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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Frankreichs Werben um Belgien

als die bereits vollzogenen Tatsachen, über die Mittel und das Verfahren
der geheimen diplomatischen und agitatorischen Tätigkeit wird uns hoffentlich
die Zukunft noch aufklären. Sie wurde aber noch von einer halboffiziellen
und sichtbaren unterstützt, die unter dem Schutze der belgischen Neutralität den
Rassenstreit zwischen Wallonen und Flamen für ihre Zwecke ausnutzte. Frankreich
fand dabei eine ausgezeichnete Hilfe in einem Mittel, das der deutschen
Beeinflussung so gut wie ganz entgehen mußte, in der gemeinsamen Sprache,
die noch dazu eine der wichtigsten und gangbarsten Weltsprachen ist.

Seitdem Frankreich im Jahre 1815 Flandern und Brabant verloren hatte,
hörte es nicht auf, Belgien als politisches oder geistiges Kolonisationsgebiet zu
betrachten. Die Erinnerung an das ruhmreiche Kaisertum war noch zu stark in
ihm lebendig. Anderseits war es auch hier in seiner völkischen Überhebung
von der alleinseligmachenden Sendung überzeugt, die das Franzosentum in der
Welt zu erfüllen habe. In seiner naiven Unkenntnis und Mißachtung fremder
Eigenheiten und Bedürfnisse hat es immer versucht, sein Ideal den anderen
aufzuhalsen. Zuerst unbewußt und ohne praktische Nebenabsichten, nur getrieben
von dem geistigen Hochmutsgefühl der nach Belgien geflüchteten Franzo^en^
stellte sich diese Ausbreitung französischen Geistes allmählich in den Dienst der
politischen Propaganda, bis sie in den letzten Jahren der dritten Republik als
halboffizielle Stimmungsmache mit der stillen diplomatischen Arbeit Hand in
Hand ging.

Bot das Königreich der Niederlande noch wenig geeigneten Boden für eine
französische Expansion, so war das im Jahre 1830 gegründete Königreich Belgien
infolge des Ausscheidens wichtiger und tätiger germanischer Bestandteile dem
Vordringen des Ronmnentums weit günstiger. Die Entstehung der ersten geistig
bedeutenden und einflußreichen französischen Kolonie im neuen Königreich wurde durch
den Staatsstreich vom Jahre 1851 veranlaßt, als die führenden Anhänger der
Republik den Boden Frankreichs verlassen mußten. Die meisten gingen nach
Belgien: Victor Hugo. Deschanel, Challemel-Lacour, Montjau, Bancel, Alexander
Dumas. Ihre Haupttätigkeit verlegten sie nach Brüssel und Antwerpen; dort
hielten sie entweder im engen Kreise, wie im Lercls al-ti8tique, oder in breiter
Öffentlichkeit hauptsächlich Vorlesungen über französische Literaturgeschichte oder
freigeistige Philosophie. Ihr Einfluß war trotz des ziemlich geringen literarrschen
Interesses der Belgier so groß, daß Baudelaire später das Urteil fällte: "Gott¬
losigkeit und Religionsspötterei stehen hoch in Ehren, dank der Lehre der
französischen Emigranten" (In "l^a lZslAiqus Vraie").

Die bewußte Propaganda mit politischem Hintergrund entsteht ungefähr
um das Jahr 1900. Sie hat eine ganze Reihe von Sprach- und Kultur¬
vereinen hervorgerufen, Reden, Aufführungen, Zeitschriften, Kongresse, Bankette,
Ausstellungen (so z. B. in Roubarx 1911 und Valenciennes, beide dicht an der
belgischen Grenze), Verbrüderungsfeste usw. veranlaßt und sich langsam in das
Gehirn der Belgier hineingebohrt, bis nichts anderes mehr Platz hatte.


Frankreichs Werben um Belgien

als die bereits vollzogenen Tatsachen, über die Mittel und das Verfahren
der geheimen diplomatischen und agitatorischen Tätigkeit wird uns hoffentlich
die Zukunft noch aufklären. Sie wurde aber noch von einer halboffiziellen
und sichtbaren unterstützt, die unter dem Schutze der belgischen Neutralität den
Rassenstreit zwischen Wallonen und Flamen für ihre Zwecke ausnutzte. Frankreich
fand dabei eine ausgezeichnete Hilfe in einem Mittel, das der deutschen
Beeinflussung so gut wie ganz entgehen mußte, in der gemeinsamen Sprache,
die noch dazu eine der wichtigsten und gangbarsten Weltsprachen ist.

Seitdem Frankreich im Jahre 1815 Flandern und Brabant verloren hatte,
hörte es nicht auf, Belgien als politisches oder geistiges Kolonisationsgebiet zu
betrachten. Die Erinnerung an das ruhmreiche Kaisertum war noch zu stark in
ihm lebendig. Anderseits war es auch hier in seiner völkischen Überhebung
von der alleinseligmachenden Sendung überzeugt, die das Franzosentum in der
Welt zu erfüllen habe. In seiner naiven Unkenntnis und Mißachtung fremder
Eigenheiten und Bedürfnisse hat es immer versucht, sein Ideal den anderen
aufzuhalsen. Zuerst unbewußt und ohne praktische Nebenabsichten, nur getrieben
von dem geistigen Hochmutsgefühl der nach Belgien geflüchteten Franzo^en^
stellte sich diese Ausbreitung französischen Geistes allmählich in den Dienst der
politischen Propaganda, bis sie in den letzten Jahren der dritten Republik als
halboffizielle Stimmungsmache mit der stillen diplomatischen Arbeit Hand in
Hand ging.

