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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Probleme

erste Aufgabe des Geschichtschreibers im Auffinden eines Allgemeinen, des frucht¬
baren Gesichtspunktes, unter dem ausgewählt werden kann, genau so, wie der
Naturforscher, der Botaniker zum Beispiel, einen Gesichtspunkt suchen muß, nach
dem er die Pflanzen klassifiziert, systematisiert und ihre Entwicklungsgeschichte
entwirft. Diese Gesichtspunkte wechseln: man denke an das Linnösche und an
das es ablösende natürliche oder Jussieusche Pflanzensystem. So bieten sich
auch dem Historiker verschiedene Gesichtspunkte dar. Am bekanntesten ist neuer¬
dings die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx: bet
allem geschichtlichen Geschehen komme den ökonomischen Verhältnissen die Priorität
vor den politischen und geistigen Strömungen zu; diese seien nur Folge¬
erscheinungen, der "Überbau" zu jenen fundamentalen wirtschaftlichen Vor¬
gängen; und so sei die Geschichte in Wahrheit immer eine Geschichte des
Klassenkampfes zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten, zwischen Herrschenden
und Beherrschten. Von dieser Auffassung haben wir alle viel gelernt, selbst
für die Religionsgeschichte: zum Beispiel, daß in die Entstehung der Reformation
oder in den Unterschied zwischen lutherischer und reformierter Konfession wirt¬
schaftliche Faktoren hineinspielen. Oder ein anderes ideelles Gebiet -- die
Philosophie. Entstanden ist sie als abendländische in Milet, das damals die
größte griechische Handels-, Kolonial- und Seestadt war und dessen ganzer
Reichtum, dessen ganze Existenz, etwa wie die Hamburgs, auf dem Wasser be¬
ruhte. Dort wurde eine Navigationsschule, ein Kolonialinstitut gegründet, und
dessen Vorsteher Thales lehrte nun als Philosoph und Haupt einer philosophischen
Fakultät: Wasser ist der Grundstoff, Anfang und Prinzip aller Dinge. Aber
am Fortgang der so entstandenen Philosophie sehen wir auch die Einseitigkeit
jener Marxistischen Theorie. Der Bremenser Pastor Kalthoff hat versucht, die
ganze griechische Philosophie von diesem Gesichtspunkte aus realistisch,
materialistisch, soziologisch zu begreifen und ist bei diesem Unternehmen kläglich
gescheitert: weder Heraklit, noch Sokrates, noch Platon läßt sich aus diesem
einen Faktor ableiten. Sokrates hat er daher nicht verstanden und Platons
Jdeenlehre als etwas "wenig Imponierendes", oder vielmehr als ein ihm gründlich
sein materialistisches Konzept Verrückendes überkurz abgetan. Und so ist diese
Auffassung ganz einseitig und ganz eng. Das Geschichtliche ist kein so ein¬
faches und gleichförmiges Gewebe, Fäden der verschiedensten Art, wirtschaftliche
und politische, kulturelle und ideelle, religiöse und ethische laufen darin in- und
durcheinander, was dort Fundament ist, ist hier Überbau, und was heute
dominiert, ist morgen bloße Begleiterscheinung; und die Aufgabe des großen
Historikers wird eben die sein, jedem dieser Fäden an seinem Ort die richtige
Rolle zuzuweisen und aufzuzeigen, wie die Farben der einzelnen Fäden an
dieser oder an jener Stelle die Farbe des Ganzen beeinflussen und bestimmen.
So ist die Ursache unseres Krieges mit England gewiß materialistisch und
wirtschaftlich in dessen Konkurrenzneid zu suchen; aber bei Frankreich ist es ein
Ideelleres, der lange großgezogene und gehätschelte Revanchegedanke, und bei


