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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Probleme

Philosophie ist nach Fichte Wissenschaftslehre: die Geschichte ist eine
Wissenschaft, also -- doch hier Stocke ich schon. Denn sofort kommt der
Skeptiker und erklärt: die Geschichte ist überhaupt keine Wissenschaft; die
Wissenschaft redet stets nur von Gattungen, die Geschichte von Individuen, Wissen¬
schaft redet von dem was immer ist, die Geschichte dagegen von dem, was nur
einmal und dann nicht mehr ist; und da das Individuelle seiner Natur nach
unendlich und unerschöpflich ist, so weiß sie alles nur unvollkommen und halb.
Aber wenn wir auch nicht soweit gehen wollen wie Schopenhauer, dem diese
Einwürfe entnommen sind, Recht scheint er doch zu haben mit der Behauptung,
daß die Geschichte es lediglich mit individuellen Vorgängen zu tun habe, die
nur einmal passiert sind und sich dann nie mehr so, genau so wiederholen.
Die Geschichte ist idiographisch im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die --
man denke an die Physik -- nomothetisch Gesetze suchen. Dabei stellt sich
freilich sofort ein Paradoxes heraus: die Naturwissenschaft, die uns gewöhnlich
als realistisch und als die realste Wissenschaft gilt, ist vielmehr durchaus abstrakt,
sieht vom Einzelfall und von dem wirklich da und dort Geschehenden, vom
individuellen Erleben ab und sucht vielmehr Gattungen, wie Platon und
Schopenhauer, Gesetze, wie wir seit Kepler und Galilei besser sagen, also jeden¬
falls ein Allgemeines und Allgemeingültiges. Und so gilt von der Natur:
alles wiederholt sich nur in ihr; die Geschichte dagegen ist die ewig junge
Wissenschaft vom ewig Neuen.

Allein ob das ganz wahr und der Gegensatz zwischen Naturwissenschaft
und Geschichte wirklich ein so fundamentaler und diametraler ist, das ist die
erste Frage, die wir aufwerfen müssen. Ich habe schon gesagt, die in den
Feldpostbriefen berichteten Einzelergebnisse, die uns heute so lebhaft interessieren,
kommen nicht in die Geschichte und gehören nicht zur Geschichte, höchstens daß
dieses oder jenes so Erzählte als Beispiel gebraucht wird für -- ja sagen wir es
nur gerade heraus -- für ein Allgemeines: die Tat des Maschinisten, der unter
Hingabe seines Lebens das Unterseeboot 18 nach Verlassen der Mannschaft zum
Sinken brachte, damit es nicht in die Hände der Feinde falle, als Beispiel für
die Kühnheit und den Todesmut unserer jungen Marine. Aber solcher Helden
gibt es in diesem Krieg viele, und von ihnen wird kein Lied, kein Heldenbuch
jemals melden, ihre Taten werden nicht aufgezeichnet zu finden sein in dem
Buch der Geschichte von 1914/15. Denn eine Summe solcher einzelnen Tatsachen
-- heißen wir das "Geschichte"? machen sie das Ganze einer Geschichte dieses
Krieges oder gar einer allgemeinen Geschichte der Neuzeit aus? Was tut
vielmehr der Historiker mit solchen Einzelheiten? Er wählt aus und läßt dabei
die meisten wie durch ein Sieb ins Bodenlose fallen, versinken und ertrinken
im Strom des Vergessens. Zum Auswählen aber braucht er einen Maßstab
oder sagen wir besser gleich: einen Gesichtspunkt, unter dem er das historisch
Bedeutsame festhält und aufzeichnet, das Unbedeutende und Unwesentliche, und
wäre es inhaltlich noch so schön, einfach verschwinden läßt. Und so besteht die


Geschichtsphilosophische Probleme

Philosophie ist nach Fichte Wissenschaftslehre: die Geschichte ist eine
Wissenschaft, also — doch hier Stocke ich schon. Denn sofort kommt der
Skeptiker und erklärt: die Geschichte ist überhaupt keine Wissenschaft; die
Wissenschaft redet stets nur von Gattungen, die Geschichte von Individuen, Wissen¬
schaft redet von dem was immer ist, die Geschichte dagegen von dem, was nur
einmal und dann nicht mehr ist; und da das Individuelle seiner Natur nach
unendlich und unerschöpflich ist, so weiß sie alles nur unvollkommen und halb.
Aber wenn wir auch nicht soweit gehen wollen wie Schopenhauer, dem diese
Einwürfe entnommen sind, Recht scheint er doch zu haben mit der Behauptung,
daß die Geschichte es lediglich mit individuellen Vorgängen zu tun habe, die
nur einmal passiert sind und sich dann nie mehr so, genau so wiederholen.
Die Geschichte ist idiographisch im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die —
man denke an die Physik — nomothetisch Gesetze suchen. Dabei stellt sich
freilich sofort ein Paradoxes heraus: die Naturwissenschaft, die uns gewöhnlich
als realistisch und als die realste Wissenschaft gilt, ist vielmehr durchaus abstrakt,
sieht vom Einzelfall und von dem wirklich da und dort Geschehenden, vom
individuellen Erleben ab und sucht vielmehr Gattungen, wie Platon und
Schopenhauer, Gesetze, wie wir seit Kepler und Galilei besser sagen, also jeden¬
falls ein Allgemeines und Allgemeingültiges. Und so gilt von der Natur:
alles wiederholt sich nur in ihr; die Geschichte dagegen ist die ewig junge
Wissenschaft vom ewig Neuen.

