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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Probleme

puntt wäre dann der Nihilismus; wie auch der den Pythagoreern entlehnte
Gedanke Nietzsches von einer ewigen Wiederkunft des Gleichen ein ganz
nihilistischer, kein abgrundtiefer, sondern, um mit Mephistopheles zu reden, ein
ganz dummer Gedanke ist. Anders, wenn wir statt Pendelschwingungen eine
wirkliche Entwicklung annehmen. Aber auch da gibt es zwei Möglichkeiten
-- Rückschritt oder Fortschritt? Liegt das Ziel als Höhepunkt am Anfang
als verlorenes Paradies, oder am Ende -- heiße man es nun Reich Gottes oder
Ewiger Friede oder wie sonst immer? Eben hier ist für eine wissenschaftliche
Entscheidung der Torso viel zu klein. Aber was man nicht wissen kann, das
dürfen wir vielleicht glauben. Nun bin ich kein Freund einer Postulatentheorie,
die von einem Sollen auf ein Sein schließt: man kommt dabei gar zu leicht
dazu, das Seinsollende mit dem Wünschenswerten zu verwechseln und dann
einfach zu glauben, was man wünscht. Das haben wir vor etlichen Jahr-
zehnten bei einer Theologenschule erlebt. Aber hier handelt es sich ja nicht
um ein Sein, sondern um ein Werden und Geschehen, um ein Tun und Mit¬
tun, und da werde ich allerdings von Sollen auf Sollen Schlüsse machen,
Postulate aufstellen, einen praktischen Vernunftglauben formulieren dürfen. Also
wir wissen nicht, ob es vorwärts oder rückwärts geht mit der Menschheit, ob
ihr Höchstes und Bestes vor uns liegt oder hinter uns, aber wir dürfen nicht
nur, wir müssen glauben an eine Entwicklung von unten nach oben, von
niederen Anfängen zu höheren und immer höheren Zielen. Der Gedanke des
Rückschritts ist ein unerträglich pessimistischer Gedanke, der uns und unsere Arbeit
lähmt und für unser geschichtliches Handeln ein tödliches Hindernis wäre.
Hindenburg muß an den Sieg glauben, um siegen zu können. Nietzsche hat
über "den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" seine geistreichste
und feinste Schrift geschrieben und in ihr vor allem auf den quietistisch lähmenden
Einfluß der rückwärts gewendeten Beschäftigung mit der Geschichte hingewiesen.
Die Schrift stammt aus seiner ersten an Schopenhauer orientierten Periode,
und nur von der Schopenhauerschen Auffassung der Geschichte aus gilt dieses
Bedenken vom überwiegenden Nachteil der Geschichte, und trotz des memento
vivöl-s oder gerade deswegen ist Nietzsche der Geschichte gegenüber so pessimistisch,
und pessimistisch seine rückwärts, nicht vorwärts gerichtete Auffassung der¬
selben.

Aber in dem Gesagten steckt und mit dem Gesagten löst sich noch ein
anderes, bereits angedeutetes Problem: ist das Ziel transzendent oder
immanent? Wenn jenes, dann ist es völlig unerkennbar und geht -- als in
der Zukunft liegend -- den Historiker, der es nur mit Vergangenem zu tun
hat, eigentlich überhaupt nichts an. Und dann ist allerdings die Gefahr die,
daß alle Generationen vor Erreichung des Zieles sich durch den Gedanken,
daß sie das Ende ja doch nicht erleben werden, hemmen lassen. Deshalb hat
Bebel, dieser Kenner der Volksseele, wohl gewußt, warum er dem großen
Kladderadatsch so nahe und immer wieder nahe Termine gesetzt hat. So


Geschichtsphilosophische Probleme

puntt wäre dann der Nihilismus; wie auch der den Pythagoreern entlehnte
Gedanke Nietzsches von einer ewigen Wiederkunft des Gleichen ein ganz
nihilistischer, kein abgrundtiefer, sondern, um mit Mephistopheles zu reden, ein
ganz dummer Gedanke ist. Anders, wenn wir statt Pendelschwingungen eine
wirkliche Entwicklung annehmen. Aber auch da gibt es zwei Möglichkeiten
— Rückschritt oder Fortschritt? Liegt das Ziel als Höhepunkt am Anfang
als verlorenes Paradies, oder am Ende — heiße man es nun Reich Gottes oder
Ewiger Friede oder wie sonst immer? Eben hier ist für eine wissenschaftliche
Entscheidung der Torso viel zu klein. Aber was man nicht wissen kann, das
dürfen wir vielleicht glauben. Nun bin ich kein Freund einer Postulatentheorie,
die von einem Sollen auf ein Sein schließt: man kommt dabei gar zu leicht
dazu, das Seinsollende mit dem Wünschenswerten zu verwechseln und dann
einfach zu glauben, was man wünscht. Das haben wir vor etlichen Jahr-
zehnten bei einer Theologenschule erlebt. Aber hier handelt es sich ja nicht
um ein Sein, sondern um ein Werden und Geschehen, um ein Tun und Mit¬
tun, und da werde ich allerdings von Sollen auf Sollen Schlüsse machen,
Postulate aufstellen, einen praktischen Vernunftglauben formulieren dürfen. Also
wir wissen nicht, ob es vorwärts oder rückwärts geht mit der Menschheit, ob
ihr Höchstes und Bestes vor uns liegt oder hinter uns, aber wir dürfen nicht
nur, wir müssen glauben an eine Entwicklung von unten nach oben, von
niederen Anfängen zu höheren und immer höheren Zielen. Der Gedanke des
Rückschritts ist ein unerträglich pessimistischer Gedanke, der uns und unsere Arbeit
lähmt und für unser geschichtliches Handeln ein tödliches Hindernis wäre.
Hindenburg muß an den Sieg glauben, um siegen zu können. Nietzsche hat
über „den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" seine geistreichste
und feinste Schrift geschrieben und in ihr vor allem auf den quietistisch lähmenden
Einfluß der rückwärts gewendeten Beschäftigung mit der Geschichte hingewiesen.
Die Schrift stammt aus seiner ersten an Schopenhauer orientierten Periode,
und nur von der Schopenhauerschen Auffassung der Geschichte aus gilt dieses
Bedenken vom überwiegenden Nachteil der Geschichte, und trotz des memento
vivöl-s oder gerade deswegen ist Nietzsche der Geschichte gegenüber so pessimistisch,
und pessimistisch seine rückwärts, nicht vorwärts gerichtete Auffassung der¬
selben.

