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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsch-englische Gegensatz

aller Berufstätigen, während die deutsche Berufszählung von 1907 in derselben
Gruppe nur 205000 Personen oder 0.7 Prozent aufweist. Die große Zahl der
ungelernten Arbeiter in England -- denn diese haben den Hauptanteil an der an¬
geführten Gruppe -- hat vor allem zwei Ursachen: die zünftlerische Politik der Ge¬
werkschaften und die starke Entwicklung solcher Unternehmungen, die vorzugsweise
ungelernte Arbeiter beschäftigen. Die Klagen über die Tro.de Unions, die sich gegen
Ungelernte streng abschließen, und diesen jedes Vorwärtskommen abschneiden, sind
alt, aber bis heute fehlt es an einer wirksamen Abhilfe. Die Hauptbeschäftigungs¬
zweige der Ungelernten sind die Handels-, Verkehrs- und Transportgewerbe,
die fast ebensoviel Personen beschäftigen als Bergbau, Metall- und Maschinen¬
industrie. Schiffbau- und Textilindustrie zusammen. Es ist kein Zufall, daß
über die Frage der Ungelernten und Arbeitslosen in den letzten Jahren eine
verhältnismäßig große Literatur erschienen ist. Denn die gekennzeichneten Zu¬
stände haben eine sozial-radikale Arbeiterschaft großgezogen, die (Werft- und
Dockarbeiter, Eisenbahnangestellte und Kohlenarbeiter) den Hebel in der Hand
haben, um die ganze Maschinerie des Staates still stehen zu lassen. Vor dieser
Tatsache hat das englische Parlament bereits einmal kapitulieren müssen. Das
war bei dem Kohlenarbeiterstreik von 1912 der Fall. Die Arbeitseinstellung
breitete sich in wenigen Tagen über ganz England aus, so daß über eine
Million Grubenarbeiter und 400000 andere Arbeiter beschäftigungslos waren.
Die Arbeiterschaft zwang damals das Parlament, ein Minimallohngesetz zu
verabschieden. Dieses aber hat keine Lösung der neuen Arbeiterfrage gebracht.
Die Wurzeln der sozialen Not in England liegen tiefer. Sie liegen in der
ganzen Struktur der englischen Volkswirtschaft, in der Zurückdrängung Englands
auf dem Weltmarkte durch Deutschland und die Vereinigten Staaten und in
der Konkurrenz, die diese beiden Länder Großbritannien auf seinem eigenen
heimischen Markt und in den Kolonien bereiten.

Heute klopft das Schicksal Venedigs, Portugals und Hollands an die Pforte
des englischen Reiches. Und die bange Furcht vor diesem Schicksal Hot uns
den Krieg beschert. Heinrich Heine glaubte diesen Krieg schon vor siebzig Jahren
kommen zu sehen, als er in seinen Berichten über Politik, Kunst und Volks¬
iebe:', schrieb: "Jetzt ist England gefährlicher als je, jetzt, wo seine merkanti-
lischen Interessen unterliegen; es gibt in der ganzen Schöpfung kein so hart¬
herziges Geschöpf wie ein Krämer, dessen Handel ins Stocken geraten, dem seine
Kunden abtrünnig werden und dessen Warenlager keinen Absatz mehr findet.
Wie wird England sich aus solcher Geschäftskrisis retten? Ich weiß nicht,
wie die Frage der Fabrikarbeiter gelöst werden kann; aber ich weiß, daß die
Politik des modernen Karthago nicht sehr wählig in ihren Mitteln ist. Ein
europäischer Krieg wird dieser Selbstsucht vielleicht zuletzt als das geeignetste
Mittel erscheinen, um dem inneren Gebreste einige Ableitung nach außen zu
bereiten*)." Die Ereignisse, die Heine damals (1842) voraussah, traten nicht



