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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur Genesis des Weltkrieges

Grenzen, denn die neu ausgeschlossenen Länder müssen ihre Eigenerzeugung
überall anbieten, wo Bedarf dafür ist. Als Konsumland besitzt England nicht
die Bedeutung Deutschlands. Diese wechselseitigen weltwirtschaftlichen Be¬
ziehungen sind es vornehmlich, die Englands Absicht, Deutschland wirtschaftlich
zu isolieren, letzten Endes an ihm selbst rächen werden. Will beispiels¬
weise Großbritannien aus Argentinien und Brasilien regelmäßig die Zinsen der
dort in Staatsanleihen, Bahnbauten usw. angelegten Kapitalien hereinziehen,
so muß vor allem Brasilien seine Kaffeernte im Werte von 800 Millionen Mark
jährlich glatt absetzen können. Von dieser Ernte bezieht Deutschland allein
über 150 Millionen Mark, Österreich-Ungarn ebenso ein erhebliches Quantum,
während das teetrinkende England aus Brasilien nur Kaffee im Werte von
kaum 10 Millionen Mark jährlich einführt. Weiter ist die Gesamtausfuhr
Brasiliens nach Deutschland nach Wert und Umfang größer, als die ins
Unitect KinZclom. Umgekehrt ist die Ausfuhr Englands nach Brasilien be¬
trächtlich höher als die Deutschlands. Wieder sind es Textilwaren, Kohlen und
Maschinen, mit denen Großbritannien Brasilien überschwemmt. Flete die Aus¬
fuhr nach Deutschland glatt fort, so hätte mittelbar nur England den Schaden,
weil dadurch die Verbrauchskraft Brasiliens erheblich eingeschränkt würde.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in Argentinien. Deutschland bezog 1913 für
rund 500 Millionen Mark Agrarerzeugnisse, während der Wert der deutschen
Ausfuhr 250 Millionen Mark nicht überstieg. Auch hier beherrscht die englische
Textil- und Eisenindustrie den Markt, und sie schnitte sich selbst ins Fleisch,
bliebe Argentinien ohne handelspolitische Verbindung mit Deutschland. Man
sieht gleich, was es mit der englischen Drohung auf sich hat, den deutschen
Auslandsmarkt an sich zu reißen. Erwarten muß man indessen, daß unsere
Auslandsvertretungen überall rücksichtslos diesen englischen Versuchen gegen¬
übertreten, zumal sie in der ungeschwächten Kauf- und Verbrauchskraft Deutsch¬
lands eine Waffe besitzen, der England nichts gleichwertiges gegenüberstellen kann.

Die englische Drohung hätte nur dann einen Sinn, wenn es gelänge,
einen neuen Verbraucher vom Range Deutschlands ausfindig zu machen. Denn
England reicht mit seiner Bevölkerungszahl von 45 Millionen nicht aus, um
so weniger, als es zunächst in der Versorgung mit Rohstoffen seine eigenen
Kolonien berücksichtigen muß. Gar kein Gedanke wäre daran, daß es etwa
die südamerikanische Gesamterzeugung aufnehmen könnte, soweit diese bislang
von Deutschland übernommen wurde. Wenn hier und da ängstliche Gemüter
bei uns fürchteten, Großbritannien würde uns während der Dauer des Krieges
weltwirtschaftlich matt zu setzen suchen, so sollten sie sich erinnern, daß jedes
Ding zwei Seiten hat. England möchte wohl; aber gerade hier muß es wie
in anderen Dingen und Verhältnissen auch die ganze Unzulänglichkeit seiner
eigenen Kraft spüren.

Großbritannien ist kein Industriestaat mehr. Schon aus technischen Gründen
würde seine industrielle Erzeugung nicht ausreichen, um den deutschen Ausfall


Zur Genesis des Weltkrieges

Grenzen, denn die neu ausgeschlossenen Länder müssen ihre Eigenerzeugung
überall anbieten, wo Bedarf dafür ist. Als Konsumland besitzt England nicht
die Bedeutung Deutschlands. Diese wechselseitigen weltwirtschaftlichen Be¬
ziehungen sind es vornehmlich, die Englands Absicht, Deutschland wirtschaftlich
zu isolieren, letzten Endes an ihm selbst rächen werden. Will beispiels¬
weise Großbritannien aus Argentinien und Brasilien regelmäßig die Zinsen der
dort in Staatsanleihen, Bahnbauten usw. angelegten Kapitalien hereinziehen,
so muß vor allem Brasilien seine Kaffeernte im Werte von 800 Millionen Mark
jährlich glatt absetzen können. Von dieser Ernte bezieht Deutschland allein
über 150 Millionen Mark, Österreich-Ungarn ebenso ein erhebliches Quantum,
während das teetrinkende England aus Brasilien nur Kaffee im Werte von
kaum 10 Millionen Mark jährlich einführt. Weiter ist die Gesamtausfuhr
Brasiliens nach Deutschland nach Wert und Umfang größer, als die ins
Unitect KinZclom. Umgekehrt ist die Ausfuhr Englands nach Brasilien be¬
trächtlich höher als die Deutschlands. Wieder sind es Textilwaren, Kohlen und
Maschinen, mit denen Großbritannien Brasilien überschwemmt. Flete die Aus¬
fuhr nach Deutschland glatt fort, so hätte mittelbar nur England den Schaden,
weil dadurch die Verbrauchskraft Brasiliens erheblich eingeschränkt würde.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in Argentinien. Deutschland bezog 1913 für
rund 500 Millionen Mark Agrarerzeugnisse, während der Wert der deutschen
Ausfuhr 250 Millionen Mark nicht überstieg. Auch hier beherrscht die englische
Textil- und Eisenindustrie den Markt, und sie schnitte sich selbst ins Fleisch,
bliebe Argentinien ohne handelspolitische Verbindung mit Deutschland. Man
sieht gleich, was es mit der englischen Drohung auf sich hat, den deutschen
Auslandsmarkt an sich zu reißen. Erwarten muß man indessen, daß unsere
Auslandsvertretungen überall rücksichtslos diesen englischen Versuchen gegen¬
übertreten, zumal sie in der ungeschwächten Kauf- und Verbrauchskraft Deutsch¬
lands eine Waffe besitzen, der England nichts gleichwertiges gegenüberstellen kann.