Aber in dem Gesagten steckt und mit dem Gesagten löst sich noch ein
anderes, bereits angedeutetes Problem: ist das Ziel transzendent oder
immanent? Wenn jenes, dann ist es völlig unerkennbar und geht — als in
der Zukunft liegend — den Historiker, der es nur mit Vergangenem zu tun
hat, eigentlich überhaupt nichts an. Und dann ist allerdings die Gefahr die,
daß alle Generationen vor Erreichung des Zieles sich durch den Gedanken,
daß sie das Ende ja doch nicht erleben werden, hemmen lassen. Deshalb hat
Bebel, dieser Kenner der Volksseele, wohl gewußt, warum er dem großen
Kladderadatsch so nahe und immer wieder nahe Termine gesetzt hat. So


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[0407] Geschichtsphilosophische Probleme puntt wäre dann der Nihilismus; wie auch der den Pythagoreern entlehnte Gedanke Nietzsches von einer ewigen Wiederkunft des Gleichen ein ganz nihilistischer, kein abgrundtiefer, sondern, um mit Mephistopheles zu reden, ein ganz dummer Gedanke ist. Anders, wenn wir statt Pendelschwingungen eine wirkliche Entwicklung annehmen. Aber auch da gibt es zwei Möglichkeiten — Rückschritt oder Fortschritt? Liegt das Ziel als Höhepunkt am Anfang als verlorenes Paradies, oder am Ende — heiße man es nun Reich Gottes oder Ewiger Friede oder wie sonst immer? Eben hier ist für eine wissenschaftliche Entscheidung der Torso viel zu klein. Aber was man nicht wissen kann, das dürfen wir vielleicht glauben. Nun bin ich kein Freund einer Postulatentheorie, die von einem Sollen auf ein Sein schließt: man kommt dabei gar zu leicht dazu, das Seinsollende mit dem Wünschenswerten zu verwechseln und dann einfach zu glauben, was man wünscht. Das haben wir vor etlichen Jahr- zehnten bei einer Theologenschule erlebt. Aber hier handelt es sich ja nicht um ein Sein, sondern um ein Werden und Geschehen, um ein Tun und Mit¬ tun, und da werde ich allerdings von Sollen auf Sollen Schlüsse machen, Postulate aufstellen, einen praktischen Vernunftglauben formulieren dürfen. Also wir wissen nicht, ob es vorwärts oder rückwärts geht mit der Menschheit, ob ihr Höchstes und Bestes vor uns liegt oder hinter uns, aber wir dürfen nicht nur, wir müssen glauben an eine Entwicklung von unten nach oben, von niederen Anfängen zu höheren und immer höheren Zielen. Der Gedanke des Rückschritts ist ein unerträglich pessimistischer Gedanke, der uns und unsere Arbeit lähmt und für unser geschichtliches Handeln ein tödliches Hindernis wäre. Hindenburg muß an den Sieg glauben, um siegen zu können. Nietzsche hat über „den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" seine geistreichste und feinste Schrift geschrieben und in ihr vor allem auf den quietistisch lähmenden Einfluß der rückwärts gewendeten Beschäftigung mit der Geschichte hingewiesen. Die Schrift stammt aus seiner ersten an Schopenhauer orientierten Periode, und nur von der Schopenhauerschen Auffassung der Geschichte aus gilt dieses Bedenken vom überwiegenden Nachteil der Geschichte, und trotz des memento vivöl-s oder gerade deswegen ist Nietzsche der Geschichte gegenüber so pessimistisch, und pessimistisch seine rückwärts, nicht vorwärts gerichtete Auffassung der¬ selben. Aber in dem Gesagten steckt und mit dem Gesagten löst sich noch ein anderes, bereits angedeutetes Problem: ist das Ziel transzendent oder immanent? Wenn jenes, dann ist es völlig unerkennbar und geht — als in der Zukunft liegend — den Historiker, der es nur mit Vergangenem zu tun hat, eigentlich überhaupt nichts an. Und dann ist allerdings die Gefahr die, daß alle Generationen vor Erreichung des Zieles sich durch den Gedanken, daß sie das Ende ja doch nicht erleben werden, hemmen lassen. Deshalb hat Bebel, dieser Kenner der Volksseele, wohl gewußt, warum er dem großen Kladderadatsch so nahe und immer wieder nahe Termine gesetzt hat. So

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/407>, abgerufen am 31.05.2024.