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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsch-englische Gegensatz

war die Verleumdung Deutschlands eine ständige Rubrik in der englischen
Presse.

Nun fällt allerdings ein Ereignis in jene Zeit, das die Eifersucht Englands
nicht ganz grundlos erscheinen läßt. Der letzte der drei Marksteine, die äußerlich
den Weg bezeichnen, den die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im vorigen
Jahrhundert genommen hat, wurde damals gesetzt: nach der Gründung des
Zollvereins und der Gründung des Norddeutschen Bundes folgte in den achtziger
Jahren die Einverleibung der Hansestädte Bremen und Hamburg in das deutsche
Zollgebiet. Dadurch erhielt dieses seine heutigen Grenzen. Dieses Ereignis
mag zunächst unbedeutend erscheinen. Seine tiefere Bedeutung erhält es dadurch,
daß Deutschland ungefähr gleichzeitig mit der zollpolitischen Eingliederung der
Hansestädte seinen Eintritt in die Weltpolitik durch Gründung von Kolonien
vollzog. Um diese Wandlung zu verstehen, muß man sich gewisse Tatsachen
der Bevölkerungsentfaltung Deutschlands vergegenwärtigen. Im Jahre 1854
zählte das Deutschland heutigen Umfanges ungefähr 36 Millionen Einwohner.
1894 waren daraus 51 Millionen geworden, und 1914 lebten auf derselben
Fläche über 67 Millionen Menschen. Aus dieser starken Beoölkerungsvermehrung
ergaben sich wie oft dargelegt und heute wohl allgemein bekannt, gewisse Not¬
wendigkeiten der wirtschaftspolitischen Entwicklung. Caprivi hat sie mit den
Worten bezeichnet: "Wir müssen entweder Waren exportieren oder Menschen."
Man kann es auch so ausdrücken: Deutschland mußte ein Industriestaat werden,
und Deutschland mußte Kolonien erwerben. Ein Industriestaat mußte Deutsch¬
land werden, um seiner wachsenden Bevölkerung Arbeit zu verschaffen; Kolonien
mußte das neue Deutschland erwerben, weniger um dorthin seinen Bevölkerungs¬
überschuß abzugeben, als um die Rohstoffzufuhr und auch dem Fabrikatenabsatz
allmählich eine breitere und sicherere Grundlage zu geben. In beiden Fällen,
als Industriestaat und als junge Kolonialmacht stieß Deutschland mit Gro߬
britannien zusammen.

Die wirtschaftlichen Dreibundverträge zu Anfang der neunziger Jahre
bezeichnen die Zeit des Umschwunges in der Bevölkerungs- und Wirtschafts¬
entwicklung Deutschlands. Damit beginnt auch die Verschärfung des Gegen¬
satzes zu England. Kurz vor und nach Abschluß der Cavrivischen Handels¬
verträge betrug der Vorsprung, den England vor Deutschland als Exporteur
hatte, etwa drei Millarden Mark jährlich. Zu Anfang dieses Jahrhunderts
hatte sich der Abstand auf zwei Milliarden verringert, und seither blieb es bei
einer Distanz von 2 bis 2,5 Milliarden Mark. Mit anderen Worten, der
deutsche Export machte in den neunziger Jahren einen kräftigen Anlauf, um
die Größe der englischen Ausfuhr zu erreichen, und nachdem er sie wenigstens
ein Stück Wegs eingeholt hatte, blieb er ihr in der Folge immer hart auf
den Fersen. Die tatsächliche Zunahme der Ausfuhr in Deutschland war im
letzten Jahrzehnt mindestens ebensogroß wie der Exportzuwachs in Gro߬
britannien. Die verhältnismäßige Steigerung aber war erheblich größer. Auf


Der deutsch-englische Gegensatz

war die Verleumdung Deutschlands eine ständige Rubrik in der englischen
Presse.

Nun fällt allerdings ein Ereignis in jene Zeit, das die Eifersucht Englands
nicht ganz grundlos erscheinen läßt. Der letzte der drei Marksteine, die äußerlich
den Weg bezeichnen, den die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im vorigen
Jahrhundert genommen hat, wurde damals gesetzt: nach der Gründung des
Zollvereins und der Gründung des Norddeutschen Bundes folgte in den achtziger
Jahren die Einverleibung der Hansestädte Bremen und Hamburg in das deutsche
Zollgebiet. Dadurch erhielt dieses seine heutigen Grenzen. Dieses Ereignis
mag zunächst unbedeutend erscheinen. Seine tiefere Bedeutung erhält es dadurch,
daß Deutschland ungefähr gleichzeitig mit der zollpolitischen Eingliederung der
Hansestädte seinen Eintritt in die Weltpolitik durch Gründung von Kolonien
vollzog. Um diese Wandlung zu verstehen, muß man sich gewisse Tatsachen
der Bevölkerungsentfaltung Deutschlands vergegenwärtigen. Im Jahre 1854
zählte das Deutschland heutigen Umfanges ungefähr 36 Millionen Einwohner.
1894 waren daraus 51 Millionen geworden, und 1914 lebten auf derselben
Fläche über 67 Millionen Menschen. Aus dieser starken Beoölkerungsvermehrung
ergaben sich wie oft dargelegt und heute wohl allgemein bekannt, gewisse Not¬
wendigkeiten der wirtschaftspolitischen Entwicklung. Caprivi hat sie mit den
Worten bezeichnet: „Wir müssen entweder Waren exportieren oder Menschen."
Man kann es auch so ausdrücken: Deutschland mußte ein Industriestaat werden,
und Deutschland mußte Kolonien erwerben. Ein Industriestaat mußte Deutsch¬
land werden, um seiner wachsenden Bevölkerung Arbeit zu verschaffen; Kolonien
mußte das neue Deutschland erwerben, weniger um dorthin seinen Bevölkerungs¬
überschuß abzugeben, als um die Rohstoffzufuhr und auch dem Fabrikatenabsatz
allmählich eine breitere und sicherere Grundlage zu geben. In beiden Fällen,
als Industriestaat und als junge Kolonialmacht stieß Deutschland mit Gro߬
britannien zusammen.

