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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen des versichcrungsgcdcinkens

fetten Bourgeois, der in der Eisenbahn eine Dame stehen läßt, weil er "sein
Billet so gut bezahlt hat, wie sie" oder der bei der Table d'hote sich die besten
Stücke von der Schüssel sucht, weil er dazu ein "gutes Recht" zu haben
glaubt. Gerade dieser ethisch höchst anfechtbare Menschenschlag gerät aber
bekanntlich bei der geringfügigsten Antastung seiner heiligen "Rechte" in eine
fürchterliche moralische Entrüstung.

Diese Verleitung zum skrupelloser Rechtsstandpunkt ist der Kern der
demoralisierenden Wirkung der Versicherung auf den Versicherten. Es verdient
noch hervorgehoben zu werden, daß sie zugleich eine Art von ganz sublimen
Hochmut nährt. Es ist der sogenannte Bettelstolz, sich nichts schenken lassen zu
wollen. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß dieser in einer niedrigen
Auffassung vom Wesen des Geschenks gründet. Das echte Geschenk als Gabe der
Güte hat mit der Möglichkeit des Empfängers "sich zu revanchieren" nichts zu
tun, denn das Gegengeschenk schiebt dem zuerst Gebenden die Hoffnung auf ein
solches unter, wodurch seine Gabe entwertet wird, und es verkennt zugleich die
Unvergeltbarkeit des wahren Geschenks. Gewiß gilt Nietzsches Gebot der
Sprödigkeit im Annehmen zu Recht. Wir sollen nur von der Liebe annehmen,
und diese unsere Annahme ist eine Ehrung, die wir dem Geber erweisen. Der
echten Liebe aber, der Caritas, eine Gabe zurückzuweisen, ist Hochmut. Dieser
Hochmut, der in der Not die Hilfe der Freunde verschmäht, findet in dem
Rechtsstandpunkt, den ihm die Institution der Versicherung nahe legt, einen
willkommenen Schlupfwinkel. Dem willigen Geschenk der Güte seiner Freunde,
seiner "Nächsten", zieht der auf diesem Standpunkt Stehende in seinem verirrten
Stolze die Gabe derer vor, die in der Versicherung ihre Prämien umsonst gezahlt
oder doch sich wenigstens bloß eine Portion Sorglosigkeit damit erkauft haben.

Schon alle bisherigen Ausführungen laufen der herrschenden, von der
glänzenden Außenseite der Versicherungsidee bestochenen Meinung so entgegen,
daß nur von einem tieferen Durchdenken mehr als ein Kopfschütteln oder ein
unwilliges Achselzucken zu erwarten ist. Zu tief in den Gliedern sitzt uns allen
ja der leidige Zivilisaüonsstolz des neuzeitlichen Menschen, wie wir es doch so
herrlich weit gebracht! Vollends aber zu einer Lächerlichkeit ist es geworden,
wenn wir daran erinnern, daß die Versicherung ein hervorragendes Mittel ist,
um den Gott auszuschalten, der das Wort von den Lilien auf dem Feld sprach.
Es muß in besonderem Zusammenhang erhärtet werden, wie es die Rolle der
Zivilisation ist, den gottgewollten Unterschied von Gegenwart. Vergangenheit
und Zukunft zu fälschen. Insbesondere gilt dies von der Zukunft, die durch
unsere klugen Vorausberechnungen -- savoir pour prövoir sagt Comte vom
Wesen der Wissenschaft --, durch unsere hygienisch-prophylaktischen Schlauheiten
und durch unser sinnreiches Versichernngssystem ihres Zukunftscharakters so weit
entkleidet wird, daß wir uns ganz behaglich darin einnisten, als gehörten wir
dahin und nicht in die Gegenwart und nur in sie. Auch hier tritt zutage,
wie die Zivilisation im Mißtrauen wurzelt. Da aber das Wesen der Religion


Die Grenzen des versichcrungsgcdcinkens

fetten Bourgeois, der in der Eisenbahn eine Dame stehen läßt, weil er „sein
Billet so gut bezahlt hat, wie sie" oder der bei der Table d'hote sich die besten
Stücke von der Schüssel sucht, weil er dazu ein „gutes Recht" zu haben
glaubt. Gerade dieser ethisch höchst anfechtbare Menschenschlag gerät aber
bekanntlich bei der geringfügigsten Antastung seiner heiligen „Rechte" in eine
fürchterliche moralische Entrüstung.