Allein ob das ganz wahr und der Gegensatz zwischen Naturwissenschaft
und Geschichte wirklich ein so fundamentaler und diametraler ist, das ist die
erste Frage, die wir aufwerfen müssen. Ich habe schon gesagt, die in den
Feldpostbriefen berichteten Einzelergebnisse, die uns heute so lebhaft interessieren,
kommen nicht in die Geschichte und gehören nicht zur Geschichte, höchstens daß
dieses oder jenes so Erzählte als Beispiel gebraucht wird für — ja sagen wir es
nur gerade heraus — für ein Allgemeines: die Tat des Maschinisten, der unter
Hingabe seines Lebens das Unterseeboot 18 nach Verlassen der Mannschaft zum
Sinken brachte, damit es nicht in die Hände der Feinde falle, als Beispiel für
die Kühnheit und den Todesmut unserer jungen Marine. Aber solcher Helden
gibt es in diesem Krieg viele, und von ihnen wird kein Lied, kein Heldenbuch
jemals melden, ihre Taten werden nicht aufgezeichnet zu finden sein in dem
Buch der Geschichte von 1914/15. Denn eine Summe solcher einzelnen Tatsachen
— heißen wir das „Geschichte"? machen sie das Ganze einer Geschichte dieses
Krieges oder gar einer allgemeinen Geschichte der Neuzeit aus? Was tut
vielmehr der Historiker mit solchen Einzelheiten? Er wählt aus und läßt dabei
die meisten wie durch ein Sieb ins Bodenlose fallen, versinken und ertrinken
im Strom des Vergessens. Zum Auswählen aber braucht er einen Maßstab
oder sagen wir besser gleich: einen Gesichtspunkt, unter dem er das historisch
Bedeutsame festhält und aufzeichnet, das Unbedeutende und Unwesentliche, und
wäre es inhaltlich noch so schön, einfach verschwinden läßt. Und so besteht die


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[0401] Geschichtsphilosophische Probleme Philosophie ist nach Fichte Wissenschaftslehre: die Geschichte ist eine Wissenschaft, also — doch hier Stocke ich schon. Denn sofort kommt der Skeptiker und erklärt: die Geschichte ist überhaupt keine Wissenschaft; die Wissenschaft redet stets nur von Gattungen, die Geschichte von Individuen, Wissen¬ schaft redet von dem was immer ist, die Geschichte dagegen von dem, was nur einmal und dann nicht mehr ist; und da das Individuelle seiner Natur nach unendlich und unerschöpflich ist, so weiß sie alles nur unvollkommen und halb. Aber wenn wir auch nicht soweit gehen wollen wie Schopenhauer, dem diese Einwürfe entnommen sind, Recht scheint er doch zu haben mit der Behauptung, daß die Geschichte es lediglich mit individuellen Vorgängen zu tun habe, die nur einmal passiert sind und sich dann nie mehr so, genau so wiederholen. Die Geschichte ist idiographisch im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die — man denke an die Physik — nomothetisch Gesetze suchen. Dabei stellt sich freilich sofort ein Paradoxes heraus: die Naturwissenschaft, die uns gewöhnlich als realistisch und als die realste Wissenschaft gilt, ist vielmehr durchaus abstrakt, sieht vom Einzelfall und von dem wirklich da und dort Geschehenden, vom individuellen Erleben ab und sucht vielmehr Gattungen, wie Platon und Schopenhauer, Gesetze, wie wir seit Kepler und Galilei besser sagen, also jeden¬ falls ein Allgemeines und Allgemeingültiges. Und so gilt von der Natur: alles wiederholt sich nur in ihr; die Geschichte dagegen ist die ewig junge Wissenschaft vom ewig Neuen. Allein ob das ganz wahr und der Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Geschichte wirklich ein so fundamentaler und diametraler ist, das ist die erste Frage, die wir aufwerfen müssen. Ich habe schon gesagt, die in den Feldpostbriefen berichteten Einzelergebnisse, die uns heute so lebhaft interessieren, kommen nicht in die Geschichte und gehören nicht zur Geschichte, höchstens daß dieses oder jenes so Erzählte als Beispiel gebraucht wird für — ja sagen wir es nur gerade heraus — für ein Allgemeines: die Tat des Maschinisten, der unter Hingabe seines Lebens das Unterseeboot 18 nach Verlassen der Mannschaft zum Sinken brachte, damit es nicht in die Hände der Feinde falle, als Beispiel für die Kühnheit und den Todesmut unserer jungen Marine. Aber solcher Helden gibt es in diesem Krieg viele, und von ihnen wird kein Lied, kein Heldenbuch jemals melden, ihre Taten werden nicht aufgezeichnet zu finden sein in dem Buch der Geschichte von 1914/15. Denn eine Summe solcher einzelnen Tatsachen — heißen wir das „Geschichte"? machen sie das Ganze einer Geschichte dieses Krieges oder gar einer allgemeinen Geschichte der Neuzeit aus? Was tut vielmehr der Historiker mit solchen Einzelheiten? Er wählt aus und läßt dabei die meisten wie durch ein Sieb ins Bodenlose fallen, versinken und ertrinken im Strom des Vergessens. Zum Auswählen aber braucht er einen Maßstab oder sagen wir besser gleich: einen Gesichtspunkt, unter dem er das historisch Bedeutsame festhält und aufzeichnet, das Unbedeutende und Unwesentliche, und wäre es inhaltlich noch so schön, einfach verschwinden läßt. Und so besteht die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/401>, abgerufen am 14.05.2024.