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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Geschichlsphilosoxhische Probleme

altruistisch ist nicht leicht -- oder sagen wir: ist nicht in allen Lebenslagen der
Mensch, daß er nur für die ihm völlig unbekannten Generationen einer fernen
Zukunft schafft und wirkt: er will von seinem Schaffen und Wirken etwas
haben, will den Erfolg sehen, die Früchte ernten. Am Tod scheint mir heute
für uns alte Menschen, die wir nicht den jungen, jauchzenden Tod auf dem
Schlachtfeld, sondern tatenlos den ganz gewöhnlichen Tod auf dem Krankenbett
vor uns sehen, das Schwerste und Härteste, daß wir, wenn er vor Ende des
Krieges kommen sollte, seine Frucht, den Sieg und dessen Folgen nicht mehr
schauen dürfen; deshalb die Bitte: den Sieg, nur den Sieg meines Volkes
laß mich noch erleben!

Ist dagegen das Ziel der geschichtlichen Entwicklung immanent, dann
erleben wir ja tatsächlich den Fortschritt selber mit: es geht unter unseren
Augen vorwärts, und dabei kommt es auf unsere Hände, auf unser Mittun
an. Wir selber können -- wir kleinen Durchschnittsmenschen freilich immer nur
im Kleinen und in bescheidenem Maß -- mitwirken und mithelfen, und sollen es
tun. So schaffen auch wir am sausenden Webstuhl der Zeit und wirken der
Gottheit lebendiges Kleid mit, können zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sand¬
korn nur für Sandkorn reichen, aber damit doch von der großen Schuld der
Zeiten Minuten, Tage, Jahre streichen.

Wie nun aber jenes Kleid der Gottheit, jener Ewigkeitsbau aussieht, das
können wir, mitten im Endlichen stehend, nicht mit Bestimmtheit sagen. Der
eine bezeichnet es als Humanität, der andere als Fortschritt im Bewußtein der
Freiheit, ein Dritter als Durchdringung der Natur durch die Vernunft, und
ein Vierter endlich als Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden. Was allen
diesen Zielsetzungen gemeinsam ist, das ist der Gemeinschaftsgedanke. Nicht
um die Beantwortung der Frage des reichen Jünglings: was muß ich tun,
daß ich selig werde? sondern um ein Ganzes, um ein über die Individuen
übergreifendes Wertvolles, um ein Kulturreich, wirklich um die Errichtung eines
Reiches Gottes auf Erden, dessen Kommen auch Jesus nicht immer nur
eschatologisch - transzendent verkündigt hat, handelt es sich. Und sein Wert
besteht gerade darin, daß es immanent nie fertig ist, kein Paradies, in dem die
Arbeit ein Fluch ist, kein fauler Ewiger Friede, in dem es nichts mehr zu
kämpfen und zu streiten gäbe, sondern der Ort der fleißigen Hände und der
Ort, wo Krieg und Streit um der Menschheit große Gegenstände nicht aufhört,
das Leben im Fluß zu erhalten und interessant zu machen. Deswegen sind
alle Zweckbestimmungen zu verwerfen, bei denen das Glück des einzelnen
zur Hauptsache gemacht wird oder durch ein Hintertürchen nebenbei doch
wieder hereinschlüpft. Denn was ist der einzelne und sein Glück gegen¬
über dem Ganzen und der Erhaltung des Ganzen? Auf diese Frage
gibt der Zug des Todes, der heute durch die Welt geht, die Goethe¬
antwort:


Geschichlsphilosoxhische Probleme

altruistisch ist nicht leicht — oder sagen wir: ist nicht in allen Lebenslagen der
Mensch, daß er nur für die ihm völlig unbekannten Generationen einer fernen
Zukunft schafft und wirkt: er will von seinem Schaffen und Wirken etwas
haben, will den Erfolg sehen, die Früchte ernten. Am Tod scheint mir heute
für uns alte Menschen, die wir nicht den jungen, jauchzenden Tod auf dem
Schlachtfeld, sondern tatenlos den ganz gewöhnlichen Tod auf dem Krankenbett
vor uns sehen, das Schwerste und Härteste, daß wir, wenn er vor Ende des
Krieges kommen sollte, seine Frucht, den Sieg und dessen Folgen nicht mehr
schauen dürfen; deshalb die Bitte: den Sieg, nur den Sieg meines Volkes
laß mich noch erleben!

Ist dagegen das Ziel der geschichtlichen Entwicklung immanent, dann
erleben wir ja tatsächlich den Fortschritt selber mit: es geht unter unseren
Augen vorwärts, und dabei kommt es auf unsere Hände, auf unser Mittun
an. Wir selber können — wir kleinen Durchschnittsmenschen freilich immer nur
im Kleinen und in bescheidenem Maß — mitwirken und mithelfen, und sollen es
tun. So schaffen auch wir am sausenden Webstuhl der Zeit und wirken der
Gottheit lebendiges Kleid mit, können zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sand¬
korn nur für Sandkorn reichen, aber damit doch von der großen Schuld der
Zeiten Minuten, Tage, Jahre streichen.