Geschichtsphilosophische Probleme

erste Aufgabe des Geschichtschreibers im Auffinden eines Allgemeinen, des frucht¬
baren Gesichtspunktes, unter dem ausgewählt werden kann, genau so, wie der
Naturforscher, der Botaniker zum Beispiel, einen Gesichtspunkt suchen muß, nach
dem er die Pflanzen klassifiziert, systematisiert und ihre Entwicklungsgeschichte
entwirft. Diese Gesichtspunkte wechseln: man denke an das Linnösche und an
das es ablösende natürliche oder Jussieusche Pflanzensystem. So bieten sich
auch dem Historiker verschiedene Gesichtspunkte dar. Am bekanntesten ist neuer¬
dings die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx: bet
allem geschichtlichen Geschehen komme den ökonomischen Verhältnissen die Priorität
vor den politischen und geistigen Strömungen zu; diese seien nur Folge¬
erscheinungen, der „Überbau" zu jenen fundamentalen wirtschaftlichen Vor¬
gängen; und so sei die Geschichte in Wahrheit immer eine Geschichte des
Klassenkampfes zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten, zwischen Herrschenden
und Beherrschten. Von dieser Auffassung haben wir alle viel gelernt, selbst
für die Religionsgeschichte: zum Beispiel, daß in die Entstehung der Reformation
oder in den Unterschied zwischen lutherischer und reformierter Konfession wirt¬
schaftliche Faktoren hineinspielen. Oder ein anderes ideelles Gebiet — die
Philosophie. Entstanden ist sie als abendländische in Milet, das damals die
größte griechische Handels-, Kolonial- und Seestadt war und dessen ganzer
Reichtum, dessen ganze Existenz, etwa wie die Hamburgs, auf dem Wasser be¬
ruhte. Dort wurde eine Navigationsschule, ein Kolonialinstitut gegründet, und
dessen Vorsteher Thales lehrte nun als Philosoph und Haupt einer philosophischen
Fakultät: Wasser ist der Grundstoff, Anfang und Prinzip aller Dinge. Aber
am Fortgang der so entstandenen Philosophie sehen wir auch die Einseitigkeit
jener Marxistischen Theorie. Der Bremenser Pastor Kalthoff hat versucht, die
ganze griechische Philosophie von diesem Gesichtspunkte aus realistisch,
materialistisch, soziologisch zu begreifen und ist bei diesem Unternehmen kläglich
gescheitert: weder Heraklit, noch Sokrates, noch Platon läßt sich aus diesem
einen Faktor ableiten. Sokrates hat er daher nicht verstanden und Platons
Jdeenlehre als etwas „wenig Imponierendes", oder vielmehr als ein ihm gründlich
sein materialistisches Konzept Verrückendes überkurz abgetan. Und so ist diese
Auffassung ganz einseitig und ganz eng. Das Geschichtliche ist kein so ein¬
faches und gleichförmiges Gewebe, Fäden der verschiedensten Art, wirtschaftliche
und politische, kulturelle und ideelle, religiöse und ethische laufen darin in- und
durcheinander, was dort Fundament ist, ist hier Überbau, und was heute
dominiert, ist morgen bloße Begleiterscheinung; und die Aufgabe des großen
Historikers wird eben die sein, jedem dieser Fäden an seinem Ort die richtige
Rolle zuzuweisen und aufzuzeigen, wie die Farben der einzelnen Fäden an
dieser oder an jener Stelle die Farbe des Ganzen beeinflussen und bestimmen.
So ist die Ursache unseres Krieges mit England gewiß materialistisch und
wirtschaftlich in dessen Konkurrenzneid zu suchen; aber bei Frankreich ist es ein
Ideelleres, der lange großgezogene und gehätschelte Revanchegedanke, und bei


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[0402] Geschichtsphilosophische Probleme erste Aufgabe des Geschichtschreibers im Auffinden eines Allgemeinen, des frucht¬ baren Gesichtspunktes, unter dem ausgewählt werden kann, genau so, wie der Naturforscher, der Botaniker zum Beispiel, einen Gesichtspunkt suchen muß, nach dem er die Pflanzen klassifiziert, systematisiert und ihre Entwicklungsgeschichte entwirft. Diese Gesichtspunkte wechseln: man denke an das Linnösche und an das es ablösende natürliche oder Jussieusche Pflanzensystem. So bieten sich auch dem Historiker verschiedene Gesichtspunkte dar. Am bekanntesten ist neuer¬ dings die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx: bet allem geschichtlichen Geschehen komme den ökonomischen Verhältnissen die Priorität vor den politischen und geistigen Strömungen zu; diese seien nur Folge¬ erscheinungen, der „Überbau" zu jenen fundamentalen wirtschaftlichen Vor¬ gängen; und so sei die Geschichte in Wahrheit immer eine Geschichte des Klassenkampfes zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten, zwischen Herrschenden und Beherrschten. Von dieser Auffassung haben wir alle viel gelernt, selbst für die Religionsgeschichte: zum Beispiel, daß in die Entstehung der Reformation oder in den Unterschied zwischen lutherischer und reformierter Konfession wirt¬ schaftliche Faktoren hineinspielen. Oder ein anderes ideelles Gebiet — die Philosophie. Entstanden ist sie als abendländische in Milet, das damals die größte griechische Handels-, Kolonial- und Seestadt war und dessen ganzer Reichtum, dessen ganze Existenz, etwa wie die Hamburgs, auf dem Wasser be¬ ruhte. Dort wurde eine Navigationsschule, ein Kolonialinstitut gegründet, und dessen Vorsteher Thales lehrte nun als Philosoph und Haupt einer philosophischen Fakultät: Wasser ist der Grundstoff, Anfang und Prinzip aller Dinge. Aber am Fortgang der so entstandenen Philosophie sehen wir auch die Einseitigkeit jener Marxistischen Theorie. Der Bremenser Pastor Kalthoff hat versucht, die ganze griechische Philosophie von diesem Gesichtspunkte aus realistisch, materialistisch, soziologisch zu begreifen und ist bei diesem Unternehmen kläglich gescheitert: weder Heraklit, noch Sokrates, noch Platon läßt sich aus diesem einen Faktor ableiten. Sokrates hat er daher nicht verstanden und Platons Jdeenlehre als etwas „wenig Imponierendes", oder vielmehr als ein ihm gründlich sein materialistisches Konzept Verrückendes überkurz abgetan. Und so ist diese Auffassung ganz einseitig und ganz eng. Das Geschichtliche ist kein so ein¬ faches und gleichförmiges Gewebe, Fäden der verschiedensten Art, wirtschaftliche und politische, kulturelle und ideelle, religiöse und ethische laufen darin in- und durcheinander, was dort Fundament ist, ist hier Überbau, und was heute dominiert, ist morgen bloße Begleiterscheinung; und die Aufgabe des großen Historikers wird eben die sein, jedem dieser Fäden an seinem Ort die richtige Rolle zuzuweisen und aufzuzeigen, wie die Farben der einzelnen Fäden an dieser oder an jener Stelle die Farbe des Ganzen beeinflussen und bestimmen. So ist die Ursache unseres Krieges mit England gewiß materialistisch und wirtschaftlich in dessen Konkurrenzneid zu suchen; aber bei Frankreich ist es ein Ideelleres, der lange großgezogene und gehätschelte Revanchegedanke, und bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/402>, abgerufen am 08.06.2024.