Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wehrkraft und Siedlung

bäuerlichen Gebieten bringen sie eine sehr wiederstandsfähige Familiensitte mit.
Im bäuerlichen Gebiet ist auch die Arbeiterfamilie im Besitz einer ganz er¬
heblichen alten Kultur. Es ist Zucht in diesen Familien, und damit kommen
wir zu zwei Gesichtspunkten, welche bisher bei den Erörterungen über die
Wehrfähigkeit der Jugend viel zu wenig beachtet worden sind.

Eins der schwierigsten Probleme bei den Jugendkompagnien ist die Disziplin.
Wirkliche Zuverlässigkeit und sittliche Willenskraft sind ohne Disziplin gar nicht
herauszubilden. Hier muß man sich aber klar werden, daß man unmöglich
in einer Gruppe Menschen Zucht erzeugen kann, wenn die Umwelt durchaus
zuchtlos ist. Will man die Jugend militärisch ertüchtigen, so muß man von
vornherein dorthin seinen Blick richten, wo im bürgerlichen und Familienleben
die Gefahr am größten ist. Das ist aber unmittelbar nach der Schulentlassung.
Wir werden gut tun, nach einem Zeitalter allzugroßer Weichheit auch in den
Schulen die Zügel wieder straffer anzuziehen, doch nützt das nichts, wenn man
hernach die Jugend völlig ihren Launen und Leidenschaften überläßt. Die
freiwillige Jugendpflege ist heute an den Grenzen des Möglichen angelangt.
Auch staatliche Unterstützung hilft ihr nicht weiter. Wo die Kinder nach den
Schuljahren ins Schicksal der jugendlichen Lohnarbeiterschaft hineingestoßen
werden, da ist keine Hoffnung für Selbstzucht und Selbsterziehung der Jugend
unter freiwilligen Führern. Die freiwillige Jugendpflege aller Richtungen greift
über die an Zahl kleiner werdenden Kreise der gelernten Berufe kaum hinaus,
hat viele Landgebiete kaum erreicht. Je mehr wir aber Kinder schon uner¬
zogener Eltern bekommen, um so schwieriger wird die Lage. Darum muß die
schulentlassene Jugend unter die Disziplin des Staates gestellt werden. Der
Ort für diese Arbeit ist die Fortbildungs- und höhere Schule. Denn neben
diesen beiden noch eine die ganze Jugend umfassende Organisation zu schaffen,
ist unmöglich. Woher sollte für die Jugend die Zeit, für den Staat Geld und
Erziehersland kommen? Die Fortbildungsschule allein kann uns diese Disziplin
bringen. Die Ausbildung des Lehrerstandes ist eine der wichtigsten Aufgaben
für die Zukunft, auch für die Wehrhaftigkeit unserer Nation. Ein Teil dieser
Lehrer wird die körperliche Ausbildung dieser Jugend übernehmen.

Anderseits soll der Sonntag gesetzlich von allen Schulpflichten befreit
werden. Das ist eine soziale Forderung. Aber auch wichtig für die Wehr¬
kraft, denn auch für jene Gebiete, aus welcher die letzten sittlichen Kräfte des
Volkes stammen, muß Raum sein, nämlich für das Leben der Familie und
auch für jene freiwilligen Vereine, welche die für das spätere Familienleben
wertvollen Kräfte des Gemüts pflegen. Weltanschauung, Religion, Poesie,
Kunst, Wanderlust gedeihen nur im Bereich der Freiheit. Nimmt die Fort¬
bildungsschule die Juzend in Zucht, so werden erst die Früchte der freiwilligen
Arbeit unter der Jugend recht eigentlich reifen.

