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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Probleme

Menschen oder Schicksale? Gewiß sind Individuen die Träger alles geschicht¬
lichen Geschehens, und gewiß stehen große Individuen im Vordergrund
unseres Interesses an der Geschichte. Darin ist sie durchaus aristokratisch --
fast im Gegensatz zu der ebenso gewiß demokratischen Moral. Wie sehr
uns diese Art von Aristokratismus und Individualismus, die Heroenverehrung
im Blut liegt, zeigt heute der Name Hindenburg. Das Volk -- und darin
gehören wir alle zum Volk -- braucht große Individuen, Helden, an denen
sich das geschichtliche Geschehen aufranken und festhalten läßt. Deshalb ist die
griechische Geschichte soviel interessanter als die römische, weil dort einzelne
Menschen und wirkliche Menschen mit scharfumrissenen Charakterköpfen im Mittel¬
punkt stehen, während hier fast siebenhundert Jahre lang der Staat es ist,
dessen Geschichte wir vernehmen. Und ebenso ist daA Mittelalter uns Nicht-
Historikern so verschlossen, weil hier jeder eine sein Gesicht unkenntlich machende
Maske vor hat, der Mönch seine Kapuze, der Ritter sein Visier; und darum
wirkt eine Gestalt wie die Abälards oder Friedrichs des Zweiten, wo plötzlich
ein Menschenantlitz hinter der Mönchskutte oder der Kaiserkrone deutlich sichtbar
wird, wie eine Oase in einer dürren Sandwüste. Aber Geschichte ist keine
Biographie, und große Individuen gibt es, wenn wir mit dem Titel nicht gar
zu verschwenderisch umgehen wollen, nur alle hundert Jahre einmal; die
Geschichte aber ist ein Kontinuum und geht auch ohne solche Großen weiter
und ist schon darum -- Volksgeschichte. Aber können wir Massen, können wir
ein Voll als ganzes fassen und dürfen wir es als Einheit betrachten? Da
erhebt sich die schwierige Frage nach der Psychologie einer Gesamtheit, einer
Masse. Ist diese nur die Summe der sie zusammensetzenden Atome, selbst
wieder nur ein Sammelname für viele Individuen? Oder gibt es so etwas
wie eine Volksseele als Einheit, die ihre besonderen psychologischen Funktionen,
nicht zusammenaddierte, sondern einheitliche Gedanken, Gefühle, Willensimpulse
hat? Der Begriff "Volksseele" ist oft etwas verschwommen Romantisches, das
unbekannte X, mit dem man phrasenhaft geschichtliche Vorgänge zu erklären
sucht und in Wahrheit erst recht unerklärt läßt. Aber wenn wir an den
modernen Begriff der Massensuggestion denken und in den Kreuzzügen die
Wirkung einer solchen unverkennbar vor Augen sehen, oder wenn wir an den eben
von uns erlebten unvergeßlichen Sturm der Begeisterung unseres Volkes in den
Mobilmachungstagen denken oder an die Leichtgläubigkeit auch der kritischsten unter
uns bei der falschen Nachricht von der Einnahme Belforts. so ist dieser Gesamtgeist
doch etwas anderes als eine Summe, ist etwas Greifbares, die durch die Masse
als solche wirkende Kraft und eine die Masse als solche beherrschende und
bewegende einheitliche Idee. Und dabei zeigt sich ein eigenartiges Wechselspiel:
was macht ein Volk, das der Träger der Geschichte ist? Nicht Rassengefühl
und Stammesbewußtsein, das verliert sich vielfach im Dunkeln und Unsichern;
nicht der Heimatboden -- der kann bleiben, auch wenn ein Stück davon wie
Elsaß von einem Volk zum anderen geschoben wird; nicht die Sprache -- man