Bot das Königreich der Niederlande noch wenig geeigneten Boden für eine
französische Expansion, so war das im Jahre 1830 gegründete Königreich Belgien
infolge des Ausscheidens wichtiger und tätiger germanischer Bestandteile dem
Vordringen des Ronmnentums weit günstiger. Die Entstehung der ersten geistig
bedeutenden und einflußreichen französischen Kolonie im neuen Königreich wurde durch
den Staatsstreich vom Jahre 1851 veranlaßt, als die führenden Anhänger der
Republik den Boden Frankreichs verlassen mußten. Die meisten gingen nach
Belgien: Victor Hugo. Deschanel, Challemel-Lacour, Montjau, Bancel, Alexander
Dumas. Ihre Haupttätigkeit verlegten sie nach Brüssel und Antwerpen; dort
hielten sie entweder im engen Kreise, wie im Lercls al-ti8tique, oder in breiter
Öffentlichkeit hauptsächlich Vorlesungen über französische Literaturgeschichte oder
freigeistige Philosophie. Ihr Einfluß war trotz des ziemlich geringen literarrschen
Interesses der Belgier so groß, daß Baudelaire später das Urteil fällte: „Gott¬
losigkeit und Religionsspötterei stehen hoch in Ehren, dank der Lehre der
französischen Emigranten" (In „l^a lZslAiqus Vraie").

Die bewußte Propaganda mit politischem Hintergrund entsteht ungefähr
um das Jahr 1900. Sie hat eine ganze Reihe von Sprach- und Kultur¬
vereinen hervorgerufen, Reden, Aufführungen, Zeitschriften, Kongresse, Bankette,
Ausstellungen (so z. B. in Roubarx 1911 und Valenciennes, beide dicht an der
belgischen Grenze), Verbrüderungsfeste usw. veranlaßt und sich langsam in das
Gehirn der Belgier hineingebohrt, bis nichts anderes mehr Platz hatte.


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[0128] Frankreichs Werben um Belgien als die bereits vollzogenen Tatsachen, über die Mittel und das Verfahren der geheimen diplomatischen und agitatorischen Tätigkeit wird uns hoffentlich die Zukunft noch aufklären. Sie wurde aber noch von einer halboffiziellen und sichtbaren unterstützt, die unter dem Schutze der belgischen Neutralität den Rassenstreit zwischen Wallonen und Flamen für ihre Zwecke ausnutzte. Frankreich fand dabei eine ausgezeichnete Hilfe in einem Mittel, das der deutschen Beeinflussung so gut wie ganz entgehen mußte, in der gemeinsamen Sprache, die noch dazu eine der wichtigsten und gangbarsten Weltsprachen ist. Seitdem Frankreich im Jahre 1815 Flandern und Brabant verloren hatte, hörte es nicht auf, Belgien als politisches oder geistiges Kolonisationsgebiet zu betrachten. Die Erinnerung an das ruhmreiche Kaisertum war noch zu stark in ihm lebendig. Anderseits war es auch hier in seiner völkischen Überhebung von der alleinseligmachenden Sendung überzeugt, die das Franzosentum in der Welt zu erfüllen habe. In seiner naiven Unkenntnis und Mißachtung fremder Eigenheiten und Bedürfnisse hat es immer versucht, sein Ideal den anderen aufzuhalsen. Zuerst unbewußt und ohne praktische Nebenabsichten, nur getrieben von dem geistigen Hochmutsgefühl der nach Belgien geflüchteten Franzo^en^ stellte sich diese Ausbreitung französischen Geistes allmählich in den Dienst der politischen Propaganda, bis sie in den letzten Jahren der dritten Republik als halboffizielle Stimmungsmache mit der stillen diplomatischen Arbeit Hand in Hand ging. Bot das Königreich der Niederlande noch wenig geeigneten Boden für eine französische Expansion, so war das im Jahre 1830 gegründete Königreich Belgien infolge des Ausscheidens wichtiger und tätiger germanischer Bestandteile dem Vordringen des Ronmnentums weit günstiger. Die Entstehung der ersten geistig bedeutenden und einflußreichen französischen Kolonie im neuen Königreich wurde durch den Staatsstreich vom Jahre 1851 veranlaßt, als die führenden Anhänger der Republik den Boden Frankreichs verlassen mußten. Die meisten gingen nach Belgien: Victor Hugo. Deschanel, Challemel-Lacour, Montjau, Bancel, Alexander Dumas. Ihre Haupttätigkeit verlegten sie nach Brüssel und Antwerpen; dort hielten sie entweder im engen Kreise, wie im Lercls al-ti8tique, oder in breiter Öffentlichkeit hauptsächlich Vorlesungen über französische Literaturgeschichte oder freigeistige Philosophie. Ihr Einfluß war trotz des ziemlich geringen literarrschen Interesses der Belgier so groß, daß Baudelaire später das Urteil fällte: „Gott¬ losigkeit und Religionsspötterei stehen hoch in Ehren, dank der Lehre der französischen Emigranten" (In „l^a lZslAiqus Vraie"). Die bewußte Propaganda mit politischem Hintergrund entsteht ungefähr um das Jahr 1900. Sie hat eine ganze Reihe von Sprach- und Kultur¬ vereinen hervorgerufen, Reden, Aufführungen, Zeitschriften, Kongresse, Bankette, Ausstellungen (so z. B. in Roubarx 1911 und Valenciennes, beide dicht an der belgischen Grenze), Verbrüderungsfeste usw. veranlaßt und sich langsam in das Gehirn der Belgier hineingebohrt, bis nichts anderes mehr Platz hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/128>, abgerufen am 29.04.2024.