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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Lin "Europäischer Staatenbund"?

oder er müßte Mittel und Wege finden, seinen Bruder ungestraft um einige
tausend Mark zu erleichtern.

Die Anwendung hiervon auf den geplanten Europäischen Staatenbund
ist leicht; aber wodurch soll bei diesem die Einsicht und Gewalt des Vaters
ersetzt werden? Es verhält sich hier offenbar analog wie mit den früher
erwähnten fünf Brüdern; und in beiden Fällen wiederum liegt, soviel ich
sehe, etwas ähnliches vor wie bet dem Problem des Ersatzes der künstlichen
durch die natürliche Auslese in der Entstehung und Umbildung der Arten.
Die "künstliche" Auslese unter den Brüdern geschieht durch das Eingreifen
des Vaters; die "natürliche" Auslese unter den Einzelstaaten (den "Bruder¬
völkern") geschieht zunächst durch friedliche Konkurrenz auf allen Gebieten des
politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Lebens, und später,
wenn dies nicht mehr hilft, durch den Krieg.

Ist also, so betrachtet, der Krieg etwas Unvermeidbares, so ist er doch
selbstverständlich auch etwas im höchsten Grade Bedauerliches und -- vom
Standpunkte der Privatmoral -- ebenso Unkluges wie Verwerfliches und mit
allen Mitteln zu Bekämpfendes, und man könnte versucht sein, den Strahlen¬
kranz der Erhabenheit und Herrlichkeit, mit dem er jetzt vielfach umgeben
wird, zu verlachen und zu verspotten. Aber damit täte man ein großes
Unrecht; denn mit dem Tode, der jedem, der in den Krieg zog. täglich und
stündlich vor Augen steht, ist nun einmal nicht zu spaßen, auch nicht von
den zu Hause gebliebenen. -- Wie man sich als sogenannter moderner Kultur¬
mensch, als der man sich doch immerhin fühlt, in seinem Verstände und
Gewissen mit der Tatsache des gegenwärtigen Krieges abfinden soll und kann, --
das scheint mir ein Mysterium zu sein. Und es ist wohl am besten, wenn
es eines bleibt.


Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr ergebener
Dr. O. B.


Lin „Europäischer Staatenbund"?

oder er müßte Mittel und Wege finden, seinen Bruder ungestraft um einige
tausend Mark zu erleichtern.

Die Anwendung hiervon auf den geplanten Europäischen Staatenbund
ist leicht; aber wodurch soll bei diesem die Einsicht und Gewalt des Vaters
ersetzt werden? Es verhält sich hier offenbar analog wie mit den früher
erwähnten fünf Brüdern; und in beiden Fällen wiederum liegt, soviel ich
sehe, etwas ähnliches vor wie bet dem Problem des Ersatzes der künstlichen
durch die natürliche Auslese in der Entstehung und Umbildung der Arten.
Die „künstliche" Auslese unter den Brüdern geschieht durch das Eingreifen
des Vaters; die „natürliche" Auslese unter den Einzelstaaten (den „Bruder¬
völkern") geschieht zunächst durch friedliche Konkurrenz auf allen Gebieten des
politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Lebens, und später,
wenn dies nicht mehr hilft, durch den Krieg.

Ist also, so betrachtet, der Krieg etwas Unvermeidbares, so ist er doch
selbstverständlich auch etwas im höchsten Grade Bedauerliches und — vom
Standpunkte der Privatmoral — ebenso Unkluges wie Verwerfliches und mit
allen Mitteln zu Bekämpfendes, und man könnte versucht sein, den Strahlen¬
kranz der Erhabenheit und Herrlichkeit, mit dem er jetzt vielfach umgeben
wird, zu verlachen und zu verspotten. Aber damit täte man ein großes
Unrecht; denn mit dem Tode, der jedem, der in den Krieg zog. täglich und
stündlich vor Augen steht, ist nun einmal nicht zu spaßen, auch nicht von
den zu Hause gebliebenen. — Wie man sich als sogenannter moderner Kultur¬
mensch, als der man sich doch immerhin fühlt, in seinem Verstände und
Gewissen mit der Tatsache des gegenwärtigen Krieges abfinden soll und kann, —
das scheint mir ein Mysterium zu sein. Und es ist wohl am besten, wenn
es eines bleibt.


Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr ergebener
Dr. O. B.


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[0284] Lin „Europäischer Staatenbund"? oder er müßte Mittel und Wege finden, seinen Bruder ungestraft um einige tausend Mark zu erleichtern. Die Anwendung hiervon auf den geplanten Europäischen Staatenbund ist leicht; aber wodurch soll bei diesem die Einsicht und Gewalt des Vaters ersetzt werden? Es verhält sich hier offenbar analog wie mit den früher erwähnten fünf Brüdern; und in beiden Fällen wiederum liegt, soviel ich sehe, etwas ähnliches vor wie bet dem Problem des Ersatzes der künstlichen durch die natürliche Auslese in der Entstehung und Umbildung der Arten. Die „künstliche" Auslese unter den Brüdern geschieht durch das Eingreifen des Vaters; die „natürliche" Auslese unter den Einzelstaaten (den „Bruder¬ völkern") geschieht zunächst durch friedliche Konkurrenz auf allen Gebieten des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Lebens, und später, wenn dies nicht mehr hilft, durch den Krieg. Ist also, so betrachtet, der Krieg etwas Unvermeidbares, so ist er doch selbstverständlich auch etwas im höchsten Grade Bedauerliches und — vom Standpunkte der Privatmoral — ebenso Unkluges wie Verwerfliches und mit allen Mitteln zu Bekämpfendes, und man könnte versucht sein, den Strahlen¬ kranz der Erhabenheit und Herrlichkeit, mit dem er jetzt vielfach umgeben wird, zu verlachen und zu verspotten. Aber damit täte man ein großes Unrecht; denn mit dem Tode, der jedem, der in den Krieg zog. täglich und stündlich vor Augen steht, ist nun einmal nicht zu spaßen, auch nicht von den zu Hause gebliebenen. — Wie man sich als sogenannter moderner Kultur¬ mensch, als der man sich doch immerhin fühlt, in seinem Verstände und Gewissen mit der Tatsache des gegenwärtigen Krieges abfinden soll und kann, — das scheint mir ein Mysterium zu sein. Und es ist wohl am besten, wenn es eines bleibt. Mit hochachtungsvollem Gruß Ihr ergebener Dr. O. B.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/284>, abgerufen am 15.05.2024.