande durch¬ gemacht, was ist aus dem Kirchenstaate geworden und was hat sich in Nordamerika aus einem Nichts herausentwickelt! — Die oberste Gewalt im Europäischen Staatenbund müßte solchen Vorgängen des unvermeidlichen Auf- und Niedersteigens der einzelnen Völker oder Staaten doch irgendwie Rechnung tragen, aber in welcher Weise dies geschehen sollte, ist mir rätselhaft. Da sich der Wert der Einzelstaaten ändert, so müssen sich auch ihre Rechtsverhältnisse ändern; Gleichberechtigung ist, wie gesagt, nur bei Gleichwertigkeit möglich. Es scheint mir, daß der Europäische Staatenbund damit beginnen müßte, den Einzelstaaten ihren Territortalbestand für alle Zeit zu garantieren, aber auch hier würden sich wieder sehr sonderbare Konsequenzen ergeben. Englands Kolontalreich, das ebensowenig wie andere Kolonialreiche „auf Grund der Gleichberechtigung und inneren Selbständigkeit" der Kolonialvölker zustande gekommen ist, umfaßt etwa ein Fünftel der Erde. Soll England dieses Kolontalreich eventuell solange behalten, bis die Engländer in England selbst ausgestorben sind, und darf Deutschland keinen Quadratmeter davon bekommen, auch wenn seine Bevölkerung inzwischen auf 200 Millionen angewachsen wäre? Nehmen wir an, ein Mann habe zwei Söhne, die ihm gleich lieb sind. Vor ihrer Schulzeit sei keine geistige Verschiedenheit an ihnen bemerkbar, und demgemäß verwendet der Vater zunächst gleich viel Mühe und gleich viel Geld - auf ihre Ausbildung. Im Laufe der Schulzeit stelle sich aber heraus, daß der eine Sohn hochbegabt und fleißig, der andere schwachbegabt und faul ist. Soll der Vater nun auf seinem früheren Standpunkte verharren? Doch wohl nicht. Als die Jungen ansingen, in die Schule zu gehen, wird er sich vielleicht vorgenommen haben, für ihre gesamte Berufsausbildung — seinen Vermögens- verhältnissen entsprechend — sagen wir je zehntausend Mark aufzuwenden: ihr vermeintlich gleicher geistiger Wert sicherte ihnen gleiches Recht an des Vaters Geldbeutel. Später wird er aber seinen Entschluß ändern; er wird den einen Sohn studieren, den anderen ein Handwerk lernen lassen, und er wird dabei für jenen sagen wir sechzehntausend Mark, für diesen nur viertausend Mark aufwenden; ihr verschiedener geistiger Wert sichert den Söhnen auch verschiedenes Recht. Und wenn der Vater anders verführe, so würde jeder verständige Mensch ihn tadeln müssen. Sollten sich aber die beiden Söhne allein unter einander zu einigen haben, so ist hundert gegen eins zu wetten, daß der dumme und faule ebensoviel Geld beanspruchen würde wie der kluge und fleißige, und dieser müßte dann entweder auf eine Ausbildung, zu der sein größerer geistiger Wert ihn berechtigte, verzichten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/283>, abgerufen am 10.06.2024.