Die englische Drohung hätte nur dann einen Sinn, wenn es gelänge,
einen neuen Verbraucher vom Range Deutschlands ausfindig zu machen. Denn
England reicht mit seiner Bevölkerungszahl von 45 Millionen nicht aus, um
so weniger, als es zunächst in der Versorgung mit Rohstoffen seine eigenen
Kolonien berücksichtigen muß. Gar kein Gedanke wäre daran, daß es etwa
die südamerikanische Gesamterzeugung aufnehmen könnte, soweit diese bislang
von Deutschland übernommen wurde. Wenn hier und da ängstliche Gemüter
bei uns fürchteten, Großbritannien würde uns während der Dauer des Krieges
weltwirtschaftlich matt zu setzen suchen, so sollten sie sich erinnern, daß jedes
Ding zwei Seiten hat. England möchte wohl; aber gerade hier muß es wie
in anderen Dingen und Verhältnissen auch die ganze Unzulänglichkeit seiner
eigenen Kraft spüren.

Großbritannien ist kein Industriestaat mehr. Schon aus technischen Gründen
würde seine industrielle Erzeugung nicht ausreichen, um den deutschen Ausfall


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[0082] Zur Genesis des Weltkrieges Grenzen, denn die neu ausgeschlossenen Länder müssen ihre Eigenerzeugung überall anbieten, wo Bedarf dafür ist. Als Konsumland besitzt England nicht die Bedeutung Deutschlands. Diese wechselseitigen weltwirtschaftlichen Be¬ ziehungen sind es vornehmlich, die Englands Absicht, Deutschland wirtschaftlich zu isolieren, letzten Endes an ihm selbst rächen werden. Will beispiels¬ weise Großbritannien aus Argentinien und Brasilien regelmäßig die Zinsen der dort in Staatsanleihen, Bahnbauten usw. angelegten Kapitalien hereinziehen, so muß vor allem Brasilien seine Kaffeernte im Werte von 800 Millionen Mark jährlich glatt absetzen können. Von dieser Ernte bezieht Deutschland allein über 150 Millionen Mark, Österreich-Ungarn ebenso ein erhebliches Quantum, während das teetrinkende England aus Brasilien nur Kaffee im Werte von kaum 10 Millionen Mark jährlich einführt. Weiter ist die Gesamtausfuhr Brasiliens nach Deutschland nach Wert und Umfang größer, als die ins Unitect KinZclom. Umgekehrt ist die Ausfuhr Englands nach Brasilien be¬ trächtlich höher als die Deutschlands. Wieder sind es Textilwaren, Kohlen und Maschinen, mit denen Großbritannien Brasilien überschwemmt. Flete die Aus¬ fuhr nach Deutschland glatt fort, so hätte mittelbar nur England den Schaden, weil dadurch die Verbrauchskraft Brasiliens erheblich eingeschränkt würde. Ähnlich liegen die Verhältnisse in Argentinien. Deutschland bezog 1913 für rund 500 Millionen Mark Agrarerzeugnisse, während der Wert der deutschen Ausfuhr 250 Millionen Mark nicht überstieg. Auch hier beherrscht die englische Textil- und Eisenindustrie den Markt, und sie schnitte sich selbst ins Fleisch, bliebe Argentinien ohne handelspolitische Verbindung mit Deutschland. Man sieht gleich, was es mit der englischen Drohung auf sich hat, den deutschen Auslandsmarkt an sich zu reißen. Erwarten muß man indessen, daß unsere Auslandsvertretungen überall rücksichtslos diesen englischen Versuchen gegen¬ übertreten, zumal sie in der ungeschwächten Kauf- und Verbrauchskraft Deutsch¬ lands eine Waffe besitzen, der England nichts gleichwertiges gegenüberstellen kann. Die englische Drohung hätte nur dann einen Sinn, wenn es gelänge, einen neuen Verbraucher vom Range Deutschlands ausfindig zu machen. Denn England reicht mit seiner Bevölkerungszahl von 45 Millionen nicht aus, um so weniger, als es zunächst in der Versorgung mit Rohstoffen seine eigenen Kolonien berücksichtigen muß. Gar kein Gedanke wäre daran, daß es etwa die südamerikanische Gesamterzeugung aufnehmen könnte, soweit diese bislang von Deutschland übernommen wurde. Wenn hier und da ängstliche Gemüter bei uns fürchteten, Großbritannien würde uns während der Dauer des Krieges weltwirtschaftlich matt zu setzen suchen, so sollten sie sich erinnern, daß jedes Ding zwei Seiten hat. England möchte wohl; aber gerade hier muß es wie in anderen Dingen und Verhältnissen auch die ganze Unzulänglichkeit seiner eigenen Kraft spüren. Großbritannien ist kein Industriestaat mehr. Schon aus technischen Gründen würde seine industrielle Erzeugung nicht ausreichen, um den deutschen Ausfall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/82>, abgerufen am 29.05.2024.