Vor allen Dingen aber wird das Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren,
welches wirtschaftlich selbstständig wird, für die Arbeit in Turnvereinen, Jugend-


Wehrkraft und Siedlung

bäuerlichen Gebieten bringen sie eine sehr wiederstandsfähige Familiensitte mit.
Im bäuerlichen Gebiet ist auch die Arbeiterfamilie im Besitz einer ganz er¬
heblichen alten Kultur. Es ist Zucht in diesen Familien, und damit kommen
wir zu zwei Gesichtspunkten, welche bisher bei den Erörterungen über die
Wehrfähigkeit der Jugend viel zu wenig beachtet worden sind.

Eins der schwierigsten Probleme bei den Jugendkompagnien ist die Disziplin.
Wirkliche Zuverlässigkeit und sittliche Willenskraft sind ohne Disziplin gar nicht
herauszubilden. Hier muß man sich aber klar werden, daß man unmöglich
in einer Gruppe Menschen Zucht erzeugen kann, wenn die Umwelt durchaus
zuchtlos ist. Will man die Jugend militärisch ertüchtigen, so muß man von
vornherein dorthin seinen Blick richten, wo im bürgerlichen und Familienleben
die Gefahr am größten ist. Das ist aber unmittelbar nach der Schulentlassung.
Wir werden gut tun, nach einem Zeitalter allzugroßer Weichheit auch in den
Schulen die Zügel wieder straffer anzuziehen, doch nützt das nichts, wenn man
hernach die Jugend völlig ihren Launen und Leidenschaften überläßt. Die
freiwillige Jugendpflege ist heute an den Grenzen des Möglichen angelangt.
Auch staatliche Unterstützung hilft ihr nicht weiter. Wo die Kinder nach den
Schuljahren ins Schicksal der jugendlichen Lohnarbeiterschaft hineingestoßen
werden, da ist keine Hoffnung für Selbstzucht und Selbsterziehung der Jugend
unter freiwilligen Führern. Die freiwillige Jugendpflege aller Richtungen greift
über die an Zahl kleiner werdenden Kreise der gelernten Berufe kaum hinaus,
hat viele Landgebiete kaum erreicht. Je mehr wir aber Kinder schon uner¬
zogener Eltern bekommen, um so schwieriger wird die Lage. Darum muß die
schulentlassene Jugend unter die Disziplin des Staates gestellt werden. Der
Ort für diese Arbeit ist die Fortbildungs- und höhere Schule. Denn neben
diesen beiden noch eine die ganze Jugend umfassende Organisation zu schaffen,
ist unmöglich. Woher sollte für die Jugend die Zeit, für den Staat Geld und
Erziehersland kommen? Die Fortbildungsschule allein kann uns diese Disziplin
bringen. Die Ausbildung des Lehrerstandes ist eine der wichtigsten Aufgaben
für die Zukunft, auch für die Wehrhaftigkeit unserer Nation. Ein Teil dieser
Lehrer wird die körperliche Ausbildung dieser Jugend übernehmen.

Anderseits soll der Sonntag gesetzlich von allen Schulpflichten befreit
werden. Das ist eine soziale Forderung. Aber auch wichtig für die Wehr¬
kraft, denn auch für jene Gebiete, aus welcher die letzten sittlichen Kräfte des
Volkes stammen, muß Raum sein, nämlich für das Leben der Familie und
auch für jene freiwilligen Vereine, welche die für das spätere Familienleben
wertvollen Kräfte des Gemüts pflegen. Weltanschauung, Religion, Poesie,
Kunst, Wanderlust gedeihen nur im Bereich der Freiheit. Nimmt die Fort¬
bildungsschule die Juzend in Zucht, so werden erst die Früchte der freiwilligen
Arbeit unter der Jugend recht eigentlich reifen.