Geschichtsphilosophische Probleme

Menschen oder Schicksale? Gewiß sind Individuen die Träger alles geschicht¬
lichen Geschehens, und gewiß stehen große Individuen im Vordergrund
unseres Interesses an der Geschichte. Darin ist sie durchaus aristokratisch —
fast im Gegensatz zu der ebenso gewiß demokratischen Moral. Wie sehr
uns diese Art von Aristokratismus und Individualismus, die Heroenverehrung
im Blut liegt, zeigt heute der Name Hindenburg. Das Volk — und darin
gehören wir alle zum Volk — braucht große Individuen, Helden, an denen
sich das geschichtliche Geschehen aufranken und festhalten läßt. Deshalb ist die
griechische Geschichte soviel interessanter als die römische, weil dort einzelne
Menschen und wirkliche Menschen mit scharfumrissenen Charakterköpfen im Mittel¬
punkt stehen, während hier fast siebenhundert Jahre lang der Staat es ist,
dessen Geschichte wir vernehmen. Und ebenso ist daA Mittelalter uns Nicht-
Historikern so verschlossen, weil hier jeder eine sein Gesicht unkenntlich machende
Maske vor hat, der Mönch seine Kapuze, der Ritter sein Visier; und darum
wirkt eine Gestalt wie die Abälards oder Friedrichs des Zweiten, wo plötzlich
ein Menschenantlitz hinter der Mönchskutte oder der Kaiserkrone deutlich sichtbar
wird, wie eine Oase in einer dürren Sandwüste. Aber Geschichte ist keine
Biographie, und große Individuen gibt es, wenn wir mit dem Titel nicht gar
zu verschwenderisch umgehen wollen, nur alle hundert Jahre einmal; die
Geschichte aber ist ein Kontinuum und geht auch ohne solche Großen weiter
und ist schon darum — Volksgeschichte. Aber können wir Massen, können wir
ein Voll als ganzes fassen und dürfen wir es als Einheit betrachten? Da
erhebt sich die schwierige Frage nach der Psychologie einer Gesamtheit, einer
Masse. Ist diese nur die Summe der sie zusammensetzenden Atome, selbst
wieder nur ein Sammelname für viele Individuen? Oder gibt es so etwas
wie eine Volksseele als Einheit, die ihre besonderen psychologischen Funktionen,
nicht zusammenaddierte, sondern einheitliche Gedanken, Gefühle, Willensimpulse
hat? Der Begriff „Volksseele" ist oft etwas verschwommen Romantisches, das
unbekannte X, mit dem man phrasenhaft geschichtliche Vorgänge zu erklären
sucht und in Wahrheit erst recht unerklärt läßt. Aber wenn wir an den
modernen Begriff der Massensuggestion denken und in den Kreuzzügen die
Wirkung einer solchen unverkennbar vor Augen sehen, oder wenn wir an den eben
von uns erlebten unvergeßlichen Sturm der Begeisterung unseres Volkes in den
Mobilmachungstagen denken oder an die Leichtgläubigkeit auch der kritischsten unter
uns bei der falschen Nachricht von der Einnahme Belforts. so ist dieser Gesamtgeist
doch etwas anderes als eine Summe, ist etwas Greifbares, die durch die Masse
als solche wirkende Kraft und eine die Masse als solche beherrschende und
bewegende einheitliche Idee. Und dabei zeigt sich ein eigenartiges Wechselspiel:
was macht ein Volk, das der Träger der Geschichte ist? Nicht Rassengefühl
und Stammesbewußtsein, das verliert sich vielfach im Dunkeln und Unsichern;
nicht der Heimatboden — der kann bleiben, auch wenn ein Stück davon wie
Elsaß von einem Volk zum anderen geschoben wird; nicht die Sprache — man


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[0405] Geschichtsphilosophische Probleme Menschen oder Schicksale? Gewiß sind Individuen die Träger alles geschicht¬ lichen Geschehens, und gewiß stehen große Individuen im Vordergrund unseres Interesses an der Geschichte. Darin ist sie durchaus aristokratisch — fast im Gegensatz zu der ebenso gewiß demokratischen Moral. Wie sehr uns diese Art von Aristokratismus und Individualismus, die Heroenverehrung im Blut liegt, zeigt heute der Name Hindenburg. Das Volk — und darin gehören wir alle zum Volk — braucht große Individuen, Helden, an denen sich das geschichtliche Geschehen aufranken und festhalten läßt. Deshalb ist die griechische Geschichte soviel interessanter als die römische, weil dort einzelne Menschen und wirkliche Menschen mit scharfumrissenen Charakterköpfen im Mittel¬ punkt stehen, während hier fast siebenhundert Jahre lang der Staat es ist, dessen Geschichte wir vernehmen. Und ebenso ist daA Mittelalter uns Nicht- Historikern so verschlossen, weil hier jeder eine sein Gesicht unkenntlich machende Maske vor hat, der Mönch seine Kapuze, der Ritter sein Visier; und darum wirkt eine Gestalt wie die Abälards oder Friedrichs des Zweiten, wo plötzlich ein Menschenantlitz hinter der Mönchskutte oder der Kaiserkrone deutlich sichtbar wird, wie eine Oase in einer dürren Sandwüste. Aber Geschichte ist keine Biographie, und große Individuen gibt es, wenn wir mit dem Titel nicht gar zu verschwenderisch umgehen wollen, nur alle hundert Jahre einmal; die Geschichte aber ist ein Kontinuum und geht auch ohne solche Großen weiter und ist schon darum — Volksgeschichte. Aber können wir Massen, können wir ein Voll als ganzes fassen und dürfen wir es als Einheit betrachten? Da erhebt sich die schwierige Frage nach der Psychologie einer Gesamtheit, einer Masse. Ist diese nur die Summe der sie zusammensetzenden Atome, selbst wieder nur ein Sammelname für viele Individuen? Oder gibt es so etwas wie eine Volksseele als Einheit, die ihre besonderen psychologischen Funktionen, nicht zusammenaddierte, sondern einheitliche Gedanken, Gefühle, Willensimpulse hat? Der Begriff „Volksseele" ist oft etwas verschwommen Romantisches, das unbekannte X, mit dem man phrasenhaft geschichtliche Vorgänge zu erklären sucht und in Wahrheit erst recht unerklärt läßt. Aber wenn wir an den modernen Begriff der Massensuggestion denken und in den Kreuzzügen die Wirkung einer solchen unverkennbar vor Augen sehen, oder wenn wir an den eben von uns erlebten unvergeßlichen Sturm der Begeisterung unseres Volkes in den Mobilmachungstagen denken oder an die Leichtgläubigkeit auch der kritischsten unter uns bei der falschen Nachricht von der Einnahme Belforts. so ist dieser Gesamtgeist doch etwas anderes als eine Summe, ist etwas Greifbares, die durch die Masse als solche wirkende Kraft und eine die Masse als solche beherrschende und bewegende einheitliche Idee. Und dabei zeigt sich ein eigenartiges Wechselspiel: was macht ein Volk, das der Träger der Geschichte ist? Nicht Rassengefühl und Stammesbewußtsein, das verliert sich vielfach im Dunkeln und Unsichern; nicht der Heimatboden — der kann bleiben, auch wenn ein Stück davon wie Elsaß von einem Volk zum anderen geschoben wird; nicht die Sprache — man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/405>, abgerufen am 31.05.2024.