Die wirtschaftlichen Dreibundverträge zu Anfang der neunziger Jahre
bezeichnen die Zeit des Umschwunges in der Bevölkerungs- und Wirtschafts¬
entwicklung Deutschlands. Damit beginnt auch die Verschärfung des Gegen¬
satzes zu England. Kurz vor und nach Abschluß der Cavrivischen Handels¬
verträge betrug der Vorsprung, den England vor Deutschland als Exporteur
hatte, etwa drei Millarden Mark jährlich. Zu Anfang dieses Jahrhunderts
hatte sich der Abstand auf zwei Milliarden verringert, und seither blieb es bei
einer Distanz von 2 bis 2,5 Milliarden Mark. Mit anderen Worten, der
deutsche Export machte in den neunziger Jahren einen kräftigen Anlauf, um
die Größe der englischen Ausfuhr zu erreichen, und nachdem er sie wenigstens
ein Stück Wegs eingeholt hatte, blieb er ihr in der Folge immer hart auf
den Fersen. Die tatsächliche Zunahme der Ausfuhr in Deutschland war im
letzten Jahrzehnt mindestens ebensogroß wie der Exportzuwachs in Gro߬
britannien. Die verhältnismäßige Steigerung aber war erheblich größer. Auf


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[0049] Der deutsch-englische Gegensatz war die Verleumdung Deutschlands eine ständige Rubrik in der englischen Presse. Nun fällt allerdings ein Ereignis in jene Zeit, das die Eifersucht Englands nicht ganz grundlos erscheinen läßt. Der letzte der drei Marksteine, die äußerlich den Weg bezeichnen, den die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im vorigen Jahrhundert genommen hat, wurde damals gesetzt: nach der Gründung des Zollvereins und der Gründung des Norddeutschen Bundes folgte in den achtziger Jahren die Einverleibung der Hansestädte Bremen und Hamburg in das deutsche Zollgebiet. Dadurch erhielt dieses seine heutigen Grenzen. Dieses Ereignis mag zunächst unbedeutend erscheinen. Seine tiefere Bedeutung erhält es dadurch, daß Deutschland ungefähr gleichzeitig mit der zollpolitischen Eingliederung der Hansestädte seinen Eintritt in die Weltpolitik durch Gründung von Kolonien vollzog. Um diese Wandlung zu verstehen, muß man sich gewisse Tatsachen der Bevölkerungsentfaltung Deutschlands vergegenwärtigen. Im Jahre 1854 zählte das Deutschland heutigen Umfanges ungefähr 36 Millionen Einwohner. 1894 waren daraus 51 Millionen geworden, und 1914 lebten auf derselben Fläche über 67 Millionen Menschen. Aus dieser starken Beoölkerungsvermehrung ergaben sich wie oft dargelegt und heute wohl allgemein bekannt, gewisse Not¬ wendigkeiten der wirtschaftspolitischen Entwicklung. Caprivi hat sie mit den Worten bezeichnet: „Wir müssen entweder Waren exportieren oder Menschen." Man kann es auch so ausdrücken: Deutschland mußte ein Industriestaat werden, und Deutschland mußte Kolonien erwerben. Ein Industriestaat mußte Deutsch¬ land werden, um seiner wachsenden Bevölkerung Arbeit zu verschaffen; Kolonien mußte das neue Deutschland erwerben, weniger um dorthin seinen Bevölkerungs¬ überschuß abzugeben, als um die Rohstoffzufuhr und auch dem Fabrikatenabsatz allmählich eine breitere und sicherere Grundlage zu geben. In beiden Fällen, als Industriestaat und als junge Kolonialmacht stieß Deutschland mit Gro߬ britannien zusammen. Die wirtschaftlichen Dreibundverträge zu Anfang der neunziger Jahre bezeichnen die Zeit des Umschwunges in der Bevölkerungs- und Wirtschafts¬ entwicklung Deutschlands. Damit beginnt auch die Verschärfung des Gegen¬ satzes zu England. Kurz vor und nach Abschluß der Cavrivischen Handels¬ verträge betrug der Vorsprung, den England vor Deutschland als Exporteur hatte, etwa drei Millarden Mark jährlich. Zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte sich der Abstand auf zwei Milliarden verringert, und seither blieb es bei einer Distanz von 2 bis 2,5 Milliarden Mark. Mit anderen Worten, der deutsche Export machte in den neunziger Jahren einen kräftigen Anlauf, um die Größe der englischen Ausfuhr zu erreichen, und nachdem er sie wenigstens ein Stück Wegs eingeholt hatte, blieb er ihr in der Folge immer hart auf den Fersen. Die tatsächliche Zunahme der Ausfuhr in Deutschland war im letzten Jahrzehnt mindestens ebensogroß wie der Exportzuwachs in Gro߬ britannien. Die verhältnismäßige Steigerung aber war erheblich größer. Auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/49>, abgerufen am 15.05.2024.