*) Vergleiche den Aufsatz "Heinrich Heine über England" in diesem Heft.
Der deutsch-englische Gegensatz

aller Berufstätigen, während die deutsche Berufszählung von 1907 in derselben
Gruppe nur 205000 Personen oder 0.7 Prozent aufweist. Die große Zahl der
ungelernten Arbeiter in England — denn diese haben den Hauptanteil an der an¬
geführten Gruppe — hat vor allem zwei Ursachen: die zünftlerische Politik der Ge¬
werkschaften und die starke Entwicklung solcher Unternehmungen, die vorzugsweise
ungelernte Arbeiter beschäftigen. Die Klagen über die Tro.de Unions, die sich gegen
Ungelernte streng abschließen, und diesen jedes Vorwärtskommen abschneiden, sind
alt, aber bis heute fehlt es an einer wirksamen Abhilfe. Die Hauptbeschäftigungs¬
zweige der Ungelernten sind die Handels-, Verkehrs- und Transportgewerbe,
die fast ebensoviel Personen beschäftigen als Bergbau, Metall- und Maschinen¬
industrie. Schiffbau- und Textilindustrie zusammen. Es ist kein Zufall, daß
über die Frage der Ungelernten und Arbeitslosen in den letzten Jahren eine
verhältnismäßig große Literatur erschienen ist. Denn die gekennzeichneten Zu¬
stände haben eine sozial-radikale Arbeiterschaft großgezogen, die (Werft- und
Dockarbeiter, Eisenbahnangestellte und Kohlenarbeiter) den Hebel in der Hand
haben, um die ganze Maschinerie des Staates still stehen zu lassen. Vor dieser
Tatsache hat das englische Parlament bereits einmal kapitulieren müssen. Das
war bei dem Kohlenarbeiterstreik von 1912 der Fall. Die Arbeitseinstellung
breitete sich in wenigen Tagen über ganz England aus, so daß über eine
Million Grubenarbeiter und 400000 andere Arbeiter beschäftigungslos waren.
Die Arbeiterschaft zwang damals das Parlament, ein Minimallohngesetz zu
verabschieden. Dieses aber hat keine Lösung der neuen Arbeiterfrage gebracht.
Die Wurzeln der sozialen Not in England liegen tiefer. Sie liegen in der
ganzen Struktur der englischen Volkswirtschaft, in der Zurückdrängung Englands
auf dem Weltmarkte durch Deutschland und die Vereinigten Staaten und in
der Konkurrenz, die diese beiden Länder Großbritannien auf seinem eigenen
heimischen Markt und in den Kolonien bereiten.

Heute klopft das Schicksal Venedigs, Portugals und Hollands an die Pforte
des englischen Reiches. Und die bange Furcht vor diesem Schicksal Hot uns
den Krieg beschert. Heinrich Heine glaubte diesen Krieg schon vor siebzig Jahren
kommen zu sehen, als er in seinen Berichten über Politik, Kunst und Volks¬
iebe:', schrieb: „Jetzt ist England gefährlicher als je, jetzt, wo seine merkanti-
lischen Interessen unterliegen; es gibt in der ganzen Schöpfung kein so hart¬
herziges Geschöpf wie ein Krämer, dessen Handel ins Stocken geraten, dem seine
Kunden abtrünnig werden und dessen Warenlager keinen Absatz mehr findet.
Wie wird England sich aus solcher Geschäftskrisis retten? Ich weiß nicht,
wie die Frage der Fabrikarbeiter gelöst werden kann; aber ich weiß, daß die
Politik des modernen Karthago nicht sehr wählig in ihren Mitteln ist. Ein
europäischer Krieg wird dieser Selbstsucht vielleicht zuletzt als das geeignetste
Mittel erscheinen, um dem inneren Gebreste einige Ableitung nach außen zu
bereiten*)." Die Ereignisse, die Heine damals (1842) voraussah, traten nicht



