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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Oer russisch-schwedische Bahnanschluß und der Narvik-Aouflikt

Rußland besitzt freilich noch einen weiteren, zwar jenseits des Polarkreises
gelegenen, aber dennoch mit günstigen Eisverhältnissen gesegneten Hafen.
Jekaterinsky Port (Katharinenhafen) an der Murmanküste, wo die Nähe des
Golfstroms eine überraschend lange und vollständige Eisfreiheit bedingt; die
kurzsichtige Verkehrspolitik Rußlands aber, die die Schaffung so vieler unendlich
wichtiger Bahnlinien verabsäumte und im jetzigen Kriege darunter schwerer als
unter jedem anderen Umstände leidet, hat es bislang auch versäumt, dem Eisen¬
bahnnetz des Landes eine Verbindung mit Jekaterinsky Port zu bieten, und der
Erfolg dieser Unterlassungssünde ist nun, daß in einem Zeitpunkt, da der Besitz
von Katharinenhafen ein Rettungshafen für Rußlands Wirtschaftsleben und für
Rußlands Kriegführung sein könnte, dieser wichtige Seehafen, der von der
nächsten Eisenbahnstation. Rovaniemi, noch volle 230 Kilometer entfernt ist,
völlig wertlos für das Zarenreich ist!

Seit Anfang Dezember ist Rußland infolgedessen vom Weltverkehr nahezu
abgeschnitten -- abgesehen vorn Personenverkehr und vom Telegraphenverkehr,
der aber auch nur noch über zwei europäische Kabelstränge verfügt. Die Lage
ist für die russische Kriegsführung um so verhängnisvoller, als die eigene
Industrie des Landes nur in allerbescheidenstem Umfang daran denken kann,
den Heeresbedarf an Geschützen und Munition zu ergänzen. Der außerge¬
wöhnlich große Abgang an Geschützen, Maschinengewehren, Artillerie- und
Jnfanteriemunition -- allein an Geschützen sind etwa 2000 an die Deutschen
und die Österreicher verloren gegangen! -- und die geradezu unsinnige
Munitionsverschwendung in den ersten Kriegswochen hat einen Mangel an
Kriegsmaterial bei den Russen erzeugt, der vielleicht noch verhängnisvoller ist
als die empfindliche Knappheit an geeigneten Offizieren. Nur über Fusan und
Tairen-Dalni kann Rußland allenfalls noch seine Bestände ergänzen, und es
ist ja bezeichnend genug, daß, laut einer Mitteilung aus Washington, Rußland
die wertvolle Nordhälfte von Sachalin an Japan abgetreten haben soll,
lediglich um dafür Artilleriegeschütze nebst Bedienungsmannschaft und Munition
überlassen zu erhalten. Daß diese Auffrischung des Geschützbestandes nur
"einen Tropfen auf einen heißen Stein" darstellt, liegt auf der Hand. Rußland
kann sich aus seiner überaus fatalen Lage nur auf zweierlei Weise zu befreien
hoffen, indem entweder die Mittelmeerflotte seiner Verbündeten die Durchfahrt
durch Dardanellen und Bosporus gewaltsam öffnet, wozu zwar ein Versuch wohl
gemacht werden wird, der aber recht wenig aussichtsreich erscheint, oder aber
indem Rußland einen eisfreien neutralen Hafen für seine Bedürfnisse vorbehaltlos
geöffnet bekommt. Der letzte Weg scheint noch am schnellsten zum Ziele zu
führen. Nachdem Bulgarien es kategorisch abgelehnt hat, seinen neugewonnenen
Hafen Dedeagatsch am Agäischen Meer für die Zufuhr des russischen Kriegs¬
materials zu öffnen, um seiner Neutralität nichts zu vergeben, hat Rußland
seine ganze Hoffnung auf den norwegischen Hafen Narvik gerichtet, der trotz
seiner hochnordischen Lage durch den Golfstrom ständig eisfrei gehalten wird


