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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsch-englische Gegensatz

oder wenn man will vier Pfeilern: der Baumwollindustrie, der Eisen- und
Maschinenindustrie und der Kohlenindustrie. Der vierte Pfeiler ist die Wider-
ausfuhr von fremdländischen Rohstoffen und Kolonialwaren. Wenn nur einer
dieser Pfeiler ins Wanken gerät, ist die englische Volkswirtschaft den schwersten
Erschütterungen ausgesetzt. In Deutschland hingegen entfällt der Hauptteil
des Exportes auf mindestens zehn Industriezweige. An der Spitze steht die
Eisenindustrie mit einem Ausfuhrwert von vier Fünftel Milliarden. Dann
folgen eine Reihe gleich mächtiger Äste der deutschen Industrie. Die Ausfuhr
der chemischen Industrie und der Kohlenindustrie ist mit je einer halben
Milliarde fast ebenso groß wie die der Textilindustrie. Die Papierindustrie,
die elektrische Industrie, die Glas- und Tonwarenindustrie, die Zucker- und
Lederindustrie sind als Exportindustrien einander ebenbürtig. Alle führen Werte
von insgesamt ein wenig über oder unter einer Fünftel Milliarde aus. Und
die Fahrzeugindustrie bleibt auch nicht allzuweit dahinter zurück.

Mit der Einseitigkeit der industriellen Entwicklung Großbritanniens hängen
auch gewisse soziale Erscheinungen zusammen. Wer die jüngste Geschichte der
sozialen Bewegungen Englands kennt, der weiß, daß "der berauschenden Ver¬
mehrung von Reichtum und Macht", von der (nach Marx) Gladstone schon
1863 sprach, "immer noch," wie der Premier damals hinzufügen mußte, "die
Extreme der Armut unverändert gegenüber stehen." -- "Unser Vaterland leidet
heute unter dieser Krankheit in einem Maße, von der nur wenige eine Vor¬
stellung haben," so schrieb das verdiente auch auf dem Kontinent hoch an¬
gesehene Gelehrtenehepaar Sidney und Beatrice Webb in einem Buche, das
vor zwei Jahren erschienen ist. Und unter den Ursachen der Armut nennen
sie vor allem die Arbeitslosigkeit und die grimme Tatsache, daß sich unter den
sechzehn Millionen erwachsener Lohnarbeiter ungezählte Massen befinden, die
unter die klassische Definition der Kommisston des Hauses der Lords von 1890
fallen: "Bloße Hungerlöhne, endlose Arbeitszeit, gesundheitliche Zustände gleich
gefährlich für die Arbeiter wie für die Allgemeinheit." -- "Das Übel ist so
groß," schreiben sie, "und die Summe der verursachten Armut so ungeheuerlich,
daß jeder befriedigende Vergleich mit der Vergangenheit im zwanzigsten Jahr¬
hundert wenig am Platze erscheint." Auch die Regierung ist nicht blind für
diese Zustände gewesen. Sie hat in den letzten Jahren versucht, die deutsche
sozialpolitische Gesetzgebung nachzuahmen. Aber gleichviel, welcher Erfolg diesem
Versuch beschieden sein wird, eine bedrohliche Strukturveränderung der englischen
Gesellschaft ist heute schon festzustellen. Auf dem Kontinent ist das Urteil
weiter Kreise über englische Arbeiterverhältnisse noch durch fünfundzwanzig und
mehr Jahre alte Schilderungen deutscher Gelehrter über den sozialen Frieden
im englischen Industriestaat bestimmt. Daran hat sich jedoch wesentliches
geändert. Eine neue Arbeiterfrage ist aufgetaucht, die Arbeiterfrage der Un¬
gelernten. Der englische Zensus (1901) zählte in der Gruppe der Berufs¬
tätigen ohne nähere Berufsbezeichnung fast 1100000 Personen oder 5,9 Prozent


Der deutsch-englische Gegensatz

oder wenn man will vier Pfeilern: der Baumwollindustrie, der Eisen- und
Maschinenindustrie und der Kohlenindustrie. Der vierte Pfeiler ist die Wider-
ausfuhr von fremdländischen Rohstoffen und Kolonialwaren. Wenn nur einer
dieser Pfeiler ins Wanken gerät, ist die englische Volkswirtschaft den schwersten
Erschütterungen ausgesetzt. In Deutschland hingegen entfällt der Hauptteil
des Exportes auf mindestens zehn Industriezweige. An der Spitze steht die
Eisenindustrie mit einem Ausfuhrwert von vier Fünftel Milliarden. Dann
folgen eine Reihe gleich mächtiger Äste der deutschen Industrie. Die Ausfuhr
der chemischen Industrie und der Kohlenindustrie ist mit je einer halben
Milliarde fast ebenso groß wie die der Textilindustrie. Die Papierindustrie,
die elektrische Industrie, die Glas- und Tonwarenindustrie, die Zucker- und
Lederindustrie sind als Exportindustrien einander ebenbürtig. Alle führen Werte
von insgesamt ein wenig über oder unter einer Fünftel Milliarde aus. Und
die Fahrzeugindustrie bleibt auch nicht allzuweit dahinter zurück.