Diese Verleitung zum skrupelloser Rechtsstandpunkt ist der Kern der
demoralisierenden Wirkung der Versicherung auf den Versicherten. Es verdient
noch hervorgehoben zu werden, daß sie zugleich eine Art von ganz sublimen
Hochmut nährt. Es ist der sogenannte Bettelstolz, sich nichts schenken lassen zu
wollen. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß dieser in einer niedrigen
Auffassung vom Wesen des Geschenks gründet. Das echte Geschenk als Gabe der
Güte hat mit der Möglichkeit des Empfängers „sich zu revanchieren" nichts zu
tun, denn das Gegengeschenk schiebt dem zuerst Gebenden die Hoffnung auf ein
solches unter, wodurch seine Gabe entwertet wird, und es verkennt zugleich die
Unvergeltbarkeit des wahren Geschenks. Gewiß gilt Nietzsches Gebot der
Sprödigkeit im Annehmen zu Recht. Wir sollen nur von der Liebe annehmen,
und diese unsere Annahme ist eine Ehrung, die wir dem Geber erweisen. Der
echten Liebe aber, der Caritas, eine Gabe zurückzuweisen, ist Hochmut. Dieser
Hochmut, der in der Not die Hilfe der Freunde verschmäht, findet in dem
Rechtsstandpunkt, den ihm die Institution der Versicherung nahe legt, einen
willkommenen Schlupfwinkel. Dem willigen Geschenk der Güte seiner Freunde,
seiner „Nächsten", zieht der auf diesem Standpunkt Stehende in seinem verirrten
Stolze die Gabe derer vor, die in der Versicherung ihre Prämien umsonst gezahlt
oder doch sich wenigstens bloß eine Portion Sorglosigkeit damit erkauft haben.

Schon alle bisherigen Ausführungen laufen der herrschenden, von der
glänzenden Außenseite der Versicherungsidee bestochenen Meinung so entgegen,
daß nur von einem tieferen Durchdenken mehr als ein Kopfschütteln oder ein
unwilliges Achselzucken zu erwarten ist. Zu tief in den Gliedern sitzt uns allen
ja der leidige Zivilisaüonsstolz des neuzeitlichen Menschen, wie wir es doch so
herrlich weit gebracht! Vollends aber zu einer Lächerlichkeit ist es geworden,
wenn wir daran erinnern, daß die Versicherung ein hervorragendes Mittel ist,
um den Gott auszuschalten, der das Wort von den Lilien auf dem Feld sprach.
Es muß in besonderem Zusammenhang erhärtet werden, wie es die Rolle der
Zivilisation ist, den gottgewollten Unterschied von Gegenwart. Vergangenheit
und Zukunft zu fälschen. Insbesondere gilt dies von der Zukunft, die durch
unsere klugen Vorausberechnungen — savoir pour prövoir sagt Comte vom
Wesen der Wissenschaft —, durch unsere hygienisch-prophylaktischen Schlauheiten
und durch unser sinnreiches Versichernngssystem ihres Zukunftscharakters so weit
entkleidet wird, daß wir uns ganz behaglich darin einnisten, als gehörten wir
dahin und nicht in die Gegenwart und nur in sie. Auch hier tritt zutage,
wie die Zivilisation im Mißtrauen wurzelt. Da aber das Wesen der Religion


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/33>, abgerufen am 15.05.2024.