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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ein holländischer Britenspicgel

die belgische Regierung selbst bei bestem Willen nicht hätte hindern können,
ohne einen Aufstand der durchaus franzosenfreundlichen Bevölkerung zu riskieren.
Unter diesen Umständen konnte es nach Vatter von den verantwortlichen
Männern in Deutschland keinen Augenblick erwartet werden, daß sie die so
unsichere belgische Neutralität achten sollten, bis daß sie durch einen der anderen
Garanten verletzt werden würde. "Zwingende Notwendigkeit hat Deutschland
das Recht gegeben, dem Angriff im eigenen Lande zuvorzukommen. Maßgebende
Strategen haben ganz offen die für Belgien beklagenswerten Folgen der einmal
bestehenden Verhältnisse besprochen, für die Deutschland wohl am wenigsten
verantwortlich war." König Alberts Pflicht wäre es gewesen, heißt es weiter,
unter den obwaltenden politischen Verhältnissen Maßregeln zu treffen, durch die
dem schwer bedrohten Nachbarstaat Deutschland Sicherheiten gegen einen
französischen Überfall durch belgisches Gebiet gegeben worden wären. 1870 war
dies unnötig, weil damals ein neutraler Garant (England) vorhanden war.
Einen solchen gab es jetzt nicht, es sei denn Amerika. Dieses konnte zwar
bei seinen freundschaftlichen Beziehungen zu England kaum als desinteressiert
gelten, aber es erscheint doch möglich, daß die Vereinigten Staaten willens und
imstande gewesen wären (nach dem Abtreten der republikanischen Partei),
Schritte zu unternehmen, um die Neutralität Belgiens gegen eine Verletzung
sowohl seitens Frankreichs als auch seitens des Deutschen Reiches sicherzustellen.
(Vatter läßt es dahingestellt, ob dahingehende Besprechungen stattgefunden
haben.) Aber außerdem gab es noch zwei Auswege zur Rettung Belgiens.
Der erste war: das Königreich nahm gleichwie Luxemburg eine völlig duldende
Haltung ein, was natürlich eine gewisse Demütigung des Nationalstolzes
bedeutet haben würde. Ein zweiter Ausweg wäre gewesen, Belgien hätte sich
mit Deutschland, als der schlechtest gestellten Partei, über Sicherheiten gegen
einen französischen Einfall in das neutrale Gebiet beraten. Dies konnte aller¬
dings insofern bedenklich erscheinen, als dadurch die Neutralität von den anderen
formell als verletzt hätte angesehen werden können. Hätte Frankreich die
Gewißheit gehabt, daß Belgien nicht nur unter dem Zwange interner Verhältnisse,
sondern auch aus freiem Willen heraus einem französischen Einfall in sein
Gebiet ebensolchen Widerstand entgegensetzen würde wie einem deutschen, oder
daß es sogar besondere Maßregeln gegen eine Neutralitätsverletzung von
Frankreichs Seite anwenden würde, so hätten die Ereignisse einen ganz anderen
Lauf nehmen können. Aber Belgien hat sich, so urteilt Vatter, der ihm durch
den berühmten Vertrag zugewiesenen Rolle nicht gewachsen gezeigt. König
Alberts Regierung hat sich vielmehr, "den Schein der Dinge höher stellend als
ihr Wesen", wohl von hochfliegenden Plänen verführt, dazu verleiten lassen,
1906 und 1912 mit England über ein militärisches Zusammenwirken im
Kriegsfalle gegen Deutschland, nicht auch gegen Frankreich, Beratungen zu
pflegen. So war die Neutralität praktisch preisgegeben. "Belgien war im
Komplott mit Deutschlands Feinden."


Ein holländischer Britenspicgel

die belgische Regierung selbst bei bestem Willen nicht hätte hindern können,
ohne einen Aufstand der durchaus franzosenfreundlichen Bevölkerung zu riskieren.
Unter diesen Umständen konnte es nach Vatter von den verantwortlichen
Männern in Deutschland keinen Augenblick erwartet werden, daß sie die so
unsichere belgische Neutralität achten sollten, bis daß sie durch einen der anderen
Garanten verletzt werden würde. „Zwingende Notwendigkeit hat Deutschland
das Recht gegeben, dem Angriff im eigenen Lande zuvorzukommen. Maßgebende
Strategen haben ganz offen die für Belgien beklagenswerten Folgen der einmal
bestehenden Verhältnisse besprochen, für die Deutschland wohl am wenigsten
verantwortlich war." König Alberts Pflicht wäre es gewesen, heißt es weiter,
unter den obwaltenden politischen Verhältnissen Maßregeln zu treffen, durch die
dem schwer bedrohten Nachbarstaat Deutschland Sicherheiten gegen einen
französischen Überfall durch belgisches Gebiet gegeben worden wären. 1870 war
dies unnötig, weil damals ein neutraler Garant (England) vorhanden war.
Einen solchen gab es jetzt nicht, es sei denn Amerika. Dieses konnte zwar
bei seinen freundschaftlichen Beziehungen zu England kaum als desinteressiert
gelten, aber es erscheint doch möglich, daß die Vereinigten Staaten willens und
imstande gewesen wären (nach dem Abtreten der republikanischen Partei),
Schritte zu unternehmen, um die Neutralität Belgiens gegen eine Verletzung
sowohl seitens Frankreichs als auch seitens des Deutschen Reiches sicherzustellen.
(Vatter läßt es dahingestellt, ob dahingehende Besprechungen stattgefunden
haben.) Aber außerdem gab es noch zwei Auswege zur Rettung Belgiens.
Der erste war: das Königreich nahm gleichwie Luxemburg eine völlig duldende
Haltung ein, was natürlich eine gewisse Demütigung des Nationalstolzes
bedeutet haben würde. Ein zweiter Ausweg wäre gewesen, Belgien hätte sich
mit Deutschland, als der schlechtest gestellten Partei, über Sicherheiten gegen
einen französischen Einfall in das neutrale Gebiet beraten. Dies konnte aller¬
dings insofern bedenklich erscheinen, als dadurch die Neutralität von den anderen
formell als verletzt hätte angesehen werden können. Hätte Frankreich die
Gewißheit gehabt, daß Belgien nicht nur unter dem Zwange interner Verhältnisse,
sondern auch aus freiem Willen heraus einem französischen Einfall in sein
Gebiet ebensolchen Widerstand entgegensetzen würde wie einem deutschen, oder
daß es sogar besondere Maßregeln gegen eine Neutralitätsverletzung von
Frankreichs Seite anwenden würde, so hätten die Ereignisse einen ganz anderen
Lauf nehmen können. Aber Belgien hat sich, so urteilt Vatter, der ihm durch
den berühmten Vertrag zugewiesenen Rolle nicht gewachsen gezeigt. König
Alberts Regierung hat sich vielmehr, „den Schein der Dinge höher stellend als
ihr Wesen", wohl von hochfliegenden Plänen verführt, dazu verleiten lassen,
1906 und 1912 mit England über ein militärisches Zusammenwirken im
Kriegsfalle gegen Deutschland, nicht auch gegen Frankreich, Beratungen zu
pflegen. So war die Neutralität praktisch preisgegeben. „Belgien war im
Komplott mit Deutschlands Feinden."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/289>, abgerufen am 09.06.2024.