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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur Genesis des Weltkrieges

des neunzehnten Jahrhunderts sanft anschwellend die Arbeit gegen die
Sklavenausfuhr begann. An dem Geschäft war nichts mehr zu verdienen,
ein Vorgang, der die soziologische Bewertung der panbritischen Kulturpolitik
immer in starkem Maße bestimmt hat. Der britische cant ist eben uralt, so
alt wie die maZna ckarta, oder noch älter. Weshalb auch heute die britischen
Zeitungen sich über kriegsmäßige Beschießung offener Städte entrüsten können.
Ihr geschichtliches Gedächtnis der eigenen Vergangenheit gegenüber versagt
immer. Sonst müßte man noch wissen, daß vor genau hundert Jahren, im
Dezember 1814, englische Truppen die offene amerikanische Bundeshauptstadt
Washington brandschatzten und das Kapital zerstörten.

Über ein Jahrzehnt hat der deutsch-englische Gegensatz die kontinentale
Politik beherrscht. Wie Gezeiten sind alle Verständigungsversuche über ihn
hinweggeflutet. Sie alle waren in der Wurzel krank, weil sie Wirkungen für
die Ursachen nahmen. Und so konnte es nicht gelingen, die "Mißverständnisse"
durch das Zurückführen auf die gemeinsame "Kulturwurzel" zu erklären, noch
weniger, sie zu beseitigen. Dabei sind wir offensichtlich sehr zartfühlend ver¬
fahren, unterließen es beispielsweise, die Briten daran zu erinnern, daß sie den
kulturellen Glanz der Viktorianischen Epoche aus Deutschland bezogen hatten.
Nichts ist so wenig bodenständig, als der geistige Oberbau der englischen Kultur.
Zähe wie Londoner Novembernebel hat sich in unserer Vvrstellungswelt die
Legende eingenistet, die Briten hätten die freie Persönlichkeit im freien Staat
geschaffen. Die englische Verfassungsgeschichte galt uns als das Heldenlied des
freien Staatswesens. Montesquieu hatte das entdeckt und Rudolf von Gneist hatte
die These mit der Gründlichkeit des deutschen Staatsrechtslehrers systematisiert.
Tatsächlich war aber schon die in^na et^rta nichts anderes als die Erklärung
der unantastbaren Vorrechte des englischen Adels. Alle Königsgeschlechter, von
den Plantagenets bis zu den Stuarts haben sich daran verblutet. Cromwells
Umwälzung hat diese Entwicklung beschleunigt, indem sie die umfriedete Macht
des Parlaments vollends den herrschenden Geschlechtern auslieferte. England
war und ist bis heute eine reine Aristokratie, die als solche verstanden hat, jede
Änderung der Verfassung den im Geist der Zeit gewandelten Bedürfnissen der
Oberschicht anzupassen. Die Mntr^, die als ^orys und WKi^s seit zwei
Jahrhunderten England regiert, ist ini Kern noch unverändert, ja, noch verstärkt,
da sie mit den: industrie" und finanzkapitalistischen Neuadel organisch verwachsen
ist. Nun ist es in der neuesten politischen und soziologischen Literatur förmlich
zum Dogma geworden, daß England in der jüngsten Vergangenheit seine geistige
Energie in einem Demokratisierungsprozeß anstehe. Als Beweisstücke bietet
man dafür die staatssozialistischen Experimente Llovd Georges an, wie die
Zertrümmerung der Rechte des Oberhauses, den rentenfeindlichen Staatshaus¬
halt, endlich die Agrarreform. Selbst Gustaf F. Steffen hat sich in seiner
"Demokratie in England" davon blenden lassen, nicht minder auch sein Lands¬
mann R. Kjell6n, der die englische Großmacht in der Gegenwart als beginnende


Zur Genesis des Weltkrieges

des neunzehnten Jahrhunderts sanft anschwellend die Arbeit gegen die
Sklavenausfuhr begann. An dem Geschäft war nichts mehr zu verdienen,
ein Vorgang, der die soziologische Bewertung der panbritischen Kulturpolitik
immer in starkem Maße bestimmt hat. Der britische cant ist eben uralt, so
alt wie die maZna ckarta, oder noch älter. Weshalb auch heute die britischen
Zeitungen sich über kriegsmäßige Beschießung offener Städte entrüsten können.
Ihr geschichtliches Gedächtnis der eigenen Vergangenheit gegenüber versagt
immer. Sonst müßte man noch wissen, daß vor genau hundert Jahren, im
Dezember 1814, englische Truppen die offene amerikanische Bundeshauptstadt
Washington brandschatzten und das Kapital zerstörten.

Über ein Jahrzehnt hat der deutsch-englische Gegensatz die kontinentale
Politik beherrscht. Wie Gezeiten sind alle Verständigungsversuche über ihn
hinweggeflutet. Sie alle waren in der Wurzel krank, weil sie Wirkungen für
die Ursachen nahmen. Und so konnte es nicht gelingen, die „Mißverständnisse"
durch das Zurückführen auf die gemeinsame „Kulturwurzel" zu erklären, noch
weniger, sie zu beseitigen. Dabei sind wir offensichtlich sehr zartfühlend ver¬
fahren, unterließen es beispielsweise, die Briten daran zu erinnern, daß sie den
kulturellen Glanz der Viktorianischen Epoche aus Deutschland bezogen hatten.
Nichts ist so wenig bodenständig, als der geistige Oberbau der englischen Kultur.
Zähe wie Londoner Novembernebel hat sich in unserer Vvrstellungswelt die
Legende eingenistet, die Briten hätten die freie Persönlichkeit im freien Staat
geschaffen. Die englische Verfassungsgeschichte galt uns als das Heldenlied des
freien Staatswesens. Montesquieu hatte das entdeckt und Rudolf von Gneist hatte
die These mit der Gründlichkeit des deutschen Staatsrechtslehrers systematisiert.
Tatsächlich war aber schon die in^na et^rta nichts anderes als die Erklärung
der unantastbaren Vorrechte des englischen Adels. Alle Königsgeschlechter, von
den Plantagenets bis zu den Stuarts haben sich daran verblutet. Cromwells
Umwälzung hat diese Entwicklung beschleunigt, indem sie die umfriedete Macht
des Parlaments vollends den herrschenden Geschlechtern auslieferte. England
war und ist bis heute eine reine Aristokratie, die als solche verstanden hat, jede
Änderung der Verfassung den im Geist der Zeit gewandelten Bedürfnissen der
Oberschicht anzupassen. Die Mntr^, die als ^orys und WKi^s seit zwei
Jahrhunderten England regiert, ist ini Kern noch unverändert, ja, noch verstärkt,
da sie mit den: industrie» und finanzkapitalistischen Neuadel organisch verwachsen
ist. Nun ist es in der neuesten politischen und soziologischen Literatur förmlich
zum Dogma geworden, daß England in der jüngsten Vergangenheit seine geistige
Energie in einem Demokratisierungsprozeß anstehe. Als Beweisstücke bietet
man dafür die staatssozialistischen Experimente Llovd Georges an, wie die
Zertrümmerung der Rechte des Oberhauses, den rentenfeindlichen Staatshaus¬
halt, endlich die Agrarreform. Selbst Gustaf F. Steffen hat sich in seiner
„Demokratie in England" davon blenden lassen, nicht minder auch sein Lands¬
mann R. Kjell6n, der die englische Großmacht in der Gegenwart als beginnende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/78>, abgerufen am 15.05.2024.