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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen des Versicherungsgedankens

in das Leben bringt, welcher Wert ihm in dieser Richtung innewohnt, braucht
nicht mehr ausgesprochen zu werden. Man würde oft Gesagtes wiederholen.
Auch an seiner weiteren Ausdehnbarkeit braucht nicht gezweifelt zu werden.
Bon seinem Ursprung her jedoch, den wir im Zivilisationsgedanken fanden,
haftet ihm eine Fragwürdigkeit an, deren Durchdenkung sich gerade der nicht
entziehen sollte, der bisher nur das bestechende an ihm gesehen hat. Denn das
vor allem tut uns in diesem Augenblick, da wir vielleicht an einem welt¬
geschichtlichen Wendepunkt stehen, in allererster Linie not: daß wir uns vor einem
Zivilisationstaumel hüten, daß wir die Grenze ihres Wertbereichs erkennen.
Und diese so ungeheuer dringliche Einsicht wird für uns eher Gestalt gewinnen,
wenn wir sie am Einzelfall, wie hier an der Versicherungsidee, als in abstrakter
Allgemeinheit an dem Gedanken der Zivilisation überhaupt suchen.

Es wurde bereits ausgeführt, daß die Nötigung zur Versicherung aus
dem Mißtrauen erwächst. Weil wir der Hilfe von Personen nicht trauen,
übertragen wir ihre Aufgabe einer seelenlosen mechanischen Institution; weil wir
nicht an die Gabe aus Güte glauben, verwandeln wir sie in einen Rechts¬
anspruch. Früher spannte das Unglück die Kräfte an und ein berechtigter Stolz
hinderte uns über Gebühr fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Heute schläfert
uns der Verlaß auf die Versicherungsgesellschaft ein. Eine eigene Krankheit, die
Nentenhysterie*), hat sich herausgebildet. Der Wunsch, eine gewisse Rente zu
erlangen, ruft bei einer bestimmten Sorte nervöser Gegenwartsmenschen tatsächlich
die nötige Krankheit hervor. Und der schwerste Beinbruch wird versüßt nicht
nur durch die Zahlung der Gesellschaft, sondern obendrein durch das beseligende
Bewußtsein des Triumphes, das zehnfache der eingezahlten Prämien "heraus¬
geschunden" zu haben -- auf Kosten derer natürlich, die sich kein Bein brechen.
Die können ja sogar froh sein! Das ist der sophistische Trost, der auch über
eine Anwandlung von Scham hinweghilft.

Es ist also das Pochen auf das "gute Recht", daß feiner empfindenden
Naturen so oft als unanständig erscheint, zu dem das Versicherungswesen ver¬
führt. Man wird nicht zu weit gehen, wenn man auf diese Neigung zur Be¬
tonung des Rechtsstandpunktes ein gut Teil der Abneigung zurückführt, die sich
der Bürger des neuen Deutschland im Ausland zugezogen hat. Gewiß bäumt
das Recht seinem Wesen nach den Egoismus des einzelnen ein, aber nicht, weil
es am Egoismus an sich etwas auszusetzen hätte -- ganz im Gegenteil, es
erkennt ihn an! -- sondern bloß, weil es mit einer Mehrheit von Egoismen
rechnet und sie gegeneinander abgrenzt. Das Recht, könnte man sagen, ist die
Regulierung der sozial möglichen Maximalegoismen. Und dies erlaubte
Maximum ist noch immer erheblich genug, um den, der es voll ausnützt, zu
einem widerlichen Patron zu stempeln. Jeder kennt zur Genüge den Typ des



*) Vgl. den Aufsatz von Max Scheler, Rentenhysterie. Zu all den hier behandelten
Problemen hat dieser Denker in seinen demnächst gesammelt erscheinenden Aufsätzen gegen¬
wärtig das Beste gesagt.
Die Grenzen des Versicherungsgedankens

in das Leben bringt, welcher Wert ihm in dieser Richtung innewohnt, braucht
nicht mehr ausgesprochen zu werden. Man würde oft Gesagtes wiederholen.
Auch an seiner weiteren Ausdehnbarkeit braucht nicht gezweifelt zu werden.
Bon seinem Ursprung her jedoch, den wir im Zivilisationsgedanken fanden,
haftet ihm eine Fragwürdigkeit an, deren Durchdenkung sich gerade der nicht
entziehen sollte, der bisher nur das bestechende an ihm gesehen hat. Denn das
vor allem tut uns in diesem Augenblick, da wir vielleicht an einem welt¬
geschichtlichen Wendepunkt stehen, in allererster Linie not: daß wir uns vor einem
Zivilisationstaumel hüten, daß wir die Grenze ihres Wertbereichs erkennen.
Und diese so ungeheuer dringliche Einsicht wird für uns eher Gestalt gewinnen,
wenn wir sie am Einzelfall, wie hier an der Versicherungsidee, als in abstrakter
Allgemeinheit an dem Gedanken der Zivilisation überhaupt suchen.

Es wurde bereits ausgeführt, daß die Nötigung zur Versicherung aus
dem Mißtrauen erwächst. Weil wir der Hilfe von Personen nicht trauen,
übertragen wir ihre Aufgabe einer seelenlosen mechanischen Institution; weil wir
nicht an die Gabe aus Güte glauben, verwandeln wir sie in einen Rechts¬
anspruch. Früher spannte das Unglück die Kräfte an und ein berechtigter Stolz
hinderte uns über Gebühr fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Heute schläfert
uns der Verlaß auf die Versicherungsgesellschaft ein. Eine eigene Krankheit, die
Nentenhysterie*), hat sich herausgebildet. Der Wunsch, eine gewisse Rente zu
erlangen, ruft bei einer bestimmten Sorte nervöser Gegenwartsmenschen tatsächlich
die nötige Krankheit hervor. Und der schwerste Beinbruch wird versüßt nicht
nur durch die Zahlung der Gesellschaft, sondern obendrein durch das beseligende
Bewußtsein des Triumphes, das zehnfache der eingezahlten Prämien „heraus¬
geschunden" zu haben — auf Kosten derer natürlich, die sich kein Bein brechen.
Die können ja sogar froh sein! Das ist der sophistische Trost, der auch über
eine Anwandlung von Scham hinweghilft.

Es ist also das Pochen auf das „gute Recht", daß feiner empfindenden
Naturen so oft als unanständig erscheint, zu dem das Versicherungswesen ver¬
führt. Man wird nicht zu weit gehen, wenn man auf diese Neigung zur Be¬
tonung des Rechtsstandpunktes ein gut Teil der Abneigung zurückführt, die sich
der Bürger des neuen Deutschland im Ausland zugezogen hat. Gewiß bäumt
das Recht seinem Wesen nach den Egoismus des einzelnen ein, aber nicht, weil
es am Egoismus an sich etwas auszusetzen hätte — ganz im Gegenteil, es
erkennt ihn an! — sondern bloß, weil es mit einer Mehrheit von Egoismen
rechnet und sie gegeneinander abgrenzt. Das Recht, könnte man sagen, ist die
Regulierung der sozial möglichen Maximalegoismen. Und dies erlaubte
Maximum ist noch immer erheblich genug, um den, der es voll ausnützt, zu
einem widerlichen Patron zu stempeln. Jeder kennt zur Genüge den Typ des



*) Vgl. den Aufsatz von Max Scheler, Rentenhysterie. Zu all den hier behandelten
Problemen hat dieser Denker in seinen demnächst gesammelt erscheinenden Aufsätzen gegen¬
wärtig das Beste gesagt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/32>, abgerufen am 15.05.2024.