Mit der Einseitigkeit der industriellen Entwicklung Großbritanniens hängen
auch gewisse soziale Erscheinungen zusammen. Wer die jüngste Geschichte der
sozialen Bewegungen Englands kennt, der weiß, daß „der berauschenden Ver¬
mehrung von Reichtum und Macht", von der (nach Marx) Gladstone schon
1863 sprach, „immer noch," wie der Premier damals hinzufügen mußte, „die
Extreme der Armut unverändert gegenüber stehen." — „Unser Vaterland leidet
heute unter dieser Krankheit in einem Maße, von der nur wenige eine Vor¬
stellung haben," so schrieb das verdiente auch auf dem Kontinent hoch an¬
gesehene Gelehrtenehepaar Sidney und Beatrice Webb in einem Buche, das
vor zwei Jahren erschienen ist. Und unter den Ursachen der Armut nennen
sie vor allem die Arbeitslosigkeit und die grimme Tatsache, daß sich unter den
sechzehn Millionen erwachsener Lohnarbeiter ungezählte Massen befinden, die
unter die klassische Definition der Kommisston des Hauses der Lords von 1890
fallen: „Bloße Hungerlöhne, endlose Arbeitszeit, gesundheitliche Zustände gleich
gefährlich für die Arbeiter wie für die Allgemeinheit." — „Das Übel ist so
groß," schreiben sie, „und die Summe der verursachten Armut so ungeheuerlich,
daß jeder befriedigende Vergleich mit der Vergangenheit im zwanzigsten Jahr¬
hundert wenig am Platze erscheint." Auch die Regierung ist nicht blind für
diese Zustände gewesen. Sie hat in den letzten Jahren versucht, die deutsche
sozialpolitische Gesetzgebung nachzuahmen. Aber gleichviel, welcher Erfolg diesem
Versuch beschieden sein wird, eine bedrohliche Strukturveränderung der englischen
Gesellschaft ist heute schon festzustellen. Auf dem Kontinent ist das Urteil
weiter Kreise über englische Arbeiterverhältnisse noch durch fünfundzwanzig und
mehr Jahre alte Schilderungen deutscher Gelehrter über den sozialen Frieden
im englischen Industriestaat bestimmt. Daran hat sich jedoch wesentliches
geändert. Eine neue Arbeiterfrage ist aufgetaucht, die Arbeiterfrage der Un¬
gelernten. Der englische Zensus (1901) zählte in der Gruppe der Berufs¬
tätigen ohne nähere Berufsbezeichnung fast 1100000 Personen oder 5,9 Prozent


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[0052] Der deutsch-englische Gegensatz oder wenn man will vier Pfeilern: der Baumwollindustrie, der Eisen- und Maschinenindustrie und der Kohlenindustrie. Der vierte Pfeiler ist die Wider- ausfuhr von fremdländischen Rohstoffen und Kolonialwaren. Wenn nur einer dieser Pfeiler ins Wanken gerät, ist die englische Volkswirtschaft den schwersten Erschütterungen ausgesetzt. In Deutschland hingegen entfällt der Hauptteil des Exportes auf mindestens zehn Industriezweige. An der Spitze steht die Eisenindustrie mit einem Ausfuhrwert von vier Fünftel Milliarden. Dann folgen eine Reihe gleich mächtiger Äste der deutschen Industrie. Die Ausfuhr der chemischen Industrie und der Kohlenindustrie ist mit je einer halben Milliarde fast ebenso groß wie die der Textilindustrie. Die Papierindustrie, die elektrische Industrie, die Glas- und Tonwarenindustrie, die Zucker- und Lederindustrie sind als Exportindustrien einander ebenbürtig. Alle führen Werte von insgesamt ein wenig über oder unter einer Fünftel Milliarde aus. Und die Fahrzeugindustrie bleibt auch nicht allzuweit dahinter zurück. Mit der Einseitigkeit der industriellen Entwicklung Großbritanniens hängen auch gewisse soziale Erscheinungen zusammen. Wer die jüngste Geschichte der sozialen Bewegungen Englands kennt, der weiß, daß „der berauschenden Ver¬ mehrung von Reichtum und Macht", von der (nach Marx) Gladstone schon 1863 sprach, „immer noch," wie der Premier damals hinzufügen mußte, „die Extreme der Armut unverändert gegenüber stehen." — „Unser Vaterland leidet heute unter dieser Krankheit in einem Maße, von der nur wenige eine Vor¬ stellung haben," so schrieb das verdiente auch auf dem Kontinent hoch an¬ gesehene Gelehrtenehepaar Sidney und Beatrice Webb in einem Buche, das vor zwei Jahren erschienen ist. Und unter den Ursachen der Armut nennen sie vor allem die Arbeitslosigkeit und die grimme Tatsache, daß sich unter den sechzehn Millionen erwachsener Lohnarbeiter ungezählte Massen befinden, die unter die klassische Definition der Kommisston des Hauses der Lords von 1890 fallen: „Bloße Hungerlöhne, endlose Arbeitszeit, gesundheitliche Zustände gleich gefährlich für die Arbeiter wie für die Allgemeinheit." — „Das Übel ist so groß," schreiben sie, „und die Summe der verursachten Armut so ungeheuerlich, daß jeder befriedigende Vergleich mit der Vergangenheit im zwanzigsten Jahr¬ hundert wenig am Platze erscheint." Auch die Regierung ist nicht blind für diese Zustände gewesen. Sie hat in den letzten Jahren versucht, die deutsche sozialpolitische Gesetzgebung nachzuahmen. Aber gleichviel, welcher Erfolg diesem Versuch beschieden sein wird, eine bedrohliche Strukturveränderung der englischen Gesellschaft ist heute schon festzustellen. Auf dem Kontinent ist das Urteil weiter Kreise über englische Arbeiterverhältnisse noch durch fünfundzwanzig und mehr Jahre alte Schilderungen deutscher Gelehrter über den sozialen Frieden im englischen Industriestaat bestimmt. Daran hat sich jedoch wesentliches geändert. Eine neue Arbeiterfrage ist aufgetaucht, die Arbeiterfrage der Un¬ gelernten. Der englische Zensus (1901) zählte in der Gruppe der Berufs¬ tätigen ohne nähere Berufsbezeichnung fast 1100000 Personen oder 5,9 Prozent

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/52>, abgerufen am 30.05.2024.