Wie nun aber jenes Kleid der Gottheit, jener Ewigkeitsbau aussieht, das
können wir, mitten im Endlichen stehend, nicht mit Bestimmtheit sagen. Der
eine bezeichnet es als Humanität, der andere als Fortschritt im Bewußtein der
Freiheit, ein Dritter als Durchdringung der Natur durch die Vernunft, und
ein Vierter endlich als Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden. Was allen
diesen Zielsetzungen gemeinsam ist, das ist der Gemeinschaftsgedanke. Nicht
um die Beantwortung der Frage des reichen Jünglings: was muß ich tun,
daß ich selig werde? sondern um ein Ganzes, um ein über die Individuen
übergreifendes Wertvolles, um ein Kulturreich, wirklich um die Errichtung eines
Reiches Gottes auf Erden, dessen Kommen auch Jesus nicht immer nur
eschatologisch - transzendent verkündigt hat, handelt es sich. Und sein Wert
besteht gerade darin, daß es immanent nie fertig ist, kein Paradies, in dem die
Arbeit ein Fluch ist, kein fauler Ewiger Friede, in dem es nichts mehr zu
kämpfen und zu streiten gäbe, sondern der Ort der fleißigen Hände und der
Ort, wo Krieg und Streit um der Menschheit große Gegenstände nicht aufhört,
das Leben im Fluß zu erhalten und interessant zu machen. Deswegen sind
alle Zweckbestimmungen zu verwerfen, bei denen das Glück des einzelnen
zur Hauptsache gemacht wird oder durch ein Hintertürchen nebenbei doch
wieder hereinschlüpft. Denn was ist der einzelne und sein Glück gegen¬
über dem Ganzen und der Erhaltung des Ganzen? Auf diese Frage
gibt der Zug des Todes, der heute durch die Welt geht, die Goethe¬
antwort:


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[0408] Geschichlsphilosoxhische Probleme altruistisch ist nicht leicht — oder sagen wir: ist nicht in allen Lebenslagen der Mensch, daß er nur für die ihm völlig unbekannten Generationen einer fernen Zukunft schafft und wirkt: er will von seinem Schaffen und Wirken etwas haben, will den Erfolg sehen, die Früchte ernten. Am Tod scheint mir heute für uns alte Menschen, die wir nicht den jungen, jauchzenden Tod auf dem Schlachtfeld, sondern tatenlos den ganz gewöhnlichen Tod auf dem Krankenbett vor uns sehen, das Schwerste und Härteste, daß wir, wenn er vor Ende des Krieges kommen sollte, seine Frucht, den Sieg und dessen Folgen nicht mehr schauen dürfen; deshalb die Bitte: den Sieg, nur den Sieg meines Volkes laß mich noch erleben! Ist dagegen das Ziel der geschichtlichen Entwicklung immanent, dann erleben wir ja tatsächlich den Fortschritt selber mit: es geht unter unseren Augen vorwärts, und dabei kommt es auf unsere Hände, auf unser Mittun an. Wir selber können — wir kleinen Durchschnittsmenschen freilich immer nur im Kleinen und in bescheidenem Maß — mitwirken und mithelfen, und sollen es tun. So schaffen auch wir am sausenden Webstuhl der Zeit und wirken der Gottheit lebendiges Kleid mit, können zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sand¬ korn nur für Sandkorn reichen, aber damit doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streichen. Wie nun aber jenes Kleid der Gottheit, jener Ewigkeitsbau aussieht, das können wir, mitten im Endlichen stehend, nicht mit Bestimmtheit sagen. Der eine bezeichnet es als Humanität, der andere als Fortschritt im Bewußtein der Freiheit, ein Dritter als Durchdringung der Natur durch die Vernunft, und ein Vierter endlich als Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden. Was allen diesen Zielsetzungen gemeinsam ist, das ist der Gemeinschaftsgedanke. Nicht um die Beantwortung der Frage des reichen Jünglings: was muß ich tun, daß ich selig werde? sondern um ein Ganzes, um ein über die Individuen übergreifendes Wertvolles, um ein Kulturreich, wirklich um die Errichtung eines Reiches Gottes auf Erden, dessen Kommen auch Jesus nicht immer nur eschatologisch - transzendent verkündigt hat, handelt es sich. Und sein Wert besteht gerade darin, daß es immanent nie fertig ist, kein Paradies, in dem die Arbeit ein Fluch ist, kein fauler Ewiger Friede, in dem es nichts mehr zu kämpfen und zu streiten gäbe, sondern der Ort der fleißigen Hände und der Ort, wo Krieg und Streit um der Menschheit große Gegenstände nicht aufhört, das Leben im Fluß zu erhalten und interessant zu machen. Deswegen sind alle Zweckbestimmungen zu verwerfen, bei denen das Glück des einzelnen zur Hauptsache gemacht wird oder durch ein Hintertürchen nebenbei doch wieder hereinschlüpft. Denn was ist der einzelne und sein Glück gegen¬ über dem Ganzen und der Erhaltung des Ganzen? Auf diese Frage gibt der Zug des Todes, der heute durch die Welt geht, die Goethe¬ antwort:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/408>, abgerufen am 29.05.2024.