*) Vergleiche den Aufsatz „Heinrich Heine über England" in diesem Heft.
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[0053] Der deutsch-englische Gegensatz aller Berufstätigen, während die deutsche Berufszählung von 1907 in derselben Gruppe nur 205000 Personen oder 0.7 Prozent aufweist. Die große Zahl der ungelernten Arbeiter in England — denn diese haben den Hauptanteil an der an¬ geführten Gruppe — hat vor allem zwei Ursachen: die zünftlerische Politik der Ge¬ werkschaften und die starke Entwicklung solcher Unternehmungen, die vorzugsweise ungelernte Arbeiter beschäftigen. Die Klagen über die Tro.de Unions, die sich gegen Ungelernte streng abschließen, und diesen jedes Vorwärtskommen abschneiden, sind alt, aber bis heute fehlt es an einer wirksamen Abhilfe. Die Hauptbeschäftigungs¬ zweige der Ungelernten sind die Handels-, Verkehrs- und Transportgewerbe, die fast ebensoviel Personen beschäftigen als Bergbau, Metall- und Maschinen¬ industrie. Schiffbau- und Textilindustrie zusammen. Es ist kein Zufall, daß über die Frage der Ungelernten und Arbeitslosen in den letzten Jahren eine verhältnismäßig große Literatur erschienen ist. Denn die gekennzeichneten Zu¬ stände haben eine sozial-radikale Arbeiterschaft großgezogen, die (Werft- und Dockarbeiter, Eisenbahnangestellte und Kohlenarbeiter) den Hebel in der Hand haben, um die ganze Maschinerie des Staates still stehen zu lassen. Vor dieser Tatsache hat das englische Parlament bereits einmal kapitulieren müssen. Das war bei dem Kohlenarbeiterstreik von 1912 der Fall. Die Arbeitseinstellung breitete sich in wenigen Tagen über ganz England aus, so daß über eine Million Grubenarbeiter und 400000 andere Arbeiter beschäftigungslos waren. Die Arbeiterschaft zwang damals das Parlament, ein Minimallohngesetz zu verabschieden. Dieses aber hat keine Lösung der neuen Arbeiterfrage gebracht. Die Wurzeln der sozialen Not in England liegen tiefer. Sie liegen in der ganzen Struktur der englischen Volkswirtschaft, in der Zurückdrängung Englands auf dem Weltmarkte durch Deutschland und die Vereinigten Staaten und in der Konkurrenz, die diese beiden Länder Großbritannien auf seinem eigenen heimischen Markt und in den Kolonien bereiten. Heute klopft das Schicksal Venedigs, Portugals und Hollands an die Pforte des englischen Reiches. Und die bange Furcht vor diesem Schicksal Hot uns den Krieg beschert. Heinrich Heine glaubte diesen Krieg schon vor siebzig Jahren kommen zu sehen, als er in seinen Berichten über Politik, Kunst und Volks¬ iebe:', schrieb: „Jetzt ist England gefährlicher als je, jetzt, wo seine merkanti- lischen Interessen unterliegen; es gibt in der ganzen Schöpfung kein so hart¬ herziges Geschöpf wie ein Krämer, dessen Handel ins Stocken geraten, dem seine Kunden abtrünnig werden und dessen Warenlager keinen Absatz mehr findet. Wie wird England sich aus solcher Geschäftskrisis retten? Ich weiß nicht, wie die Frage der Fabrikarbeiter gelöst werden kann; aber ich weiß, daß die Politik des modernen Karthago nicht sehr wählig in ihren Mitteln ist. Ein europäischer Krieg wird dieser Selbstsucht vielleicht zuletzt als das geeignetste Mittel erscheinen, um dem inneren Gebreste einige Ableitung nach außen zu bereiten*)." Die Ereignisse, die Heine damals (1842) voraussah, traten nicht *) Vergleiche den Aufsatz „Heinrich Heine über England" in diesem Heft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/53>, abgerufen am 14.05.2024.