Oer russisch-schwedische Bahnanschluß und der Narvik-Aouflikt

Rußland besitzt freilich noch einen weiteren, zwar jenseits des Polarkreises
gelegenen, aber dennoch mit günstigen Eisverhältnissen gesegneten Hafen.
Jekaterinsky Port (Katharinenhafen) an der Murmanküste, wo die Nähe des
Golfstroms eine überraschend lange und vollständige Eisfreiheit bedingt; die
kurzsichtige Verkehrspolitik Rußlands aber, die die Schaffung so vieler unendlich
wichtiger Bahnlinien verabsäumte und im jetzigen Kriege darunter schwerer als
unter jedem anderen Umstände leidet, hat es bislang auch versäumt, dem Eisen¬
bahnnetz des Landes eine Verbindung mit Jekaterinsky Port zu bieten, und der
Erfolg dieser Unterlassungssünde ist nun, daß in einem Zeitpunkt, da der Besitz
von Katharinenhafen ein Rettungshafen für Rußlands Wirtschaftsleben und für
Rußlands Kriegführung sein könnte, dieser wichtige Seehafen, der von der
nächsten Eisenbahnstation. Rovaniemi, noch volle 230 Kilometer entfernt ist,
völlig wertlos für das Zarenreich ist!

Seit Anfang Dezember ist Rußland infolgedessen vom Weltverkehr nahezu
abgeschnitten — abgesehen vorn Personenverkehr und vom Telegraphenverkehr,
der aber auch nur noch über zwei europäische Kabelstränge verfügt. Die Lage
ist für die russische Kriegsführung um so verhängnisvoller, als die eigene
Industrie des Landes nur in allerbescheidenstem Umfang daran denken kann,
den Heeresbedarf an Geschützen und Munition zu ergänzen. Der außerge¬
wöhnlich große Abgang an Geschützen, Maschinengewehren, Artillerie- und
Jnfanteriemunition — allein an Geschützen sind etwa 2000 an die Deutschen
und die Österreicher verloren gegangen! — und die geradezu unsinnige
Munitionsverschwendung in den ersten Kriegswochen hat einen Mangel an
Kriegsmaterial bei den Russen erzeugt, der vielleicht noch verhängnisvoller ist
als die empfindliche Knappheit an geeigneten Offizieren. Nur über Fusan und
Tairen-Dalni kann Rußland allenfalls noch seine Bestände ergänzen, und es
ist ja bezeichnend genug, daß, laut einer Mitteilung aus Washington, Rußland
die wertvolle Nordhälfte von Sachalin an Japan abgetreten haben soll,
lediglich um dafür Artilleriegeschütze nebst Bedienungsmannschaft und Munition
überlassen zu erhalten. Daß diese Auffrischung des Geschützbestandes nur
„einen Tropfen auf einen heißen Stein" darstellt, liegt auf der Hand. Rußland
kann sich aus seiner überaus fatalen Lage nur auf zweierlei Weise zu befreien
hoffen, indem entweder die Mittelmeerflotte seiner Verbündeten die Durchfahrt
durch Dardanellen und Bosporus gewaltsam öffnet, wozu zwar ein Versuch wohl
gemacht werden wird, der aber recht wenig aussichtsreich erscheint, oder aber
indem Rußland einen eisfreien neutralen Hafen für seine Bedürfnisse vorbehaltlos
geöffnet bekommt. Der letzte Weg scheint noch am schnellsten zum Ziele zu
führen. Nachdem Bulgarien es kategorisch abgelehnt hat, seinen neugewonnenen
Hafen Dedeagatsch am Agäischen Meer für die Zufuhr des russischen Kriegs¬
materials zu öffnen, um seiner Neutralität nichts zu vergeben, hat Rußland
seine ganze Hoffnung auf den norwegischen Hafen Narvik gerichtet, der trotz
seiner hochnordischen Lage durch den Golfstrom ständig eisfrei gehalten wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/88>, abgerufen am 30.05.2024.