Vor allen Dingen aber wird das Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren,
welches wirtschaftlich selbstständig wird, für die Arbeit in Turnvereinen, Jugend-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0162" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323701"/>
          <fw type="header" place="top"> Wehrkraft und Siedlung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_525" prev="#ID_524"> bäuerlichen Gebieten bringen sie eine sehr wiederstandsfähige Familiensitte mit.<lb/>
Im bäuerlichen Gebiet ist auch die Arbeiterfamilie im Besitz einer ganz er¬<lb/>
heblichen alten Kultur. Es ist Zucht in diesen Familien, und damit kommen<lb/>
wir zu zwei Gesichtspunkten, welche bisher bei den Erörterungen über die<lb/>
Wehrfähigkeit der Jugend viel zu wenig beachtet worden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_526"> Eins der schwierigsten Probleme bei den Jugendkompagnien ist die Disziplin.<lb/>
Wirkliche Zuverlässigkeit und sittliche Willenskraft sind ohne Disziplin gar nicht<lb/>
herauszubilden. Hier muß man sich aber klar werden, daß man unmöglich<lb/>
in einer Gruppe Menschen Zucht erzeugen kann, wenn die Umwelt durchaus<lb/>
zuchtlos ist. Will man die Jugend militärisch ertüchtigen, so muß man von<lb/>
vornherein dorthin seinen Blick richten, wo im bürgerlichen und Familienleben<lb/>
die Gefahr am größten ist. Das ist aber unmittelbar nach der Schulentlassung.<lb/>
Wir werden gut tun, nach einem Zeitalter allzugroßer Weichheit auch in den<lb/>
Schulen die Zügel wieder straffer anzuziehen, doch nützt das nichts, wenn man<lb/>
hernach die Jugend völlig ihren Launen und Leidenschaften überläßt. Die<lb/>
freiwillige Jugendpflege ist heute an den Grenzen des Möglichen angelangt.<lb/>
Auch staatliche Unterstützung hilft ihr nicht weiter. Wo die Kinder nach den<lb/>
Schuljahren ins Schicksal der jugendlichen Lohnarbeiterschaft hineingestoßen<lb/>
werden, da ist keine Hoffnung für Selbstzucht und Selbsterziehung der Jugend<lb/>
unter freiwilligen Führern. Die freiwillige Jugendpflege aller Richtungen greift<lb/>
über die an Zahl kleiner werdenden Kreise der gelernten Berufe kaum hinaus,<lb/>
hat viele Landgebiete kaum erreicht. Je mehr wir aber Kinder schon uner¬<lb/>
zogener Eltern bekommen, um so schwieriger wird die Lage. Darum muß die<lb/>
schulentlassene Jugend unter die Disziplin des Staates gestellt werden. Der<lb/>
Ort für diese Arbeit ist die Fortbildungs- und höhere Schule. Denn neben<lb/>
diesen beiden noch eine die ganze Jugend umfassende Organisation zu schaffen,<lb/>
ist unmöglich. Woher sollte für die Jugend die Zeit, für den Staat Geld und<lb/>
Erziehersland kommen? Die Fortbildungsschule allein kann uns diese Disziplin<lb/>
bringen. Die Ausbildung des Lehrerstandes ist eine der wichtigsten Aufgaben<lb/>
für die Zukunft, auch für die Wehrhaftigkeit unserer Nation. Ein Teil dieser<lb/>
Lehrer wird die körperliche Ausbildung dieser Jugend übernehmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_527"> Anderseits soll der Sonntag gesetzlich von allen Schulpflichten befreit<lb/>
werden. Das ist eine soziale Forderung. Aber auch wichtig für die Wehr¬<lb/>
kraft, denn auch für jene Gebiete, aus welcher die letzten sittlichen Kräfte des<lb/>
Volkes stammen, muß Raum sein, nämlich für das Leben der Familie und<lb/>
auch für jene freiwilligen Vereine, welche die für das spätere Familienleben<lb/>
wertvollen Kräfte des Gemüts pflegen. Weltanschauung, Religion, Poesie,<lb/>
Kunst, Wanderlust gedeihen nur im Bereich der Freiheit. Nimmt die Fort¬<lb/>
bildungsschule die Juzend in Zucht, so werden erst die Früchte der freiwilligen<lb/>
Arbeit unter der Jugend recht eigentlich reifen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_528" next="#ID_529"> Vor allen Dingen aber wird das Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren,<lb/>
welches wirtschaftlich selbstständig wird, für die Arbeit in Turnvereinen, Jugend-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0162] Wehrkraft und Siedlung bäuerlichen Gebieten bringen sie eine sehr wiederstandsfähige Familiensitte mit. Im bäuerlichen Gebiet ist auch die Arbeiterfamilie im Besitz einer ganz er¬ heblichen alten Kultur. Es ist Zucht in diesen Familien, und damit kommen wir zu zwei Gesichtspunkten, welche bisher bei den Erörterungen über die Wehrfähigkeit der Jugend viel zu wenig beachtet worden sind. Eins der schwierigsten Probleme bei den Jugendkompagnien ist die Disziplin. Wirkliche Zuverlässigkeit und sittliche Willenskraft sind ohne Disziplin gar nicht herauszubilden. Hier muß man sich aber klar werden, daß man unmöglich in einer Gruppe Menschen Zucht erzeugen kann, wenn die Umwelt durchaus zuchtlos ist. Will man die Jugend militärisch ertüchtigen, so muß man von vornherein dorthin seinen Blick richten, wo im bürgerlichen und Familienleben die Gefahr am größten ist. Das ist aber unmittelbar nach der Schulentlassung. Wir werden gut tun, nach einem Zeitalter allzugroßer Weichheit auch in den Schulen die Zügel wieder straffer anzuziehen, doch nützt das nichts, wenn man hernach die Jugend völlig ihren Launen und Leidenschaften überläßt. Die freiwillige Jugendpflege ist heute an den Grenzen des Möglichen angelangt. Auch staatliche Unterstützung hilft ihr nicht weiter. Wo die Kinder nach den Schuljahren ins Schicksal der jugendlichen Lohnarbeiterschaft hineingestoßen werden, da ist keine Hoffnung für Selbstzucht und Selbsterziehung der Jugend unter freiwilligen Führern. Die freiwillige Jugendpflege aller Richtungen greift über die an Zahl kleiner werdenden Kreise der gelernten Berufe kaum hinaus, hat viele Landgebiete kaum erreicht. Je mehr wir aber Kinder schon uner¬ zogener Eltern bekommen, um so schwieriger wird die Lage. Darum muß die schulentlassene Jugend unter die Disziplin des Staates gestellt werden. Der Ort für diese Arbeit ist die Fortbildungs- und höhere Schule. Denn neben diesen beiden noch eine die ganze Jugend umfassende Organisation zu schaffen, ist unmöglich. Woher sollte für die Jugend die Zeit, für den Staat Geld und Erziehersland kommen? Die Fortbildungsschule allein kann uns diese Disziplin bringen. Die Ausbildung des Lehrerstandes ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft, auch für die Wehrhaftigkeit unserer Nation. Ein Teil dieser Lehrer wird die körperliche Ausbildung dieser Jugend übernehmen. Anderseits soll der Sonntag gesetzlich von allen Schulpflichten befreit werden. Das ist eine soziale Forderung. Aber auch wichtig für die Wehr¬ kraft, denn auch für jene Gebiete, aus welcher die letzten sittlichen Kräfte des Volkes stammen, muß Raum sein, nämlich für das Leben der Familie und auch für jene freiwilligen Vereine, welche die für das spätere Familienleben wertvollen Kräfte des Gemüts pflegen. Weltanschauung, Religion, Poesie, Kunst, Wanderlust gedeihen nur im Bereich der Freiheit. Nimmt die Fort¬ bildungsschule die Juzend in Zucht, so werden erst die Früchte der freiwilligen Arbeit unter der Jugend recht eigentlich reifen. Vor allen Dingen aber wird das Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren, welches wirtschaftlich selbstständig wird, für die Arbeit in Turnvereinen, Jugend-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/162
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/162>, abgerufen am 06.05.2024.